SZ-Magazin: Herr Katzenmeier, darf ich mal Ihre Hände berühren?
Adolf Katzenmeier: Klar, bitte schön.
Sie haben aber sehr weiche Hände.
Das kommt von der täglichen Arbeit mit Massageöl. Was ist denn das für eine Narbe an Ihrem Zeigefinger?
Die stammt von der Europameisterschaft 1992 in Schweden. Wir spielten gegen Schottland. Guido Buchwald sprang hoch zum Kopfball und sein Gegner traf ihn an der Schläfe. Als ich auf den Platz rannte, sah ich schon, wie Guidos Finger im Gras verkrampften, und hörte ihn röcheln. Seine Zunge war ihm in den Hals gerutscht, er bekam keine Luft! Also drückte ich sofort meinen Daumen in seine Backe, zwischen Unter- und Oberkiefer, und steckte meinen Zeigefinger in seinen Mund. Aber Guido verkrampfte immer stärker, er biss mir so tief in den Finger, dass ich blutete. Gott sei Dank bekam ich seine Zunge irgendwie zu fassen und zog sie blitzschnell raus.
Sie haben ihm das Leben gerettet?
Wäre ihm die Zunge weiter reingerutscht, hätte nur noch ein Luftröhrenschnitt geholfen.
Sind an Ihren Händen noch andere Verletzungen zu sehen?
Nein. Guidos Biss ist die einzige schmerzhafte Erinnerung an mehr als 40 Jahre DFB.
Und das Halbfinale gegen Italien vergangenes Jahr – hat das nicht wehgetan?
Natürlich war das schmerzhaft. Aber wenn man mehr als 14 Welt- und Europameisterschaften mitgemacht hat, räumt man nach so einem Spiel in der Kabine die nassen Trikots und Handtücher zusammen und hält einfach die Klappe.
Einfach so?
Einfach so.
Sie sind seit 1963 beim DFB, Sepp Herberger persönlich hat Sie für den Job engagiert. Viele sehen Sie als lebende Legende.
Ich, eine Legende? Übertreiben Sie nicht.
Ob Uwe Seeler, Franz Beckenbauer, Jürgen Klinsmann oder Michael Ballack – seit Fritz Walter haben Sie immerhin jede Wade der Nation geknetet.
Ich bin jetzt 72 Jahre alt. Wenn mir Gott die Kraft gibt, werde ich auch noch mit 80 die Nationalelf massieren. Dieser Beruf ist mein Leben. Aber beim DFB arbeiten mittlerweile neben Mull (Spitzname des Mannschaftsarztes Dr. Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt in der Nationalmannschaft, Anmerkung d. Redaktion) auch zwei Orthopäden, ein Internist, vier Physiotherapeuten sowie ein Sportpsychologe. Bei der WM waren zusätzlich vier amerikanische Fitnesstrainer dabei. Sie merken also: Ich bin keine Legende, sondern ein kleines Rädchen in der Kette.
Glauben Sie, Sie sind nicht mehr so wichtig wie vor 20, 30 Jahren?
Wer ist schon wichtig? Richtig ist: Meine Arbeit ist zu einem Randthema geworden, es heißt ja auch nicht mehr Masseur, sondern Physiotherapeut.
Und die Bezeichnung mögen Sie nicht?
Ich habe nichts dagegen. Aber ich bin staatlich geprüfter Masseur und Fußpfleger, habe meine Ausbildung in den Fünfzigern gemacht. Ich bin ein Kriegskind. Als Bub in Frankfurt habe ich noch Schutt weggeräumt.
In welcher Straße denn?
In der Obermainanlage, einer der wichtigsten Verkehrsadern der Stadt.
Sind Sie da später auch mit dem Bus der Nationalmannschaft vorbeigefahren?
Ja, mehrmals.
Haben Sie einem der Nationalspieler bei der Gelegenheit mal erzählt, wie das früher war?
Nein. Ich habe zwar oft daran gedacht, im Bus sitze ich neben Lukas Podolski, aber für junge Spieler wie ihn oder Schweinsteiger ist der Krieg so weit weg. Warum sollte ich sie damit belästigen?
Glauben Sie, die Spieler würden das als Belästigung empfinden?
