Da lässt sich was draus machen

Das Schwein ist das wichtigste Tier der Zivilisationsgeschichte - aus keinem anderen wird so viel hergestellt. Und wir reden hier nicht vom Fleisch.


Das Schwein mit der Nummer »05049« wog 103,7 Kilogramm, als es geschlachtet und in Einzelteile zerlegt in die ganze Welt verschifft wurde. Die niederländische Designerin Christien Meindertsma hat die Verwertungskette des Schweins verfolgt und in ihrem Bildband PIG 05049 185 Produkte fotografiert, in denen Teile dieses Schweins enthalten sind. Die Bilder, die Sie hier sehen, stammen aus dem Buch.
»Es gibt kaum einen Gegenstand, der nicht schon in Schweineform gestaltet wurde. Ob Handtaschen oder Stühle: Kein anderes Tier wird so oft kopiert« Der Kulturwissenschaftler Thomas Macho über die arme Sau und ihre Verwertung

SZ-Magazin: Herr Macho, wussten Sie, dass Schweine zur Produktion von Patronenkugeln oder Röntgenbildern verwendet werden?

Thomas Macho: Nein, das ist mir neu. Ich weiß aber, dass Schweine in der Medizin eine wichtige Rolle spielen. Bis vor wenigen Jahren hat man zum Beispiel noch Schweine-Insulin für Diabetiker verwendet, weil die Herstellung des Human-Insulins zu teuer war. Schweine gelten auch als vielversprechende Kandidaten für Xenotransplantationen.

Xenotransplantationen?
Transplantationen von Tierorganen in den menschlichen Körper. Schweineherzen sind zum Beispiel menschlichen Herzen so ähnlich, dass Schweineherzklappen eine echte Alternative zu mechanischen Klappen darstellen. Ich erinnere mich an eine Folge der Fernsehserie Dr. House, in der ein Mafiakiller auf dem OP-Tisch landet, weil er eine Blutwäsche braucht. Dr. House lässt ein Schwein neben das Krankenbett legen, und als die Leber des Mafiakillers versagt, wird sein Blut über Schläuche in die Schweineleber geschleust, dort gefiltert, gereinigt und wieder zurückgepumpt.

Der Mafiakiller überlebt?

Ja, ein Schwein wäscht sozusagen das andere.

Die niederländische Designerin Christien Meindertsma hat in einem Bildband mit dem Titel PIG 05049 185 Produkte fotografiert, in denen Haut, Knochen, Fleisch, innere Organe, Blut und Fett eines einzigen Schweins enthalten sind. Teile dieses Schweins finden sich in Tapeten, Bremsscheiben, in Wein, Bier, Tablettenhülsen, Zahnpasta und in Zigaretten. Wenn man sich Meindertsmas Bilder anschaut, könnte man glatt annehmen, ohne Schweine könnte die Industrie sofort ihre Produktion einstellen.
Das Schwein war schon immer ein wichtiger Kooperationspartner des Menschen. Es gibt auch kaum einen Gegenstand in unserer Alltagskultur, der nicht schon mal in Schweineform gestaltet wurde. Ob Handtaschen, Haarklammern, Kaffeetassen oder Stühle: Kein anderes Tier – weder Hund noch Katze oder Pferd – wird so oft kopiert wie das Schwein.

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Das Hausschwein wird seit mehr als 9000 Jahren zur Fleischerzeugung gehalten. Wann kam der Mensch auf die Idee, aus dem Tier auch Patronenkugeln zu fertigen?
Generell begann die umfassende Tierverwertung mit dem Einsetzen der Industrialisierung. Als wir allmählich fast alle Tiere, nicht nur Schweine, aus dem öffentlichen Stadtbild verbannten, begannen wir gleichzeitig, sie hinter verschlossenen Türen auf immer umfassendere Weise in alle möglichen Produkte einzuarbeiten. Das gilt auch für Schafe, Rinder oder Ziegen.

Aber kaum ein Tier betrachten wir mit so gemischten Gefühlen wie das Schwein. Schweine sind angeblich nicht besonders schlau, wälzen sich dauernd im Dreck, grunzen und gelten dennoch als Glücksbringer. Wie passt das zusammen?

