Vor einer Weile las ich Das Buch der verrückten Experimente von Reto Schneider. Darin werden die Geschichten verschiedener interessanter wissenschaftlicher Versuche erzählt, zum Beispiel jenes Experiments, das der Psychologe Milton Rokeach vor fünfzig Jahren unternahm: Er brachte drei Männer zusammen, die sich jeweils für Jesus hielten, einer hatte sogar eine Visitenkarte, auf der stand »Dr. Domino dominorum et Rex rexarum, Simplis Christianus Puer Mentalis Doktor, reincarnation of Jesus Christ of Nazareth«.
Immer wieder trafen sich die drei in einer psychiatrischen Anstalt, wobei keiner den beiden anderen zugestand, Jesus zu sein. Der Erste hielt die beiden anderen für Angeber, sie seien allenfalls »ausgehöhlte Hilfsgötter«. Der Zweite nannte die Kollegen sprechende Maschinen. Der Dritte gab an, nur er sei Christus, die anderen zwei könnten es ja nicht sein, sie seien schließlich Insassen einer psychiatrischen Anstalt. Auf diese Weise sollen die drei gut miteinander ausgekommen sein.
Noch faszinierender fand ich nun aber in Das neue Buch der verrückten Experimente (auch von Schneider) die Geschichte des Pitch Drop Experiments in Brisbane/Australien. Dort hat 1927 ein Professor namens Thomas Parnell heißes Pech in einen unten verschlossenen Trichter gegossen. Dann wartete er drei Jahre. Darauf öffnete er den Trichter unten. Wartete weitere acht Jahre. Schließlich fiel, im Dezember 1938, ein Tropfen Pech in den Becher unter dem Trichter. Neun Jahre später löste sich ein zweiter Tropfen. Dann starb Parnell, worauf, 1954, ein dritter Tropfen herabsank. In der bis heute andauernden Amtszeit seines Nachfolgers sind fünf weitere Drops hinzugekommen, der letzte am 28. November 2000.
Was genau damit bewiesen wird, ist unklar – außer, dass Pech zwar aussieht und sich anfühlt wie Stein, dennoch flüssig ist, hundert Milliarden Mal zäher als Wasser. Übrigens hat nie jemand einen Tropfen wirklich fallen sehen! Im Jahr 2000 war zwar eine Kamera auf das Pech gerichtet, aber im entscheidenden Moment funktionierte sie nicht, was vielleicht einfach Pech war.
Großartig am Pechtropfenexperiment finde ich seine Generationen übergreifende Dauer, seine bohrende Langeweile, seine Ignoranz gegenüber der Kurzfristigkeit modernen Lebens. Die ganze Welt beschäftigt sich mit Tempomachen, ja, in Genf hat man einen riesigen Teilchenbeschleuniger installiert, statt endlich eine Maschine zu konstruieren, die unser Leben (und auch das Leben der Teilchen) verlangsamt. Hier aber, im Brisbaner Pechversuch, haben wir genau dieses Gerät: Mit kaum ermesslicher Gemächlichkeit sinkt Pech durch einen Trichter! Man möchte Jahre meditierend vor dem schwarzen Stoff verbringen, um endlich zur Ruhe zu kommen.
Aber Brisbane ist weit und … Bitte, wie wäre es, wir würden in allen unseren Städten solche Pechtrichter installieren, auf dem Marienplatz in München, vor dem Kölner Dom, am Brandenburger Tor? Überall würden die Menschen auf ihrer rasenden Glückssuche durch die Ruhe des Pechs gemahnt, die Zeit zu bedenken. Und was wäre es immer für ein Ereignis, auf den Tropfenfall zu warten! Wie würden sich die Mengen vor den Trichtern versammeln, in Gemeinschaft stiftender, jede Zeit ignorierender Erwartung! Ein Pechkult würde sich entwickeln, jeder hätte einen Pechtrichter daheim, ja, man könnte sich vorstellen, in großen Gebäuden, in Zeitungshochhäusern, sogar mitten im neuen Tower von Dubai gläserne Pechschächte zu installieren, durch die der schwarze Tropfen alle paar Jahre Hunderte von Metern tief für alle sichtbar zu Boden klatschte, ein jeweils frenetisch gefeiertes Ereignis.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Kommende Woche wird hier einer meiner beiden Zimmergenossen für Sie schreiben. Er hält sich für »Axel Hacke«, jedoch ist er nur eine schreibende Maschine. Begegnen Sie seinen Ausführungen dennoch mit Wohlwollen, er nimmt mir Arbeit ab. Ich möchte es langsamer angehen lassen.
Zum ersten Mal in seinem Leben wünscht sich Axel Hacke, dass er ein bisschen Pech hätte. Doch wo kann man so was bekommen? Wer das weiß, melde sich bitte unter dasbeste@sz-magazin.de.