Ich weiß es nicht. Aber einem Fritz Walter oder Uwe Seeler brauchte ich das nicht zu erzählen, die hatten das noch selbst erfahren. Das schwang immer mit, wenn wir durch Deutschlands Straßen fuhren.
Nach Seeler kam die Spielergeneration Hoeneß, Briegel, die Förster-Zwillinge, Rummenigge – die typischen deutschen Ur-Fußballer: blond und kämpfend bis zum Umfallen.
Ja, kann man so sagen.
Hätte da ein schwarzer Spieler wie zum Beispiel Gerald Asamoah hineingepasst?
Ein dunkelhäutiger Spieler in Malente? Schwer vorstellbar. Auch Asamoah hatte ja nach seiner ersten Berufung ins Nationalteam einen sehr schweren Stand.
Warum?
Weil er von den anderen ständig umgetreten worden ist.Weil er schwarz war? Das sollten Sie die Nationalspieler fragen. Die Jungs wollten wahrscheinlich testen, wie sehr Asa dazugehören möchte. Er wurde im Training jedenfalls richtig hart rangenommen. Das waren nicht die üblichen Begrüßungsgrätschen.
Wie hat Asamoah darauf reagiert?
Er lag nach den Fouls auf dem Boden, grinste nur und stand wieder auf. Asa ist eine Kämpfernatur. Irgendwann hat die Mannschaft kapiert, dass er ein guter Kerl ist. Heute ist er einer der beliebtesten Spieler im Team.
Sie haben mal gesagt, dass Sie bis zu Ihrem letzten Tag beim DFB keine Geheimnisse ausplaudern werden. Aber eine schöne Anekdote könnten Sie uns doch wenigstens erzählen.
Kennen Sie die Geschichte vom Hasen?
Vom Hasen? Nein.
Es war während eines Trainingsspiels vor der Weltmeisterschaft 1990 in Italien. Ich stand am Spielfeldrand. Plötzlich fiel Andreas Brehme um und krümmte sich vor Schmerzen. Ich lief aufs Feld, öffnete meinen Koffer – und da kam ein echter Hase raus und sprang im Zickzack davon. Sepp Maier, damals noch Bundestorwarttrainer, hatte ja schon als Spieler immer nur Blödsinn im Kopf, und der hatte mir den Hasen vorher in den Koffer gesteckt. Das arme Vieh! Icke Hässler und Olaf Thon standen daneben und lachten sich schlapp.
Konnten Sie darüber lachen?
Nein, ich habe mich zu Tode erschreckt. Ich war stocksauer und wollte sofort abreisen.
Was hat Sie dazu bewogen, doch noch zu bleiben?
Franz kam zu mir, legte seinen Arm um mich und sagte: »Wenn wir gewusst hätten, dass du dich so darüber ärgerst, hätten wir das nicht gemacht.«
Haben Sie sich bei Sepp Maier für diese Aktion gerächt?
Nicht ich, aber der Franz. Am nächsten Tag saßen wir alle im Speisesaal des Hotels und der Sepp wurde zum Telefon an der Rezeption gerufen. Als er weg war, schnappte sich Franz ganz lässig Sepps Schnupftabakdose und schüttete ungelogen den halben Becher Pfeffer hinein. Kurz drauf kam der Sepp zurück und war natürlich sauer, dass keiner am Telefon war. Er griff tatsächlich als Erstes zu seiner Dose, legte sich einen großen Batzen auf den Handrücken und schoss sich das Zeug ohne zu zögern in die Birne. Seine Augen liefen rot an, er begann unaufhörlich zu niesen, es war – Sepp, nimm mir das nicht übel, wenn du das jetzt liest – ein herrlicher Spaß. Franz sagte damals: »Das war die Rache des Hasen.«
Sie sind schon so lange beim DFB, alle begegnen Ihnen dort wie einem alten Freund. Was glauben Sie, warum Ihnen die Trainer und Spieler immer vertraut haben?
Gestandene Nationalspieler sind nach einer Niederlage ebenso geknickt wie der Fan vor dem Fernseher. Manchmal suchen sie dann eben Schutz – wie kleine Kinder. Da bin ich auch als Seelenmasseur gefragt. Wenn man einen Menschen über Jahre massiert, ihn körperlich lockert, werden auch seine Gedanken freier.
