Musikantenknochen

Weil Schellack im Zweiten Weltkrieg selten war, gravierten Musikliebhaber viele Stücke in die Folien von Röntgenbildern. Ein ungarischer Fotograf hat diese Kunstwerke wiederentdeckt.

»Was haben wir für einen schönen Abend«, singt Anna Kapitány, während sich die Röntgenaufnahme eines menschlichen Schädels auf dem Grammophon dreht. Musik auf Skeletten – das wäre eine wunderbare Marketing-Idee für eine Black-Metal-Band. Aber zu Kapitánys heiterem Bigband-Swing tanzten die Ungarn in den Dreißiger- und Vierzigerjahren. Diese Lieder wurden live gespielt und im Radio übertragen. Nur für die Ewigkeit ließ sich ihre Musik schwer festhalten: Im Krieg war Schellack selten, das Harz aus den Ausscheidungen der Lackschildlaus musste aus Indien importiert werden. Also suchten Musikliebhaber und Mitarbeiter des ungarischen Radios eine Alternative – und fanden sie in Krankenhäusern.

Die Zelluloidfolien, auf denen gebrochene Rippen, ausgerenkte Gelenke, tuberkulöse Lungen abgebildet wurden, waren gerade dick und haltbar genug, dass man mit einer Plattenschneidemaschine Tanzmusik oder Ansprachen von Politikern hineingravieren konnte. Die biegsamen Platten wurden mal mehr, mal weniger sorgfältig in eine runde Form geschnitten, sodass sie auf den Teller des Grammophons passten. Für die Nadel war es egal, ob sie von Rillen im Schellack oder im Zelluloid zum Schwingen gebracht wurde. Zu lange durfte das Stück nicht dauern – auf eine Scheibe mit 23 bis 25 Zentimetern Durchmesser passten nicht viel mehr als drei Minuten. Ein halbes Jahrhundert zuvor waren die Röntgenstrahlen entdeckt und das Grammophon erfunden worden, nun verschmolzen sie zu einer Technik.

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hat der ungarische Fotograf József Hajdú die Schönheit dieser Scheiben neu entdeckt und besonders gelungene Exemplare aus unterschiedlichen Sammlungen fotografiert. Bei vielen ist heute nicht mehr nachvollziehbar, welche Musik oder welcher Sprecher da zu hören ist. Hajdú ist davon begeistert, dass die Scheiben in zweifacher Hinsicht Themen unserer Zeit vorwegnahmen: »Zum einen sind sie Recycling, zum anderen eine frühe Form von Multimedia.« Die anonymen Raubkopierer, sagt Hajdú, hätten sich sichtlich Mühe gegeben, besonders eindrucksvolle Röntgenaufnahmen für ihre Aufnahmen zu wählen.

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Nach dem Krieg erlebten die Röntgenscheiben eine zweite Blüte in der Sowjetunion: Rock ’n’ Roll, die Beatles, amerikanischer Jazz, Gaunerlieder mit antisowjetischen Texten – alles, was die staatliche Plattenfirma »Melodija« nicht im Programm hatte, wurde in Untergrundstudios als Bootleg-Pressung vervielfältigt und konspirativ als »Jazz auf Knochen« oder »Musik auf Rippen« verbreitet – eine frühe Form von Musikpiraterie, mit echten Schädeln und Knochen. Schwarzhändler verkauften die labbrigen Scheiben vor den Eingängen zu den staatlichen Musikgeschäften. Wer die Technik erfunden hat, ist heute nicht mehr nachvollziehbar. Gut möglich, dass Menschen an mehreren Orten, ohne voneinander zu wissen, mehr oder weniger gleichzeitig auf die Idee kamen, Musik in Röntgenplatten zu ritzen. Sicher ist, dass das Verfahren bald in der ganzen Sowjetunion verbreitet war. Manche Produzenten wurden für Jahre ins Lager geschickt – und gingen am Tag nach ihrer Entlassung wieder ins Tonstudio.

Erst als in den Siebzigern auch die staatliche Plattenfirma immer mehr westliche Bands ins Programm nahm, verschwanden die Gerippe nach und nach von den Plattentellern. 1982 spottete Wiktor Zoi, der Pionier des russischen Punk, auf seinem Debütalbum über die Beatnik-Generation: »Du warst bereit, deine Seele herzugeben für Rock ’n’ Roll, der aus dem Röntgenbild eines fremden Zwerchfells kam.«

Fotos: József Hajdú