Als ich klein war, dachten meine Eltern eine Zeitlang, ich sei verrückt und mit mir würde es ein schlimmes Ende nehmen, weil ich jeden Abend, bevor ich einschlief, im Bett lag und laut vor mich hin sang, manchmal ein halbe Stunde lang, keine Lieder, sondern einfach nur – ganz unmelodisch – »Lalalala«, manchmal auch »Lalaaalaaallal-lalla« oder »Laaaalalalalaaa«, in der Art, bis hin zu »Raa-laalaaarara«. Es war, genau genommen, kein Singen, sondern ein Geräusch im weiten Feld zwischen dem Ruf eines Muezzins und dem Klagelaut des südindischen Laubsägefrosches.
Meine Eltern brachten mich zum Arzt, der meinen Allgemeinzustand untersuchte und mich einfache Intelligenzaufgaben lösen ließ. Er beruhigte meine Eltern: Ich sei nicht verrückt und würde sicher später mal einen schönen Beruf ausüben können. Das Einzige, was er in dieser Beziehung jetzt schon ausschließen könne, sei eine Karriere als Operntenor.
So blieb ich mein eigener Schlafkammersänger, wuchs heran und startete in der Grundschule einen neuen Versuch, das Musikalische betreffend, indem ich Mitglied des Blockflötenorchesters wurde. Bereits nach wenigen Proben bat indes der Blockflötenorchesterleiter meine Eltern dringlich um einen Abendtermin und erklärte, es sei für alle Seiten gewiss das Beste, mich aus dem Blockflötenorchester zu nehmen; ich sei ein netter Kerl und sicher mal in der Lage, einen schönen Beruf auszuüben, aber als Mitglied eines Blockflötenorchesters – er müsse im Interesse der Musik offen sprechen – auch auf niedrigstem Niveau untragbar.
Auf diese Weise endeten meine musikalischen Versuche früh. Ich konzentrierte mich auf das Ergreifen eines schönen Berufes. Erst als Luis zur Welt kam, sah ich eine neue Gelegenheit, ja, Verpflichtung gekommen, meine sängerischen Fähigkeiten einzusetzen. Abends, wenn er schlafen sollte, setzte ich mich an sein Bett und sang ihm ein »Lalalala« vor, manchmal auch »Lalaaalaaallallalla« oder »Laaaalalalalaaa«, bis hin zu »Raalaalaaarara«. Das Kind fiel gewöhnlich binnen Sekunden in schockartigen Tiefschlaf und bat nach kurzer Zeit, ob nicht Paola ihm zum Einschlafen vorsingen könne.
Seitdem singt Paola Luis vor und nun auch Sophie, und weil sie so schön singt, dauert es immer lange, bis die beiden schlafen. Sie singt alte deutsche Volkslieder, Ich weiß nicht, was soll es bedeuten und Es waren zwei Königskinder und In einem kühlen Grunde und Der Mond ist aufgegangen. Luis hat das als kleiner Bub immer still angehört und die Augen geschlossen. Sophie aber hat die Angewohnheit, nach fast jedem Vers etwas zu fragen.
Paola singt: »In einem kühlen Grunde…«
Sophie fragt: »Was ist ›kühlen Grunde‹?«
Paola erklärt. Singt: »Da geht ein Mühlenrad…«
Sophie fragt: »Was ist ›ein Mühlenrad‹?«
Paola erklärt. Singt: »Mein’ Liebste ist verschwunden, die dort gewohnet hat…«
Sophie fragt: »Was ist ›gewohnet hat‹?«
Paola erklärt. Und singt. Und erklärt. Und singt. Und ich stehe vor der Kinderzimmertür und lausche und denke, wie es wohl wäre, ich würde vorsingen, und Sophie würde fragen: Was ist »Lalalala«? Was ist »Lalaaalaaallallalla«? Was ist »Laaaalalalalaaa«? Und »Raalaalaaarara«?
Dann singt Paola mein Lieblingslied Schlafe, mein Prinzchen in der Sophie-Version Schlafe, Prinzessin mit meinen Lieblingsversen:
»Alles im Schlosse schon liegt,
alles in Schlummer gewiegt;
reget kein Mäuschen sich mehr,
Keller und Küche sind leer.
Nur aus der Zofe Gemach
Tönet ein schmachtendes ›Ach‹!
Was für ein Ach mag das sein?
Schlafe, Prinzessin, schlaf ein!«
Sie singt und erklärt: »Schlummer«, »Zofe«, »Gemach«, »schmachtendes Ach«. Dann schläft Sophie, ich gehe in die Küche, Paola auch. Ich setze mich und sage:
»Ach…«
»Was für ein Ach mag das sein?«, fragt Paola.
»Das sehnsuchtsvolle Ach eines Unmusikalischen. Das zufriedene Ach eines Familienvaters. Das schmachtende Ach eines Mannes«, sage ich und nehme sie in den Arm.
Illustration: Dirk Schmidt