Aufwärtstrend

Warum in vielen Wohnungen plötzlich Leitern herumstehen – auch dann, wenn nie jemand darauf steigt.

Auch im häus­lichen Umfeld ist es wichtig, immer an die nächste Stufe zu denken.

Illustration: Aart-Jan Venema

Über Leitern hatte ich nie groß nachgedacht, das war ein Fehler. Sie waren halt da, Mittel zum Zweck für Maler, Dachdecker oder für Menschen, die einen ­toten Ast vom Baum sägen müssen. Dann aber blätterte ich in meinem Lieblings­café in der einzigen Zeitschrift, die noch übrig war, sah schön eingerichtete Wohnungen und Häuser – und in drei von vier Bildstrecken lehnte eine Leiter an der Wand. Keine, mit der man eine ­Decke hätte weißeln können, dazu ­waren sie zu niedrig, keine, auf die man hätte steigen können, um ein Buch ganz oben aus dem Regal zu ziehen, dafür waren sie zu zierlich. Auf den Fotos hingen mal ein paar Hand­tücher über den Sprossen, mal Zeitungen, einmal lehnte die Leiter an der Wand als beiläufiges Möbelstück. Im Wohnzimmer. Was war los?

Wie das so ist, wenn man mal die Spur aufgenommen hat: Plötzlich sah ich überall Deko-Leitern. Als ich durch ein Möbelgeschäft ging, um meinem Mann eine Gartenleuchte zu zeigen, lehnten auch da, wie zufällig, welche an der Wand, mal waren sie auf alt getrimmt und rostig, mal aus Teakholz, Bambus oder Nussbaum. Die günstigste kostete um die 150 Euro, die teuerste 500. Als ich einen kleinen Schreibtisch für die leere Ecke im Schlafzimmer suchte, an dem ich in der Zeit des Home­office arbeiten könnte, kämpfte ich mich durchs Internet. Schnell mischten sich Schreibtische dazwischen, deren Vorbild eindeutig Leitern waren, sogenannte Bockleitern, das habe ich inzwischen gelernt, die – im Gegensatz zu den einteiligen Anstellleitern – aus zwei Teilen bestehen und sich zusammenklappen lassen. Bei diesen Bockleitern sollte ich meinen Rechner auf ein kleines Brett stellen, das zwischen zwei gleich hohen Sprossen beider Leiternteile verankert ist, Unterlagen hätte ich in die oft darüber liegende Schublade stecken können, die natürlich schmaler ist als das Brett, schließlich verjüngt sich eine Bockleiter nach oben. Ich war angefixt.

Schneider sagt, ihr Ideal sei, so wenige Dinge zu besitzen, dass sie auch mit der Bahn umziehen könnte

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Und rief Julia Schneider an, Innenarchitektin in München. Sie sagte bereits am Telefon, wie toll sie Leitern als Möbelstück finde. Prompt steht im Besprechungszimmer ihrer Firma »iam« eine halbhohe schwarze Bockleiter. Sie steigt drauf, nimmt oben Platz und sagt: »Zwei, drei solcher Klappleitern im Halbkreis aufgestellt, schon hat man ein richtiges Bar-Gefühl.« Gerade in Corona-Zeiten keine dumme Idee. Im Lauf des Gesprächs lerne ich, wie viele Möbel eine Leiter zum Vorbild haben, die Sprossenheizung im Bad etwa, der Wäscheständer oder das »String«-Regal, ein Klassiker skandinavischen Designs aus den Fünf­zigerjahren, ein filigranes Wandregal, in dessen Seitenteile man fast beliebig viele Bretter einhängen kann. Das Gegenstück zur Leiter, die sich seit ein paar Jahren als Möbelstück einschleiche, sei der Einbauschrank, sagt Julia Schneider, groß und unbeweglich. Nie spricht sie von einer ­Leiter als reinem Dekorationsobjekt, immer meint sie Leitern, auf die man auch steigen kann.

Zurzeit, sagt Schneider, richte sie häufig Apartments für temporäres Wohnen ein. Und weil die möbliert sind, »muss jemand nur noch seine Leiter mitbringen, um Handtücher drüberzuhängen oder Pullover, schon wirkt der Raum persönlich«. Sie selbst habe auch ein paar Leitern zu Hause, eine zum Beispiel neben dem Bett als Buchablage, eine andere, über deren Sprossen sie Kleidungsstücke hänge: »Das hat dann eben nicht den eingestaubten Charakter eines Stummen Dieners.« Sie erklärt mit gro­ßer Überzeugung, dass eine Leiter in der Wohnung ein Produkt sei, das Einfachheit ausstrahlt, ein multifunktional einsetzbares Objekt dazu, das signalisiere: Hier lebt niemand, der Überflüssiges hortet. Zugleich mache alles, wofür man die Leiter in der Wohnung verwendet, sowohl einen aufgeräumten als auch einen unaufgeräumten, also lässigen Eindruck. Schneider sagt, ihr Ideal sei, so wenige Dinge zu besitzen, dass sie auch mit der Bahn umziehen könnte, als einziges Möbelstück ­trüge sie eine Klappleiter unter dem Arm.

Und ich? Nein, ich habe noch keine Leiter in der Wohnung. Aber ich habe ja auch immer noch keinen Schreibtisch im Schlafzimmer.