Dieser Tage ist mir eingefallen, wie Europa aus seiner Finanzkrise zu retten wäre. Es ist gar nicht schwer.
Ich hatte eine Diskussion mit Bruno, meinem alten Freund, der seine Bücher bei Amazon bestellt, obwohl jeden Tag in den Zeitungen steht, wie scheußlich Amazon viele Mitarbeiter behandelt. Bruno argumentierte, er sei ein bequemer Mensch und lasse sich die Dinge gern ins Haus schicken; auch habe er zu wenig Zeit, um sich in Geschäften herumzutreiben.
Ich sagte: Ob er nicht wisse, dass auch Buchhandelsketten wie Osiander, Hugendubel oder Thalia einen jeweils hervorragenden Internetservice hätten, dass jede deutsche Buchhandlung über Nacht Hunderttausende von Büchern besorgen könne, dass die dann oft viel schneller da seien als die von Amazon (die nicht selten tagelang erst mal beim Nachbarn herumlägen), dass dieser Service weltweit einmalig sei. Ich argumentierte politisch mit der Verödung unserer Städte durch die Ausbreitung des Online-Handels. Ich argumentierte ökologisch mit dem Wahnsinn der ständig durch unsere Straßen gurkenden Paketlieferanten mit ihren aufwendig verpackten Heizlüftern, Klamotten, Büchern und Weinkisten im Frachtraum. Ich argumentierte moralisch: Der Mittelstand, Säule unseres Gemeinwesens, sei bedroht durch Konzerne.
Bruno zuckte die Achseln. So sei der Kapitalismus, der Starke fresse den Schwachen. Aber, rief ich, die Macht im Kapitalismus hat der Verbraucher, er trifft die Entscheidungen. Der Verbraucher, sagte Bruno, ist ein Egoist.
Auf der Suche nach weiteren Argumenten entdeckte ich dann einen Bericht des Handelsblatts: Den Finanzbehörden gingen Hunderte von Millionen Euro verloren, weil Amazon durch eine ausgeklügelte Struktur von Tochterfirmen einen großen Teil seiner Gewinne nach Luxemburg verlagere, wo sie nur sehr gering besteuert würden. Der entsprechende und in diesem Fall gültige Satz überschreite die sechs Prozent nicht, mit etwas mehr Geschick seien sogar fast null Prozent möglich. Dies sei ein legales und übliches Verhalten, auch Apple, Google, Microsoft und andere Riesenfirmen drückten so ihre Steuerlast tief nach unten. Starbucks zum Beispiel habe in Großbritannien in vierzehn Jahren drei Milliarden Pfund eingenommen, aber nur neun Millionen Steuern gezahlt. Und Amazon habe in den vergangenen Jahren in Luxemburg zwei Milliarden Euro steuerfrei gebunkert, Geld für weitere Expansion.
Das fand ich erstaunlich: Dass der deutsche Buchhandel letztlich mit Steuern die Straßen finanziert, auf denen seine schärfste Konkurrenz ihre Waren zu den Kunden bringt. Wobei man im Grunde der Firma keinen Vorwurf machen kann. Sie tut nichts Verbotenes, sie nutzt ja nur Chancen.
Doch wer bietet ihr diese?
Ich las weiter, erst im Oktober 2012 habe Amazon ein neues Firmengebäude in Luxemburg eröffnet, in Anwesenheit des luxemburgischen Finanzministers, dessen Regierungschef Jean-Claude Juncker übrigens oft und gern neue Hilfen für die Krisenländer Europas fordert. Und ich fand in der Wirtschaftswoche ein Gespräch mit dem EU-Steuerkommissar Algirdas Šemeta, der beklagte, den Finanzbehören in Europa gehe jährlich eine Billion Euro verloren – und zwar nur zu einem kleineren Teil durch kriminelle Steuerhinterziehung. »Leider gibt es in der Europäischen Union zu viele Möglichkeiten«, sagte Šemeta, »seine Steuern ganz offen zu minimieren. Diese erlauben einigen multinationalen Unternehmen, eine aggressive Strategie zur Steuervermeidung zu betreiben.«
Eine Billion Euro. Das sind tausend Milliarden Euro, nicht wahr? Das ist ein Betrag mehr als dreimal so hoch wie die Ausgaben im Bundeshaushalt 2013.
Irgendwo las ich auch, dass Deutschland durch die Euro-Krise im allerschlimmsten Fall bis zum Jahr 2015 Kosten in Höhe von 70,8 Milliarden Euro entstünden.
Ich bin kein Fachmann. Im Grunde frage ich mich bloß: Warum ist Europa eigentlich überhaupt in einer Finanzkrise?
Illustration: Dirk Schmidt