»Wenn es um Zufall geht, denken wir wie Neandertaler« 

Ist es unwahrscheinlich, am anderen Ende der Welt dem eigenen Nachbarn zu begegnen? Aberwitzige Zufälle sind das Forschungsgebiet des Londoner Statistikprofessors David Hand. Im Interview erklärt er, warum wir Wahrscheinlichkeiten so gerne so falsch einschätzen.

Foto: Vera de Kok, CC-by-SA 4.0.

SZ-Magazin: Ich glaube, ich wäre eine guter Lottospieler.
David Hand: Wie kommen Sie denn darauf?

Ich habe als Jugendlicher bei einem Preisausschreiben einer Musikzeitschrift eine teure E-Gitarre gewonnen – und Jahre später bei einem anderen Gewinnspiel noch eine.
Das freut mich für sie. Als Statistiker muss ich Sie leider enttäuschen. Solche Dinge passieren ständig. Die Engländerin Diana Coke hat bei Gewinnspielen schon mehr als fünfzig Reisen gewonnen.

Weil sie soviel Glück hat?
Nein, weil sie den ganzen Tag nichts anderes macht, als an Preisausschreiben teilzunehmen, sie schafft mehr als 400 pro Woche. Das erhöht natürlich ihre Chancen. Aber um bei Ihrem Beispiel zu bleiben: Rein statistisch ist es absolut plausibel, dass jemand zwei Mal eine Gitarre gewinnt, auch wenn er nicht dauernd bei Gewinnspielen mitmacht.

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Woran liegt das?
Man überschätzt oft die Zahl der Teilnehmer bei solchen Aktionen, gerade wenn es so etwas Spezielles zu gewinnen gibt wie eine Gitarre, die ja gar nicht jeder gebrauchen kann. Die Chance, dort zu gewinnen, ist also höher als man denkt. Außerdem gibt es ein statistisches Prinzip, das ich »die Gesetzmäßigkeit sehr großer Zahlen« nenne: Auf den ersten Blick unwahrscheinliche Dinge werden wahrscheinlich, wenn die Menge der Ereignisse groß genug ist. Wenn man davon ausgeht, dass es weltweit Millionen verschiedener Gewinnspiele gibt und jedes Mal einer gewinnt, ist es nur logisch, dass jemand auch mehrmals Glück hat. Ihre Chance wird ja nicht dadurch niedriger, dass Sie bereits eine gewonnene Gitarre besitzen.

Die größten Zufälle im Leben unserer Leser - Teil 1
»In meinem ersten Studienjahr in Wien ging ich abends ins damalige Café Rosa. Als kein Kellner kam, ging ich zur Bar, um direkt dort zu bestellen. Es war mein erstes Mal in diesem Lokal, weswegen meine Überraschung ziemlich groß war, als sich mir folgendes Bild darbot: Auf der Kaffeemaschine hinter der Theke war mit Klebeband ein Familienfoto von mir und meinen Eltern angebracht. Ich fragte den Barmann, wie es dort gelandet sei, aber der meinte nur, dass es schon seit einigen Monaten dort hinge. Ich kann mir bis heute nicht erklären, wie es dazu gekommen ist.«
Sonja R.
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Sie haben ein Buch über sehr unwahrscheinliche Ereignisse geschrieben. Welche Geschichte hat Sie am meisten überrascht?
Der Schauspieler Anthony Hopkins sollte 1972 in einem Film mitspielen, der auf dem Roman »Das Mädchen von Petrovka« basiert. Also klapperte er alle Buchläden Londons ab, um sich ein Exemplar des Buchs zu besorgen – vergeblich, es war überall ausverkauft. Als er frustriert mit der U-Bahn nach Hause fuhr, lag auf der Bank in der Station Leicester Square ein zerfleddertes Buch: »Das Mädchen von Petrovka«.

Irre.
Ja, aber es kommt noch besser. Nach den Dreharbeiten lernte er den Autor des Romans kennen, George Feifer. Und der klagte darüber, dass sein eigenes Exemplar des Buchs verloren gegangen war. Ein großer Verlust, denn er hatte überall an den Rand Anmerkungen geschrieben. Hopkins zog sein Fundstück aus der Tasche – und tatsächlich: Das Buch, das er in der U-Bahn gefunden hatte, gehörte dem Autor selbst.