Schweine sind Allesfresser und waren bei uns Menschen schon immer sehr beliebt. Bis zum 18. Jahrhundert haben sich die meisten Stadtbewohner in kleinen Ställen neben ihren Häusern, sogenannten Schweinebuchten, Schweine gehalten. Sie fütterten die Tiere mit Abfällen und hatten so in Hungerzeiten eine Nahrungsreserve. Tagsüber hat man die Tiere frei laufen lassen und abends kamen sie wieder in den Stall. Die hohe Schweinepopulation war damals aber ein großes Problem in den Städten. Ein Gesetz aus dem 15. Jahrhundert für die Stadt Ulm wollte die Anzahl der Schweine zum Beispiel auf 24 pro Bürger beschränken. Sie können sich also vorstellen, wie es damals auf den Straßen Ulms ausgesehen haben muss.

Schweine ohne Ende.

Genau. Die Stadtoberen mussten ihren Bürgern irgendwie klarmachen, dass die Schweine in den Straßen nichts mehr zu suchen hatten. Also haben sie den Leuten immer wieder gepredigt, dass Schweine eigentlich ganz dumme, schmutzige, unreine Tiere sind.

Unser heutiges Bild von Schweinen ist geprägt von der Propaganda einiger Bürgermeister des Spätmittelalters?

Ja, unsere ambivalente Haltung den Schweinen gegenüber rührt auch daher, während in anderen Kulturen – etwa in Indonesien oder in China – Schweine nicht nur als Glücksbringer gelten. Ihnen werden positive Attribute wie Fruchtbarkeit und Wohlstand zugeschrieben. Bilder in ethnologischen Lehrfilmsammlungen aus dem Fernen Osten zeigen zum Beispiel Frauen, die Ferkel stillen: an der rechten Brust ein Menschenkind und an der linken ein Schweinchen.

Das Schwein als Krone der Schöpfung?

Das sagt zumindest Gottfried Benn: »Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch.«

Wann haben Schweine eigentlich Eingang in die Popkultur gefunden – mit Miss Piggy?

Nein, schon viel früher. Denken Sie nur an Die drei kleinen Schweinchen und der böse Wolf, Schweinchen Dick und Schweinchen Schlau. Bei Disney waren die Schweinchen dem Wolf in allen Belangen überlegen. Nicht ohne Grund wurde ja der doofe Wolf in den Propaganda-Zeichentrickfilmen immer mit Hitler und den Nazis gleichgesetzt.

Aber bei George Orwells Farm der Tiere sind die Schweine die bösen Bolschewiken.

Ja, aber Orwells Animal Farm ist nicht ganz so tief in die Jugendkultur ein-
gedrungen wie andere Verfilmungen. Wenn Sie heute junge Menschen nach Schweinchen Babe fragen, werden Sie sicher positive Schweine-Assoziationen zu hören bekommen. Wenn Sie nach Farm der Tiere fragen, werden viele gar nicht wissen, was gemeint ist.

Untersuchungen an der Pennsylvania University haben ergeben, dass Schweine mit einem Joystick im Maul an einem Monitor Erkennungsaufgaben sehr gut lösen konnten. Müssen wir unser Bild vom »dummen Schwein« revidieren?
Absolut. In Brandenburg gibt es ein Institut für Nutztierforschung. Dort haben Wissenschaftler herausgefunden, dass man Schweine problemlos an Jingles, also an kurze Kennmelodien, gewöhnen kann. Die Forscher haben den Schweinen Namen gegeben und jedem Schwein, also zum Beispiel Susi und Peter, einen bestimmten Jingle zugeordnet. Und wenn der Jingle für Susi ertönte, spitzte Susi die Ohren, stand auf und ging zum Futterautomaten. Peter blieb sitzen. Ertönte Peters Signal, blieb Susi sitzen.

Täuscht der Eindruck, oder halten sich tatsächlich immer mehr Menschen wieder Schweine als Haustiere?

Es gibt diese neuen Züchtungen der Mini-Pigs, die sehr populär sind. Das sind kleine, sehr intelligente Schweine, die innerhalb weniger Minuten wissen, wie man Schränke aufmacht und ausräumt. George Clooney, der jahrelang mit seinem Hängebauchschwein Max durch die Welt gereist ist, nahm hier eine Art Vorreiterrolle ein.

Vor Kurzem haben sich führende Politiker dieses Landes in Sitzungen gegenseitig als »Wildsau« bezeichnet. Halten Sie das eigentlich noch für eine üble Beleidigung oder ist das schon ein Kompliment?

In der politischen Diskussion war es sicher als Beleidigung gemeint. Aber jemanden als »Wildsau« zu bezeichnen, ist nicht ganz so schlimm wie zahlreiche andere Vergleiche aus dem Tierreich.

Fotos: Yann Arthus-Bertrand