Ende November in Potsdam, ein trüber, kalter Samstagmorgen. Um acht Uhr haben sich die Aktivisten vor einem Tagungshotel getroffen, in dem der Landesparteitag der SPD Brandenburg stattfindet. Sie haben ein Bett aufgebaut, in dem einer von ihnen liegt, mit einem Kohlebrikett im Arm, verkleidet mit einer Maske, die Dietmar Woidke darstellen soll, den Ministerpräsidenten von Brandenburg. Sie haben zwei greenpeacegelbe Transparente gebastelt. Auf dem einen steht »Weckt Woidke aus den Tagebauträumen«, auf dem anderen »Kohlekuschelkurs killt Klima«.
Bevor die Parteitagsbesucher der SPD das Hotel erreichen, ordnet Tobias Münchmeyer den ziemlich lokalen Protest in die globale Politik ein: »Es ist wichtig, dass wir hier präsent sind«, sagt er. Es sei der richtige Zeitpunkt, unmittelbar vor Beginn der Weltklimakonferenz in Paris. Er bezeichnet die SPD als Hauptgegnerin beim Kampf gegen Braunkohle. Erst vor ein paar Tagen sprach sich Hannelore Kraft, die Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen, während einer Auslandsreise zu Politikern und Wirtschaftsführern in Bogota gegen ein Ende der Kohle aus. Bogota, Paris, Potsdam: Die Zuhörer nicken zufrieden, hier geht es ums Ganze.
Münchmeyer, 47, ist ein langer Mann mit sanfter Stimme. Outdoor-Stiefel an den Füßen, Blackberry am Gürtel. Über seiner Daunenjacke trägt er, wie alle hier, eine der hellgrünen Greenpeace-Jacken. Er ist ein hauptberuflicher Greenpeaceler, ein Ökolobbyist, Leiter der Politischen Vertretung von Greenpeace in Berlin. Sein Einsatzort sind die Hinterzimmer der Hauptstadt. Auf Ehrenamtliche trifft er nur bei solchen Aktionen von Regionalgruppen, die er begleitet, damit sie im Sinne der Corporate Identity verlaufen, was nicht immer gelingt: Von der Idee mit dem Bett war man in der Greenpeace-Zentrale mäßig begeistert.
Etwas mehr als eine Stunde stehen die Aktivisten auf der Straße, genau dort, wo sie die Demonstration angemeldet haben. Sie halten ihre Transparente, es gibt keine Musik, keine Parolen, nicht einmal Trillerpfeifen. Und es bleibt die Frage, für wen sie das eigentlich machen. Woidke und die anderen Delegierten jedenfalls kommen mit dem Auto. Sie fahren einfach an ihnen vorbei. Später werden zwei Fotos von der kleinen Demo auf der Facebookseite von Greenpeace Potsdam erscheinen, 13 Facebook-Nutzer werden dafür einen Like geben. War es das wert?
Die freiwilligen Aktivisten treiben grundsätzlichere Fragen um. Beim Zusammenpacken unterhalten sich Nico Blume, 32, und Michaela Kruse, 29, aus Potsdam. Seit vier Jahren demonstrieren sie gemeinsam gegen Braunkohle. »Was machen wir eigentlich«, fragt Kruse, fröstelnd und ein wenig frustriert, »wenn die Braunkohle tatsächlich verschwindet?« Blume sagt, an der Greenpeace-Basis gebe es die Diskussion, den Fokus von »Green« auf »Peace« zu verlagern, weg vom eigentlichen Kern, um den Konflikten der Globalisierung gerecht zu werden. »Alles hängt mit allem zusammen«, sagt Kruse.
