David Lama sieht aus wie Bruce Lee, kämpft aber nicht gegen das Böse, sondern gegen die Schwerkraft. Bist du ein guter Schüler? Gut genug. Willst du nach dem Gymnasium studieren? Ich wüsste nicht, was. Weil dich nichts außer Klettern interessiert? Ganz genau. Woran denkst du beim Klettern? Ans Klettern. Das Gespräch mit David Lama beginnt zögerlich, wird schleppend, irgendwann sagt er fast gar nichts mehr, nickt nur noch oder schüttelt den Kopf, spielt an seinen verhornten Fingerkuppen und scheint ganz abgetaucht zu sein an einen Ort, den niemand kennt außer ihm selbst. Hat Klettern mit Religion zu tun? Ich bete nicht. Definitiv nicht. David Lama ist nicht unhöflich oder arrogant. Er vermittelt einem nur das Gefühl, dass man nicht mehr über ihn erfährt, indem man sich mit ihm unterhält. Sprache ist Ballast für ihn. Und wenn es überhaupt etwas gibt, was er über sich erzählen könnte, dann will er es auf seine Weise tun. Die Martinswand in Zirl, Nähe Innsbruck – seine Heimatwand. Beim Aufstieg ist David Lama vollkommen in sich versunken, als könnte sich jeder einzelne Teil seines Körpers unabhängig von den anderen konzentrieren. Seine Beine scheinen sich Zeit zu lassen beim Gehen, seine Augen beim Schauen. Oben, direkt vor der Wand, kann man ihm zusehen, wie er die Karabinerhaken einen nach dem anderen in die Schlaufe seines Sicherheitsgurtes steckt, wie er mit den Handflächen die Schuhsohlen sauber streicht, sodass kleine Magnesiumwölkchen davonfliegen. Erst suchen seine Finger an einem winzigen Vorsprung Halt, dann zieht er den Körper in einem Millisekunden-Kraftakt nach oben – eine Szene, so geräuschlos, als wäre sie aus einem Stummfilm, präzise, mit großer Ruhe, doch voller Energie. Genau jetzt hat man eine kleine Chance zu begreifen, wer dieser Junge ist, wie er funktioniert, was ihn antreibt, woran er glaubt. Warum man fast ein bisschen neidisch auf ihn wird, wenn man verstanden hat, dass da einer schon als Kind etwas gefunden hat, wofür er lebt. David Lama ist Freeclimber, einer der besten der Welt, vielleicht sogar der beste. Das Verblüffende: Er ist gerade erst 16 geworden, nur 165 Zentimeter groß und 55 Kilogramm schwer. Seine Konkurrenten sind zwischen 20 und 30, ausgewachsene Männer, die in diesem Jahr vor dem großen Problem stehen, dass David Lama aus Götzens, Sohn einer Österreicherin und eines Nepalesen, zum ersten Mal bei den Erwachsenen mitklettern darf. Seit David Lama im Alter von sechs Jahren von der Bergsteigerlegende Peter Habeler bei einem Kinderkletterkurs entdeckt wurde, hat er fast jeden Wettbewerb gewonnen, wurde Jugendeuropameister, Jugendweltmeister. Aber ob er sich in der Männerkonkurrenz würde behaupten können, das war bislang die große Frage in der Kletterszene, auf die David Lama seit Wochen Antworten gibt. Bei seinem ersten Erwachsenen-Weltcup in Belgien wurde er Zweiter, den folgenden in Dresden gewann er. Gerade kommt er von der Herren-Europameisterschaft in Ekaterinburg in Russland. »Da habe ich auch gewonnen«, sagt er, wieder knapp und schnoddrig. Der Pokal steht im Wohnzimmer der Eltern. Es ist einer der wenigen, die ihm so viel bedeuten, dass er ihn behalten hat. »Die meisten hat er an den Vereinstrainer in Innsbruck weggegeben«, erzählt die Mutter, »damit der neue Schildchen draufmachen und sie für regionale Wettkämpfe wiederverwenden kann.«
Ein Ausnahmetalent wie David Lama hat es noch nie gegeben in diesem Sport. Noch nie vor ihm war jemand in diesem Alter technisch so weit, mental so stark. Noch nie waren für einen Kletterer die Chancen so hoch, eines Tages von seinem Sport leben zu können. Das ist David Lamas Ziel. Seit seinem elften Lebensjahr hat er drei Sponsorenverträge, bekommt die Ausrüstung von einem Outdoor-Hersteller, von zwei anderen Unternehmen Geld für die Reisen. Sein Terminplan für die nächsten Wochen: Weltcup in Chamonix und Masters in Serre-Chevalier in Frankreich, Kletterurlaub im kalifornischen Yosemite-Nationalpark, Jugendweltmeisterschaft in Österreich, dann zwei Weltcups in Marbella und Shanghai. Peter Habeler vergleicht sein Können mit dem absoluten Gehör in der Musik. Einmal hat David Lama gesagt: »Wenn ich mal nicht mehr klettere, bin ich querschnittsgelähmt oder tot.« Seine Mutter ist damals ein bisschen erschrocken. So ein Satz hat etwas Gewaltiges, wenn er aus dem Mund eines Jungen kommt. »Eigentlich sind mir die Wettkämpfe gar nicht so wichtig«, sagt er, »es gibt mehr als den Wettkampf.« Und weil ihm wieder die Worte fehlen, um zu erklären, was er genau meint, springt seine Mutter für ihn ein und erzählt eine Geschichte. Erst die lässt einen wirklich verstehen: Im Winter hat David Lama im Zillertal eine siebzig Meter hohe Felswand entdeckt, an der noch nie ein Mensch hochgeklettert ist. Es gibt keine Routen, keine Halterungen zum Sichern, nur nackten, unberührten Fels. Und weil David Lama nie ungesichert klettern würde (»Es geht ums Klettern, nicht darum, die Angst zu überwinden«), hat ihn die Mutter immer wieder ins Zillertal gefahren, hat im Auto von morgens bis abends gewartet, während ihr Sohn mit einem 30-Kilo-Rucksack nach oben an den Fuß des Felsens wanderte, um die Wand stundenlang, tagelang mit der Spachtel von Flechten und Moos zu befreien, mit der Bohrmaschine zu bearbeiten und Sicherungshaken einzuschlagen. »Im Winter sind die Eiszapfen an David vorbei nach unten gesaust«, erzählt seine Mutter, »da hatte ich schon Angst um ihn.« – »Weil du ein Hosenscheißer bist«, sagt er. Irgendwann diesen Sommer wird David Lama die ganzen siebzig Meter abgearbeitet haben, er ist keiner, der seine Ziele aus den Augen verliert. Dann wird die Route fertig sein und er wird sie klettern, er will es unbedingt. Dabei sein wird niemand außer einem Freund, zum Sichern. Es wird keinen Pokal geben, keine Zuschauer, die klatschen, vielleicht nicht mal Fotos, die als Beweis für den Triumph dienen könnten, aber am Ende wird David Lama oben stehen und runterschauen. Er wird wissen, was er da eben geleistet hat. Und er wird zufrieden sein.