Auf dem Ross-Schelfeis, 630 Kilometer vom Südpol entfernt, geschah kürzlich Folgendes: Ein Team von Wissenschaftlern und Eisbohr-Experten (mir gefällt der englische Ausdruck ice drillers, denn man meint, spricht man den Begriff aus, im Kopf fast physisch das sonore Vibrieren des Bohrmeißels zu spüren; allerdings muss man zur Kenntnis nehmen, dass die Männer ihr Loch mit Hilfe heißen Wassers aus einem kilometerlangen Schlauch ins Eis schmolzen), ein solches Lochschmelzteam also drang unnachsichtig in 740 Meter Tiefe vor: Dort war, wie eine Kamera zeigte, eine Schicht sehr klaren und extrem kalten Meerwassers von aber nur zehn Metern Tiefe. Dann öder, felsiger Meeresboden.
Die Forscher ließen durch ihr Bohrloch einen Roboter in die Tiefe hinab, Deep-SCINI genannt, und versammelten sich im Kontrollraum. Plötzlich ein Schrei, alle richteten ihre Blicke auf den Bildschirm (und nun folgt, was ich auf der Internetseite von Nature las): »Ein anmutig sich schlängelnder Schatten glitt ins Bild, sich von vorne nach hinten wie ein Ausrufezeichen verjüngend – der Schatten eines glotzäugigen Fisches. Dann sah man das Wesen, das diesen Schatten warf: bläulich-bräunlich-pinkfarben, lang wie ein Buttermesser, die inneren Organe in einem durchsichtigen Körper erkennbar.«
Ich las dies mit einer Mischung aus Faszination und Enttäuschung. Denn einerseits ist es natürlich unglaublich, dass unter 740 Meter dickem Eis in einer Zehn-Meter-Wasserschicht (dies 850 Kilometer entfernt vom offenen Meer) Wesen leben: Deep-SCINI entdeckte weitere Fische, auch Krustentiere. Und niemand weiß, wovon sie eigentlich leben auf ihrem düsteren Außenposten.
Andererseits wäre es natürlich noch viel toller gewesen, wenn dieses geschilderte Fischtier nicht nur »wie ein Ausrufezeichen« ausgesehen hätte, sondern tatsächlich ein Ausrufezeichen gewesen wäre, man stelle sich doch einmal vor: Forscher entdecken das erste lebende Satzzeichen! Zweifellos wäre sofort die erste Duden-Expedition Richtung Antarktis aufgebrochen, Grammatik-Experten auf Motorschlitten und in kleinen, mit Skiern statt Rädern versehenen Flugzeugen, sich aufmachend, um unter den dicken Eisdecken am Südpol mit Bohrern und Robotern nach weiteren Satz-Teilen zu suchen, sich ringelnden Fragezeichen, rochenartig dahinsegelnden Klammern, zuckenden Kommata, wie Synchronschwimmerinnen parallel sich bewegenden Anführungszeichen, planktonartig schwebenden Punkten in größter Zahl, scheu unter Felsen sich verbergenden Semikola und riesigen Bindestrich-Schwärmen.
Aber ein durchsichtiger Fisch, neugierig sich auf eine halbe Armlänge einem Roboter nähernd, ist auch ganz schön.
Man darf ja nicht vergessen, dass es sich hier, tief unter dem antarktischen Eis, um einen der dunkelsten und vermutlich ereignislosesten Orte der Welt handelt. Ist es nicht geradezu, als habe man unter dem Schelfeis die Langeweile selbst angebohrt, eine Kaverne der Fadheit, ein bore hole in jeder Hinsicht? Zutiefst und bis in die letzte Flossenspitze gelangweilte Fische erblickten in den Lampen von Deep-SCINI zum ersten Mal LICHT!
Und ich versuche mir gerade vorzustellen, wie es wäre, wenn in der Decke meines Büros plötzlich ein Loch zu sehen wäre, aus dem ein kleiner fahrbarer Roboter sich auf den Fußboden senkte, dort herumführe, mich aus einem kleinen, sich drehenden Periskop betrachtete, fotografierte – und ich sähe, an ihm und aus ihm hervordrängend, etwas, was ich noch nie gesehen hätte, nicht Licht (das kenne ich ja), auch nicht Dunkelheit (die ist mir ebenfalls bekannt), sondern etwas Drittes, mir bis dato ganz und gar Unbekanntes, jetzt nicht Vorstell- und deshalb jetzt auch nicht Schilderbares, das nach einer gewissen Zeit verschwände und nicht wiederkehrte. Werde ich mich dann furchtbar fürchten? Oder eher sehr neugierig sein?
Ich weiß es nicht. Nur eines weiß ich: Ich werde hier zuerst davon berichten. Lasst mich also nicht allein!
Illustration: Dirk Schmidt