Die Diskussion ist längst auch in der Hamburger Greenpeace-Zentrale entbrannt, kürzlich etwa im Zusammenhang mit der Flüchtlingskatastrophe in Europa. Können wir es vertreten, fragten einige, dass die Leute vor Kos und Lesbos ertrinken? Greenpeace besitzt einen großen Bootsschuppen, der im Sinne der Corporate Identity neuerdings »Global Action Centre« genannt wird. Dort lagern Devotionalien früherer Demos, Ausrüstung für Kletterer, Taucher und Flieger sowie mehrere nagelneue Hochgeschwindigkeits-Boote. Müssten die nicht längst im Mittelmeer unterwegs sein? Aber was sollen wir tun?, rätselten andere, einfach los nach Lesbos, und dann? Selbst wenn wir wollten, wandten wieder andere ein, in unserer Satzung haben wir uns dem Schutz der Umwelt verschrieben, wir müssten alle Mitglieder um Zustimmung bitten, wenn wir nun auch humanitäre Hilfe leisten.
Die Öko-Aktivisten in der Identitätskrise. Ausgerechnet in einer Zeit, da ein preisgekrönter Dokumentarfilm in die Kinos kommt, der die Erfolgsgeschichte von Greenpeace feiert. Er handelt von einer Handvoll Hippies, die sich auf einem halbverrotteten Schiff nach Alaska aufmachten, um einen Atombombentest der Amerikaner zu stoppen. Einer der Veteranen erzählt, man habe eine gute Show bieten wollen, um die Medien mit ins Boot zu holen und so in die Köpfe der Menschen vorzudringen. Die Crew gelangte wegen Ärger mit den Küstenbehörden und schlechtem Wetter zwar nie an ihr Ziel. Und kurz nachdem sie nach Kanada zurückgekommen waren, zündeten die Amerikaner die Bombe. Trotzdem war ein Mythos geboren: Furchtlose Männer aus Kanada in einem Holzboot gegen eine Fünf-Megatonnen-Bombe des mächtigsten Staates der Welt.
How to Change the World heißt der Film. Nicht weniger war der Anspruch der Pioniere. Deshalb stellten sich Greenpeace-Aktivisten mit Schlauchbooten der russischen Walfangflotte entgegen, kletterten in aller Welt auf Fabrikschornsteine, enterten eine Bohrinsel, um deren Versenkung in der Nordsee zu verhindern. Sie forderten die mächtigsten Gegner heraus und waren bereit, dabei Gesetze zu verletzen und ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Heute, einige Jahrzehnte später, ist Greenpeace eine der einflussreichsten Umweltorganisationen weltweit, mit 2400 festangestellten Mitarbeitern, Niederlassungen in 45 Ländern und einem Spendenfluss, der sprudelt wie nie. Aber wo sind die waghalsigen Aktionen geblieben, die spektakulären Bilder? Es gibt sie noch, aber wenn die Aktivisten etwa dem Schlot des Braunkohlekraftwerks Deuben einen symbolischen Korken verpassen oder in Paris zur Weltklimakonferenz einen Heißluftballon neben dem Eiffelturm steigen lassen, nimmt das die Öffentlichkeit nur noch müde zur Kenntnis. Schließlich wollen heute alle die Umwelt retten oder geben es zumindest vor.
Der Kanadier Paul Watson war ein Mann der ersten Stunde bei Greenpeace. Er stieg schon 1977 aus und kritisierte die Aktivisten dort als Wohlfühltruppe. Heute sagt er: »Greenpeace ist ein Multimillionen-Dollar-Unternehmen. Früher hatten wir nichts, und trotzdem war die Organisation mächtiger.« »Ach«, sagt Gerhard Wallmeyer, »ich habe in meinen 35 Jahren bei Greenpeace schon so viele Diskussionen erlebt, hier wurde so ziemlich alles schon mal in Frage gestellt.« Wallmeyer ist ein deutsches Gründungsmitglied. Das letzte, das noch aktiv ist. Er hat alle Diskussionen ausgesessen.
1983 debattierte das Plenum im Dachzimmer des Hauses der Seefahrt in Hamburg drei Monate lang, ob man die 5000 Mark ausgeben solle, die Wallmeyer für seine USA-Reise beantragt hatte. Dort wollte er sich von den damals übermächtigen Greenpeace-Kollegen beibringen lassen, wie man Geld sammelt. 5000 Mark, so viel mussten die deutschen Umweltschützer, die sich aus dem »Verein zur Rettung der Wale und Delfine« gegründet hatten, damals im Jahr Miete zahlen.