Wie hoch ist die Chance, dass so etwas passiert? Eins zu tausend Milliarden?
Das lässt sich kaum seriös berechnen. Aber auch wenn es völlig unwahrscheinlich scheint, kann man sich natürlich anschauen, wie viele Millionen Menschen jeden Tag auf der ganzen Welt U-Bahn fahren, dort ihre Bücher verlieren und sie niemals wiederfinden – und wie viele Menschen Bücher finden und sie nicht mitnehmen. Da ist man schnell bei einer sehr großen Zahl an Möglichkeiten, in denen so etwas Ungewöhnliches nicht passiert ist. Und irgendwann passiert es eben doch. Das ist völlig normal.

In Bulgarien wurden bei der staatlichen Lotterie im September 2009 folgende Zahlen gezogen: 4, 15, 23, 24, 35, 42. Vier Tage später gab es wieder eine Ziehung – mit genau den gleichen Zahlen. Da fragt man sich doch sofort: Kann das Zufall sein?
Genau das haben sich die Behörden dort auch gefragt – und sofort wegen Betrugs ermittelt. Mathematisch betrachtet braucht es bei einer Lotterie mit 6 aus 49 Zahlen genau 4404 Ziehungen, bis es statistisch wahrscheinlich wird, dass zwei Mal die gleichen Zahlen gezogen werden. Bei zwei Ziehungen pro Woche kommt so ein Ereignis im Schnitt alle 43 Jahre vor. Und plötzlich ist es gar nicht mehr so unwahrscheinlich. Das besondere ist nur, dass es zweimal innerhalb einer so kurzen Zeit passiert. Aber auch das ist kein Einzelfall. Bei der Mifal HaPayis Lotterie in Israel sind im Jahr 2010 zweimal innerhalb von drei Wochen die gleichen Zahlen gezogen worden. Und bei der North Carolina Cash Lottery in den USA sogar innerhalb von drei Tagen.

Die größten Zufälle im Leben unserer Leser - Teil 2
»Ich war gerade zum ersten Mal mit meiner Kamera im Osten Londons unterwegs, das zu meiner neuen Heimatstadt werden sollte, als ich inmitten einer normalen Nachbarschaft ein paar schrill gekleidete Personen entdeckte, die auf der Straße standen. Verwirrt schoss ich ein Foto von einem mutmaßlichen Polizisten, vergaß die Begegnung jedoch bald schon wieder. Ein Jahr später traf ich mich mit einer guten Freundin in einem Café. Grinsend erzählte sie mir, dass sie ein spanischer Musiker gerade angesprochen und nach ihrer Nummer gefragt hatte. Gemeinsam sahen wir uns sein Musikvideo an. Der Polizist kam mir plötzlich sehr bekannt vor…«
Katharina K.
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Erstaunt Sie gar nichts mehr?
Ich vergleiche solche Ereignisse gern mit einem Regenbogen – der wird ja auch nicht weniger schön, nur weil man weiß, wie er physikalisch entstanden ist. Bei fast allen Zufällen greift ein Satz, den der englische Mathematiker Auguste de Morgan schon im 19. Jahrhundert formuliert hat: Was auch immer passieren kann, wird auch passieren, wenn man genügend Versuche macht. Und gerade bei Lottozahlen hat man es mit weltweit Millionen verschiedener Ziehungen zu tun – da wäre es eher überraschend, wenn sich keine verrückten Ergebnisse finden ließen. Aber Menschen neigen dazu, den reinen Zufall zu romantisieren.

Warum?
Dass Dinge einfach nur zufällig geschehen, widerspricht einer tief sitzenden Eigenschaft aller Menschen: Wir glauben an Ursache und Wirkung – wenn etwas passiert, suchen wir nach einer Erklärung, die man verstehen und beeinflussen kann.

Und Zufall reicht nicht als Erklärung?
Genau. Irgendwie muss doch mehr dahinter stecken – im Falle der sich wiederholenden Lottozahlen muss es Betrug sein. Als 1996 innerhalb von 25 Tagen drei amerikanische Kampfjets vom Typ F-14 bei Übungsflügen abgestürzt sind, war schnell von Sabotage die Rede. In Wirklichkeit war es reiner Zufall. Laut Statistik ist innerhalb von 36 Jahren durchschnittlich alle 70 Tage ein F-14 Jet abgestürzt und da kann es durchaus vorkommen, dass sich Unfälle häufen.

