Autofahrer hupen einen begeistert an, fremde Menschen wollen High Fives, ein Polizist streckt den Daumen nach oben, jemand brüllt von der anderen Straßenseite »Ihr werdet Weltmeister!« herüber. Als hätte man grad das WM-Halbfinale gewonnen. Dabei trägt man nur ein geliehenes rot-weiß-kariertes Trikot.
Ein kroatischer Freund hatte drauf bestanden, als man nach dem Spiel zur Münchner Leopoldstraße radelte. So stand man als Deutscher doch noch in einem Autocorso im Sommer 2018 – dem der Kroaten. Dieser seltsame, aber angenehme Rausch, in den eine siegreiche Nationalmannschaft ein ganzes Land versetzen kann. Und ohne? Wie fühlt sich eine WM an, an der man quasi nicht teilnimmt?
Besser als befürchtet, oder? Grillen mit Freunden und vor dem Fernseher essen geht auch, wenn nur Belgien spielt. Und es kriegt niemand schlechte Laune, keine Kinder weinen, wenn das Spiel anders läuft als gedacht. Niemand verflucht Schiedsrichter, niemand wünscht gegnerischen Stürmern Bänderrisse oder zweite Gelbe Karten. Gut, man jubelt leiser bei Toren, aber der Puls bleibt angenehm niedrig. Und wenn Kylian Mbappé lossprintet, fürchtet man sich nicht, sondern feiert ihn dafür. So weit, so harmlos. Aber das deutsche WM-Aus hat noch eine ernstere, wichtigere Seite.
Als man in England noch vom WM-Sieg träumte, sagte der Sportjournalist Barry Glendenning im Guardian Football Weekly-Podcast, er hoffe, dass Kroatien das Halbfinale gewinne. Glendenning ist Ire, aber nicht deswegen. Er möge die englische Mannschaft und den Trainer Gareth Southgate, sagte er, aber er wolle einfach nicht, dass ein möglicher WM-Sieg in England von den Populisten gekapert werde. Dass Politiker wie Boris Johnson und Nigel Farrage oder Boulevardblätter wie The Sun den Sport missbrauchen zu einem nationalistischen und isolationistischen Triumphgeheul gegen Europa.
In England ist gerade viel los, viel Brexit vor allem, der Außenminister Johnson ist abgetreten, das Land ist in der Krise. Englische Fans sagten vor dem Halbfinale, sie seien froh, dass die WM so gut laufe, mal ein paar Wochen ohne Brexit täten gut.
In Deutschland ist auch grad Krise, nur hier hat der Fußball sie noch verschärft, etwa durch die Mesut-Özil-Debatte. Zu Beginn der WM konnte man noch naiv hoffen, dass Özil, Jérôme Boateng, Antonio Rüdiger und Ilkay Gündogan entscheidende Tore schießen und auf diese Art den überall hervorquellenden Rassismus schwächen, die Risse in der Gesellschaft kitten. Aber das hat schon weder nach 2014 bei uns noch 1998 in Frankreich funktioniert.
In Deutschland hätte eine siegreiche deutsche Mannschaft mehr kaputtgemacht, als geheilt. Würde Deutschland im Finale stehen, hätte sich Horst Seehofers Pressekonferenz versendet. Die, auf der er scherzte über seinen 69. Geburtstag und die 69 abgeschobenen Afghanen. Jetzt haftet das für immer an ihm. Die bösesten Fouls und erbittertsten Zweikämpfe sah man bei der WM 2018 in der Halbzeitpause im »Heute Journal«: Statt Boateng gegen Mandzukic lautet das entscheidende Duell Seehofer gegen Merkel. Blutgrätschen im Bundestag, nicht in Moskau im Stadion.
Dem lauffaulen deutschen Mittelfeld ist es zu verdanken, dass man in Deutschland am 15. Juli über Flüchtlinge im Mittelmeer diskutiert statt über Abwehrmauern. Sogar die Wochenzeitung »Die Zeit« fragte, ob man Ertrinkende retten sollte. Diese Debatte ist wichtiger als fünf WM-Pokale für ein Land. Sie wird zeigen, ob hier noch so Dinge wie Empathie, Statistiken und Grundgesetze zählen. Ob wir uns noch halbwegs zivilisiert streiten können und am Ende gemeinsam eine Lösung finden. Oder ob wir endgültig in zwei sich hassende Lager zerfallen, wie die USA.
Im Finale stehen diesmal wir alle, statt um einem Pokal geht es um unsere Gesellschaft. Der Kampf wird hart, Bruder gegen Bruder, Schwesterpartei gegen Schwesterpartei, quer durch Büros, Wohnzimmer, Stammtische. Statt Bällen fliegen Argumente. 90 Minuten werden auch hier nicht reichen, aber am Ende könnte Deutschland doch noch etwas gewinnen.