Dass sie mit den Karteikarten, auf die sie die Namen von den Spendenquittungen eintrugen, nicht viel weiter kommen würden, war klar. Zumindest ihm, Wallmeyer. Die ersten Aktionen in Deutschland aber waren teuer. Auf der Nordsee demonstrierten sie mit Booten gegen Dünnsäureverklappung. Vom Fabrikschlot der Chemiefirma Boehringer entrollten sie ein Banner mit dem Mantra jener umweltbewegten Tage: »Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr merken, dass man Geld nicht essen kann.« Wallmeyer sah in dem vermeintlich indianischen Spruch vor allem einen hilfreichen Slogan: Wenn die Leute das Geld nicht essen können, dann können sie es doch spenden.
Im Jahr 2014 erhielt Greenpeace in Deutschland fast 53 Millionen Euro aus Spenden. Obwohl von den 6,4 Milliarden Euro, die hier jährlich gespendet werden, vor allem für humanitäre Anliegen, nur gut drei Prozent für den Umweltschutz gegeben werden, befindet sich Greenpeace seit Jahren unter den erfolgreichsten deutschen gemeinnützigen Organisationen. Von den 45 Greenpeace-Büros weltweit ist das deutsche das mit Abstand finanzstärkste geworden. Aus der Bürgerinitiative wurde nicht zuletzt deshalb ein Imperium, weil aus dem Sozialpädagogen mit der Kaffeekasse die »Geldmaschine Wallmeyer« wurde. So nannte ihn der Spiegel mal, was Wallmeyer gar nicht so schlecht fand. Aber bei Greenpeace nennen ihn alle immer noch »Wally«, vielleicht, weil Wallmeyer, 65, offizieller Titel »Bereichsleiter Fundraising«, nach wie vor diese praktischen Outdoor-Westen trägt am Schreibtisch, als könnte er jederzeit raus zu den Walen schippern, was er nur noch in den Ferien tut. Dann hat er Zeit, Stunden durchs Fernglas zu schauen. Spender findet Wallmeyer schneller.
Als er Anfang der Achtzigerjahre aus den USA zurückkam, sagte Wallmeyer: Wir brauchen eine Computerdatenbank. Er engagierte eine Agentur. Er führte Massenmailings ein, sogenannte kalte Werbebriefe. Die anderen hätten ihn fast gelyncht, sagt Wallmeyer. Werbung, das war der Feind. Aber wenn es der eigenen Sache hilft, das war stets Wallmeyers Überzeugung, muss man auf den vermeintlichen Gegner zugehen. Er fuhr in den Gründungstagen auch die Hamburger CDU-Fraktion durch den Hafen, wo die verdreckte Brühe blau, grün und gelb schimmernd aus den Abwasserrohren lief.
Ein Freitagmorgen in der Hamburger Zentrale. Wie so oft trifft sich Wallmeyer mit Brigitte Behrens, seit 1999 Geschäftsführerin von Greenpeace Deutschland, und Behrens sagt: »Für den Wally ist es natürlich immer schwieriger geworden, mit den Themen, an denen wir arbeiten, Spenden zu sammeln. Alles ist heute komplexer und weiter weg.« Die Gifte fließen nicht mehr blau, grün und gelb in die Elbe, sie sind stattdessen in unserer Kleidung versteckt und entweichen aus chinesischen Fabriken.