Die größten Zufälle im Leben unserer Leser - Teil 3
»In meinem Austauschjahr in den USA vor elf Jahren wollte ich unbedingt Basketball spielen. Ein Freund meinte: „Geh mal drei Häuser weiter die Straße runter, da wohnt voll das heiße Mädchen, die hat einen Basketballkorb.« Ich klopfte an der Tür und lernte Sarah kennen. Wir haben uns verliebt und wollen bald heiraten. Wie sich herausstellte, hatte ich mich aber damals in der Tür geirrt.…«
Sinan O.
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Wenn ich einem alten Studienfreund, an den ich kürzlich gedacht habe, ein paar Tage später im New Yorker Museum of Modern Art begegne, ist mein erster Gedanke trotzdem: Das war Schicksal.
Verstehe ich voll und ganz. Aber: Wie oft haben Sie an jemanden gedacht und ihn danach nicht getroffen? Alte Bekannte genau dort zu begegnen, wo auch Sie gerne hingehen, ist doch auch keine Überraschung – er interessiert sich eben für ähnliche Dinge. Außerdem ist die Menge an Leuten, die sich für so eine tolle Zufallsgeschichte eignen, viel größer, als man zunächst denkt. Sie hätten auch jeden ehemaligen Mitschüler, jeden flüchtigen Bekannten oder sonstwen treffen können, und zwar nicht nur in New York, sondern an jedem anderen Ort, den Sie je bereist haben – die Reaktion wäre die gleiche gewesen: Wow, ausgerechnet du bist auch hier? In Wahrheit ist dieser Kreis an Menschen so groß, dass es fast unwahrscheinlich wäre, im Laufe seines Leben niemandem von ihnen irgendwo auf der Welt zu begegnen.

Wie oft hören Sie den Satz: Ich lasse mir doch nicht von Ihrer Rechnerei meine tolle Geschichte kaputt reden?
Das passiert mir ständig. Jeder hat ja schon mal so eine unglaubliche Geschichte erlebt und hält sie für etwas Einzigartiges. Man merkt das an Formulierungen wie: Wie es der Zufall wollte. Als wäre der Zufall eine mysteriöse Kraft, die unser Leben steuert. Die westliche Welt mag aufgeklärt und rational sein – wenn es um Zufälle geht, verfallen wir in Denkmuster von Neandertalern. Die dachten ja auch: Der Blitz hat in einen Baum eingeschlagen – ein Zeichen der Götter! Heute denken wir: Meine Mutter hat mich angerufen, kurz nachdem ich ein Foto von ihr betrachtet habe – Gedankenübertragung. Nein. Es ist beide Male einfach nur Zufall.

Die größten Zufälle im Leben unserer Leser - Teil 4
»Als ich letztes Jahr in Südamerika unterwegs war, wollte ich etwas wagen und zu Fuß von El Chaltén in Argentinien nach Villa O’Higgins in Chile. Schon an der ersten Weggabelung bog ich falsch ab und fand mich bald inmitten eines dichten Regenwalds wieder. Nachdem ich die Bekanntschaft mit einem Südandenhirsch gemacht hatte, setzte ich mich erschöpft neben meinen 15 Kilo schweren Rucksack und überlegte, wie es weitergehen sollte. Als ich meinen Kopf anhob entdeckte ich einen kleinen Pfad. Er führte zu einem Steg an dem ein Boot angebracht war. Bald tauchte auch der Besitzer auf, der mich verköstigte, mir den richtigen Weg zeigte und Verpflegung für meine restliche Reise mitgab. Ich wollte ihm danken und fragte nach seinem Namen. Es war der gleiche wie meiner: ein typisch jüdischer, marokkanischer Nachname, und das mitten im Regenwald Südamerikas.«
Elie B.
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Ist Ihnen noch nie etwas passiert, das Sie mit Statistik nicht erklären konnten?
Kurz nachdem mein Buch über Zufälle erschienen war, hat sich der Schriftsteller John Ironmonger bei mir gemeldet. Er hat einen Roman geschrieben, der zeitgleich mit meinem Buch veröffentlicht wurde, darin spielt ein Professor aus London mit, der über Zufälle forscht. Er ist mit einer Frau liiert, die an der London University arbeitet – genau wie meine Frau. Und sein Geburtstag ist der 30. Juni. Wie meiner.