Berti Vogts hat über sich selbst mal gesagt: »Selbst wenn ich übers Wasser laufe, sagen meine Kritiker: Nicht mal schwimmen kann der!« War er ein guter Bundestrainer?
Ja, das war er. Berti hat als letzter Trainer mit der Mannschaft einen Titel geholt, 1996 in England. Vergessen Sie das nicht! Er war ein akribischer Arbeiter.
Das ist so eine Floskel, die man über Berti Vogts immer wieder hört. Bedeutet »akribisch«, dass er sich bemüht hat, ein würdiger Beckenbauer-Nachfolger zu sein, aber nie wirklich als großer Trainer akzeptiert wurde?
Nein. Berti hat immer so lange trainieren lassen, bis auch der letzte im Team kapiert hatte, wie ein bestimmter Spielzug funktionierte. Dafür hat ihn Franz zum Beispiel immer bewundert.
Berti Vogts war also der Strebsame. Wie würden Sie die anderen Bundestrainer charakterisieren?
Sepp Herberger war der Patriarch, der alles kontrollierte. Helmut Schön war bestimmend, aber letztlich ein guter Kumpel. Jupp Derwall war eine rheinische Frohnatur, er hat immer viel gelacht. Auch Ribbeck war ein Arbeiter wie Vogts, leider nicht so erfolgreich. Rudi Völler gehört zur Kategorie Helmut Schön.
An Beckenbauer kommt keiner ran, oder?
Doch, Jürgen Klinsmann. Was beide vereint, ist diese unglaubliche Willenskraft, ein Ziel zu erreichen. Mit ein bisschen Glück hätte Jürgen mit Beckenbauer gleich-gezogen und den Weltmeistertitel als Spieler und Trainer geholt. Viel hat letztes Jahr ja nicht gefehlt.
Was hat Klinsmann noch besser als Beckenbauer gemacht?
Er hat zum Beispiel die Mannschaftssitzungen nie im Hotel abgehalten, weil vor dem Start des Spiels noch über eine Stunde Busfahrt kam. Jürgen hat die Jungs kurz vor dem Spiel in der Kabine hochgepusht. Beckenbauer hat nur gesagt: »Gehts raus und spuits Fußball!«
Als Beckenbauer nach dem Endspiel 1990 allein über den Rasen des Olympiastadions in Rom schlenderte – wo waren Sie da eigentlich?
Ich war in der Kabine und habe mich um die angeschlagenen Spieler gekümmert.
Sie haben gleich nach dem Endspielsieg wieder Waden geknetet, anstatt zu feiern?
Ich habe noch das Feuerwerk abgewartet, bin dann in die Kabine und habe Eis- und Druckverbände gelegt.
In Sönke Wortmanns Film Deutschland. Ein Sommermärchen nimmt Sie Michael Ballack nach dem Portugal-Spiel in den Arm. Was hat er Ihnen gesagt?
Michael sagte nur: »Danke, Adi!«
Hat sich sonst noch ein Spieler bei Ihnen bedankt?
Ja. Während der Feier auf der Berliner Fanmeile stand ich ein bisschen im Abseits und habe zugeschaut, wie Schweini mit den Sportfreunden Stiller Schlagzeug spielte und alle dieses WM-Lied sangen. Auf einmal spürte ich Olli Kahns Hand auf meiner Schulter. Ich drehte mich um, er ist ja fast zwei Köpfe größer als ich, da nahm er mich in den Arm, drückte einmal fest zu und ging wieder. Er hat kein Wort gesagt. Ich auch nicht.
Der Frankfurter Adolf Katzenmeier, geboren am 15. November 1934, hat die deutsche Fußball-Nationalmannschaft bei sechs Weltmeisterschaften, sieben Europameisterschaften und Hunderten von weiteren Länderspielen betreut. Demnächst wird er seinen 1000. Einsatz bestreiten - wobei auch schon der 1001. oder 1002. anstehen könnte: Bei all den Spielen habe er längst den Überblick verloren, sagt Katzenmeier.