Vielleicht hat es in meinem Leben nie einen Autor gegeben, der mich mehr gepackt, fasziniert, erregt hat als Karl May. Als Winnetou starb, war ich zu nichts mehr zu gebrauchen, ich heulte Rotz und Wasser. Monate vorher hatten mein Freund Ulli und ich auf der Terrasse des Eigenheims meiner Eltern versucht, die Blutsbrüderschaft des Apachen-Häuptlings mit Old Shatterhand nachzuinszenieren. Sehr vorsichtig ritzten wir mit einem Taschenmesser unsere Daumenballenhaut und pressten die kaum verletzten Stellen aneinander.
»Die Seelen dieser beiden jungen Krieger mögen ineinander übergehen, dass sie eine einzige Seele bilden«, hatte Intschu tschuna, Winnetous Vater, gesagt, als sich die beiden verbrüderten, in Winnetou I war das. Wir saßen auf dem Terrassenpflaster, und ich dachte noch, dass beim Lesen alles großartiger gewesen war. Meinen Blutsbruder verlor ich später aus den Augen. Ich hoffe, es geht ihm gut.
In einem 1987 veröffentlichten Aufsatz der Schriftstellerin Barbara Sichtermann fand ich ein Zitat des Philosophen Ernst Bloch. Der hatte auf die Frage, was er einem Kind in der Vorpubertät zu lesen geben würde, geantwortet: Karl May. »Fast alles«, so Bloch über May, »ist nach außen gebrachter Traum der unterdrückten Kreatur, die großes Leben haben will.«
So war das: Ich wollte großes Leben, »das weite Land, die Gefahr, die treue Freundschaft und die wilden Tiere«, so Sichtermann. Sie legte in ihrem Text, der den Untertitel Überlegungen aus feministischer Sicht trägt und der Frage nachgeht, warum sie auch als Mädchen May »meterweise« gelesen habe, die Ebenen unter den Geschichten aus dem Wilden Westen frei.
Das »schwule Antlitz« der Liebe zwischen Winnetou und Old Shatterhand. Die sodomitischen Züge in der Zuneigung Shatterhands zu seinem Rappen Hatatitla. »Die Requisiten des Rendezvous’ – geheime Abreden, Treffpunkte, Reliquien, Kennworte, Konspirationen, Überraschungen, Enthüllungen, Verbrüderungen – beherrschen die Handlung.« Amour fou, wohin man schaut. Dann das Motiv der Verkennung, Verstellung, Tarnung. Shatterhand gab sich als harmloser Mr. Charley aus, auch das traf mein Gefühl: Ihr wisst nicht, wer ich wirklich bin. Doch ihr werdet es erfahren, eines Tages!
In gewisser Hinsicht schrieb May selbst als ein Kind. Er fantasierte sich aus der Machtlosigkeit seiner Armut als fünftes von 14 Kindern (neun Geschwister starben früh) und aus der Existenz als Zuchthäusler hinüber in die unbegrenzte Kraft Old Shatterhands. In seinen Büchern gebe es keine Kinder, notierte Sichtermann. Sie sind ja als Ganzes ein Kindertraum.
Kann man May also nur als Kind lesen? Natürlich nicht. Läse ich ihn heute (was ich nicht tue), dann sicher aus eher literaturwissenschaftlichem Interesse heraus. Ich weiß: Das Bild, das May von »Indianern« zeichnet, ist weit entfernt von der Realität indigener Völker. Wer wüsste das nicht?! Überhaupt ist Realität nun wirklich kein Begriff, mit dessen Hilfe man Mays Werk verstehen könnte. Und man kann auch wissen, dass er, was Rassismus und Kolonialismus angeht, von seiner Zeit beeinflusst war, solche Denkweisen aber im Verlauf seines langen Autorenlebens komplett hinter sich ließ. Schon in der 1892 verfassten Einleitung zu Winnetou I beklagte er das Schicksal derer, die bei ihm, nun ja, die »rote Rasse« waren, »niedergeworfen von einem unerbittlichen Schicksal, das kein Erbarmen kennt«.
Sichtermann schrieb: »Als Prediger das Ausgleichs, des Verständnisses und des Friedens in einer Welt der Raubgier und des Pulverdampfs, die er gleichwohl in seinen Erzählungen entstehen läßt, ist er schwerlich überbietbar.« Trotzdem gibt es Leute, die gerne seine Werke aus den Buchhandlungen verschwinden sähen. (Die gab es übrigens immer.)
Bloß: Ist der Wunsch, das, was man ablehnt, möge einfach weg sein, ist diese Forderung also nicht selbst wiederum ein wenig, sagen wir: kindlich?