Wie kann das sein?
Es gibt ein statistisches Prinzip, das ich »ausreichende Ähnlichkeit« nenne. Das sind die Überschneidungen, die so frappierend wirken. Aber sie sind nur eine Auswahl, viele andere Aspekte der Romanfigur stimmen nicht mit mir überein. Und wenn man bedenkt, wie viele Bücher geschrieben werden, in denen keine mir ähnliche Figur vorkommt, relativiert sich das auch wieder. Man pickt sich nur den Aspekt heraus, der zur Geschichte passt, den Rest lässt man weg. Wie bei Paul, dem Oktopus...

Die größten Zufälle im Leben unserer Leser - Teil 5
»Ich komme aus Mexiko, wohne aber in London. Mein Freund Emiliano sollte mich besuchen kommen. Vom Flughafen schrieb er mir eine SMS: »Rate wer ein Ticket für den Sitz eine Reihe vor mir hat?« Es war mein Exfreund, der mich damals für ein Mädchen aus London namens Emilia verlassen hatte und auf dem Weg war, um sie zu besuchen.«
Paulina K.
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.... der Krake, die bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2010 acht Spiele korrekt vorhergesagt hat. Wie hat er das geschafft?
Man vergisst dabei, dass die Chance, bei acht Spielen richtig zu tippen, nur bei eins zu 256 liegt, wenn es jeweils nur Sieger oder Verlierer gibt. Von 256 Tieren wird also eins richtig liegen. Die anderen Tiere mit weniger Glück vergisst man einfach. Neben Paul gab es noch Mani, den Wellensittich aus Singapur, den Schimpansen Pino aus Estland, das australische Krokodil Harry und viele mehr, die nicht so gut geraten haben. Über sie spricht keiner mehr.

Warum sollte man auch?
Weil es die vermeintliche Sensation eines Weichtiers mit hellseherischen Fähigkeiten relativieren würde. Stellen Sie sich ein Stadion voller Menschen vor, die alle würfeln. Einer von ihnen wird sehr wahrscheinlich 20 mal hintereinander die Sechs würfeln. Wenn man nur ihn betrachtet, ist es leicht zu sagen: Sensation. Dass um ihn herum Zehntausende Menschen unterschiedliche Zahlen gewürfelt haben, wird übersehen.

Roy Sullivan, ein Amerikaner, wurde sieben Mal vom Blitz getroffen. Auch so eine Sensationsgeschichte?
Ja, denn der Mann war Ranger in einem Nationalpark in Virginia und oft auch bei Gewitter allein in sehr flacher Umgebung unterwegs. Er war quasi ein Blitzableiter auf zwei Beinen. Für jemanden wie ihn ist die Wahrscheinlichkeit, vom Blitz getroffen zu werden, deutlich höher als für Sie und mich, die einen Großteil ihrer Zeit in Büros verbringen. Aber dieser Teil der Geschichte wird eben gern ignoriert. Früher konnte man solche Geschichten ja kaum recherchieren – in der Zeitung stand nur: Mann wurde sieben Mal vom Blitz getroffen. Aber durch das Internet wird sich auch unser Umgang mit solchen Zufallsgeschichten verändern.

Warum?
Weil man viel leichter prüfen kann, was wirklich hinter einer vermeintlich irren Zufallsgeschichte steckt, weil wir einfach mehr Information zur Verfügung haben. Und überhaupt wird der Zufall eine geringere Rolle spielen: Wenn ein Bekannter zur selben Zeit in New York ist wie Sie, wissen Sie das eben nicht dadurch, dass Sie ihm beim Kaffeetrinken am Times Square begegnen – sondern weil er es auf Facebook gepostet hat.

Die größten Zufälle im Leben unserer Leser - Teil 6
»Meine Freundin habe ich in Augsburg kennengelernt. Es stellte sich heraus, dass ihr Vater aus derselben Stadt stammt wie ich, Hagen. Später lernten sich unsere Väter kennen und es stellte sich heraus, dass sie auf derselben Real- und Ingenieursschule in Hagen gewesen waren. Wiederum ein paar Monate später war mein Schwiegervater auf einem Klassentreffen und eine frühere Mitschülerin erzählte dort von der zuckersüßen Großnichte ihrer immer-noch-besten Freundin Gisela, die auch auf dieser Realschule war und seit den Sechzigern in Italien lebt. Als sie Fotos der Kleinen zeigte, sagte mein Schwiegervater: Äh, das ist ja meine Enkelin Marie!«
Marc S.
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