Wenn Gerhard Wallmeyer für das rasante Wachstum der Organisation steht, dann steht Brigitte Behrens für die neue Unsichtbarkeit von Greenpeace. Behrens, 64, ist eine Verwalterin. Sie sitzt lieber in Hintergrundgesprächen im Kanzleramt als in Talkshows. Effektivität ist eines ihrer Lieblingswörter. Unter ihrer Leitung hat sich das früher von Ehemaligen und Radikaleren als »Werbeagentur mit angeschlossener Stunt-Truppe« verschriene Greenpeace zu einer Art Forschungsinstitut mit sporadisch auftretender Stunt-Truppe gewandelt. Früher wurde Greenpeace von anderen Umweltorganisationen kritisiert für seine plakativen, eindimensionalen Aktionen. Jedes Grundschulkind weiß mittlerweile, dass die Welt zu retten mehr bedeutet als einen Wal oder ein Robbenbaby für eine Stunde seinem Schicksal zu entreißen. Heute behandelt Greenpeace hochkomplexe Themen – Gentechnik, Klimawandel, TTIP – mit wissenschaftlichen Methoden. »Studien sind ein wesentlicher Teil unserer Arbeit geworden«, sagt Behrens. »Früher mussten wir nur zeigen, wo was schieflief, heute müssen wir es beweisen.«
Diese neue Seriosität ist allerdings mit einer gewissen Beißhemmung verbunden: Wenn Greenpeace heute etwa bei der Jahreshauptversammlung von Bayer ein großes Transparent vom Vordach lässt, um auf das Bienensterben durch Pestizide aufmerksam zu machen, so ist dieser ritualisierte Teil des Tages mit Bayer abgesprochen, eine Uhrzeit für die Kletteraktion ist vereinbart, der Konzern bittet, vorsichtig mit der Glaskonstruktion zu sein.
Der wahre Kampf findet dann am Boden statt, wo Bayer die Greenpeace-Aktion nutzt, um mit Plakaten und Flugblättern zu verbreiten, man selbst tue alles, um die Bienen zu schützen. Also bringt Greenpeace eine umfassende Studie mit, um die Wirkung von Neonicotinoiden auf Insekten nachzuweisen. Allein das Wort ist zu kompliziert, um es auf ein Plakat zu schreiben. Entscheidender ist für Greenpeace und die eigenen Lobbyisten vor Ort ohnehin, dass die Giftstoffe in Brüssel verboten werden. Damit ist Greenpeace aber nur noch eine von vielen Parteien am großen Konferenztisch. Spektakuläre Aktionen dagegen veranstalten heute oft auch kleinere Kollektive.
Diese Wandlung zum Ökokonzern berge Gefahren, sagt der Berliner Soziologe Dieter Rucht: »Die Emphase und Begeisterung der freiwilligen Aktivisten können die Professionellen auf Dauer nicht aufrechterhalten.« Rhetorisch würden sie sich weiter auf die alten Ziele berufen, aber letztlich gehe es ihnen vor allem um das Fortbestehen der Organisation selbst. Dass die Spenden fließen wie nie zuvor, könne auch ein trügerisches Zeichen sein: »Das haben Organisationen so an sich: Sie können das Verschwinden ihrer Existenzberechtigung lange überdauern«, sagt Rucht. Spender seien oft sehr treue, aber auch träge Wesen, die irgendwann bei Greenpeace eingetreten und Mitglied geblieben seien, auch wenn die Überzeugung nicht mehr so groß ist wie früher.
Tatsächlich war die Idee, die Gerhard Wallmeyer Anfang der Achtziger von seiner USA-Exkursion mitbrachte, der Schlüssel zum wirtschaftlichen Erfolg von Greenpeace Deutschland. Wallmeyer kopierte nicht bloß, was er in den USA gesehen hatte, er erfand ein eigenes Spendensystem: Die Amerikaner sammelten Geld für einzelne Aktionen, Wallmeyer jedoch wollte keine Einmalzahler, obwohl das kurzfristig lukrativer gewesen wäre, er wollte Fördermitglieder finden, eine Gemeinschaft von gleichgesinnten Menschen, die darauf vertrauen, dass Greenpeace am besten weiß, wofür das Geld eingesetzt werden soll. Nur fünf bis sechs Prozent seiner fast 600 000 Mitglieder verliert Greenpeace Deutschland pro Jahr. »Damit sind wir Weltmeister«, sagt Wallmeyer, nicht nur im Greenpeace-Verbund, sogar unter allen Spendenorganisationen der Erde. »Kleiner werden, das ist keine Option mehr«, sagt Wallmeyer. Was passiert, wenn weniger Spenden eingehen, erlebte er 2007, als in Hamburg erstmals Stellen gestrichen wurden. Damals mussten acht Millionen für ein neues Schiff, die Rainbow Warrior III, beiseite gelegt werden. Außerdem floss mehr Geld aus Deutschland in den Aufbau neuer Büros im Ausland. Kritiker schimpften, nun sei der Neoliberalismus im grünen Paradies angekommen.
Gerhard Wallmeyer und seine Chefin Brigitte Behrens werden 2016 in Rente gehen. Nun blickt Wallmeyer manchmal aus seinem Fenster auf die Hamburger Hafencity, eine der teuersten Lagen der Stadt, und denkt: Eigentlich müsste jeder Investor, der hier baut, Greenpeace eine Gewinnbeteiligung zahlen. »Nur dank der Umwelt-bewegung stinkt doch die Elbe nicht mehr«, sagt er. Wallmeyer sieht vor seinem Fenster ein Land, das sie verändert haben. Deutschland hat eine Energiewende auf den Weg gebracht, die weltweit einzigartig ist. 61 Prozent der Deutschen vertrauen Greenpeace, ergab eine Forsa-Umfrage vor einigen Jahren. Gäbe es eine Greenpeace-Partei, so könnten 26 Prozent sich vorstellen, sie zu wählen.
Mit Behrens und Wallmeyer tritt die erste deutsche Greenpeace-Generation ab. Sie hinterlassen eine Erfolgsgeschichte, aber auch eine Organisation, die sich in einem historischen Umbruch befindet – mit völlig offenem Ausgang.
Zum Jahresende verlässt auch der internationale Chef Kumi Naidoo Greenpeace, ein Nachfolger soll im Januar verkündet werden. Sein Ziel war in den vergangenen Jahren, die Arbeit noch konsequenter in die Schwellenländer zu verlagern. Dorthin fließt jetzt immer mehr Geld, auch aus Deutschland. Und dort werden immer mehr Büros eröffnet. Statt wie früher etwa in den Amazonas zu fahren, Fotos von abgeholzten Wäldern zu schießen und diese für Kampag-nen zu Hause zu verwenden, sollen nun lokale Aktivisten nachhaltig Widerstand leisten. Der Südafrikaner Naidoo wollte Schluss machen mit dem Ökokolonialismus früherer Tage und baute deshalb auch die Greenpeace-Zentrale in Amsterdam nach und nach ab. Seine Idee: Statt von dort alles vorzugeben, sollen Länderbüros die aktuellen Kampagnen leiten. Das mächtige deutsche Büro sicherte sich prompt das wichtigste Thema: Klima. Alle sollen internationaler arbeiten. Auch weil der Umbau nur schleppend voranging und ein Mitarbeiter in Amsterdam 2014 wegen fehlender Kontrollen 3,8 Millionen Spendengelder bei Währungsgeschäften verlor, woraufhin allein in Deutschland 7000 Mitglieder kündigten, hatte Naidoo bei Greenpeace nicht mehr viele Freunde.
»Dieser Vorfall in Amsterdam«, sagt Wallmeyer, »war eine Katastrophe. Aber er hat auch gezeigt, dass viele Leute gar nicht mehr verstehen, was eine Organisation unserer Größe machen muss. Natürlich müssen wir auch Währungsgeschäfte machen, wir arbeiten ja weltweit mit unterschiedlichsten Währungen und müssen uns gegen Wechselkursrisiken absichern. Das ist an sich kein Skandal.« Vielleicht ist auch das ein Zeichen, dass Greenpeace erwachsen geworden ist: Wie jedes größere Unternehmen handelt es sich ab und zu einen Finanzskandal ein und dementiert anschließend, dass es sich um einen handelt.
Mehr noch als durch dieses PR-Desaster waren die Mitarbeiter in Deutschland davon irritiert, dass die Schwellenländer so sehr in den Fokus rücken. Viele fürchten: Wenn wir überall auf der Welt mitarbeiten müssen, verlieren wir in Deutschland an Durchschlagskraft. Wallmeyer jedoch findet die neue Strategie alternativlos. »Hier gibt es keine giftigen Chemiefabriken mehr, aber am Pearl River Delta in China, da stehen vielleicht 60 000«, sagt er. Er weiß aber auch, dass durch die zunehmende Arbeit in Ländern wie Indien oder China das, was sie tun, für ihre Anhänger in Deutschland immer weniger sichtbar wird. In Ländern ohne freie Presse und mit restriktiven Gesetzen braucht man gar nicht erst zu versuchen, auf Schornsteine zu klettern. Die Aktivisten dort müssen Diplomaten sein und vorsichtig in Hinterzimmern versuchen, für eine grünere Politik zu werben.
»Vielleicht genügt das Wort Umweltschutz nicht mehr«, sagt Brigitte Behrens, »die Bedrohung ist viel umfassender. Es geht heute um das Überleben der gesamten Zivilisation.« Diese Aufgabe erscheint der nachfolgenden Generation offenbar doch etwas groß. Intern gab es jedenfalls keine Bewerber für die Stellen von Behrens und Wallmeyer. Greenpeace ist ein streng hierarchisch geführtes Unternehmen. Aber für die meisten Mitarbeiter zählt das Engagement offenbar immer noch mehr. »Wenn ich mir Greenpeace in zwanzig Jahren vorstelle«, sagt Gerhard Wallmeyer, »dann sehe ich eine Organisation, die noch mal doppelt so groß ist. Unsere Generation hat ein Bewusstsein geschaffen. Die nächste muss dafür sorgen, dass die Menschen endlich handeln. Wir müssen eine neue Umweltbewegung hinkriegen.« Die deutschen Ökos sind für Greenpeace weltweit ein Vorbild: Ihr Modell soll jetzt exportiert werden. Schon nach dem Atomunfall von Fukushima reisten deutsche Anti-AKW-Veteranen nach Japan, um zu erklären, wie aus Protest Einfluss werden kann.
Wallmeyer sagt aber auch: »Wir müssen es schaffen, weiter ein subversives Element der Gesellschaft zu sein, auch wenn immer mehr sich uns anschließen. Greenpeace muss unbedingt weiter als rebellische Gruppe wahrgenommen werden.« Er weiß: Die Deutschen geben Greenpeace gern Geld, damit die Aktivisten rebellischer sein können, als es die Deutschen selbst sind. Und weil man in Wallmeyers kleinem Büro in der von Windrädern und Solaranlagen klimatisierten Greenpeace-Zentrale leicht vergisst, dass die Welt da draußen noch nicht gerettet ist, wird Wallmeyer noch so lange im Amt bleiben, bis sein Nachfolger wirklich eingearbeitet ist. Das kann dauern. Bis Sommer. Bis Herbst. Oder länger. Wallmeyer hat Zeit. Er wird nach dem Ruhestand ganz entspannt eine Fundraising-Agentur eröffnen, die frei beratend tätig sein wird. Endlich mal selbst ein bisschen Geld verdienen.
Im Januar starten die ersten Bewerbungsgespräche. Es werden sich vermutlich junge Leute vorstellen, mit Top-Abschlüssen und einer Zusatzausbildung an der Deutschen Fundraising-Akademie, die vom Deutschen Fundraising-Verband betrieben wird, den Wallmeyer einst mitgegründet hat. Das Geldverdienen muss man den Jungen nicht erklären, Wallmeyer macht sich da keine Sorgen. Seine Maschine läuft, und die Betriebsanleitung kann er dalassen. Länger wird es dauern, von den endlosen Debatten der alten Jahre zu erzählen. Von der Wut. Davon, dass sie die Einzigen waren, die warnten und kämpften. Von dem Adrenalin. Den Festnahmen. Von dem Rausch. Gerhard Wallmeyer wird den Neuen erklären müssen, wofür sie das Geld überhaupt sammeln.
Fotos: David Sims und Thomas Duffé/Greenpeace, Mitarbeit: Fritz Zimmermann