In den vergangenen Wochen sind wieder viele Artikel über die Krise des Buches erschienen. Und ich schwöre, wenn jetzt noch ein einziger Artikel über die Krise des Buches erscheint, oder wenn noch einziger Mensch mir etwas von der Krise des Buches erzählt, dann drehe ich durch.
Der Börsenverein des deutschen Buchhandels hat kürzlich eine Zahl veröffentlicht: In den Jahren 2013 bis 2017 haben 6,4 Millionen Deutsche, die zuvor regelmäßig lasen, kein Buch mehr gekauft. Das ist natürlich schlimm. Das ist natürlich bitter.
Aber: Wen wundert es? Jeden Tag erscheinen auf Netflix und anderswo zig neue großartige Serien, die wollen gesehen sein, dann ist noch Fußball, und außerdem hat man jeden Tag stundenlang auf Facebook, Instagram, WhatsApp und sonst wo zu tun. Wenn man dazugehören will (und die meisten Menschen wollen irgendwo dazugehören), dann muss man die Serien sehen, um mitreden zu können. Und wo redet man mit? Richtig: auf Facebook, Instagram, WhatsApp und sonst wo.
Viele Menschen haben nicht mehr so richtig Zeit zum Lesen, das ist klar, das wird sich nicht mehr ändern. Bücher haben viel Konkurrenz bekommen, der Tag aber hat immer noch bloß 24 Stunden, dem Buch zuliebe wird die Schöpfung da nichts hinzufügen. Und ganz bestimmt wird niemand wieder Bücher lesen, weil er von der Krise des Buches gehört hat. Jemand, der auf einer Party allen vorjammert, er sei in der Krise, kann auch gleich daheimbleiben.
Und ein Buch lesen.
Es sei denn, er kann von seiner Krise interessant erzählen.
Jedenfalls lese ich gerade Padre padrone von Gavino Ledda, das ist 1975 zum ersten Mal erschienen (und wurde zwei Jahre später von Paolo und Vittorio Taviani verfilmt), aber ich habe es jetzt erst gekauft, reiner Zufall, jemand erwähnte den Titel, und ich dachte: Warum eigentlich habe ich das nie gelesen?
Ledda erzählt seine eigene Geschichte, die eines sardischen Jungen, den der Vater wenige Wochen nach der Einschulung aus der Klasse einfach abholt, weil er den Fünfjährigen als Hirten braucht – und der von da an nichts weiter kennt als Schafe, Landarbeit, Einsamkeit, Entbehrung, Hitze, Kälte. Er berichtet, wie er sich aus diesem Leben befreite und wie andere sich zu befreien versuchten, durch Auswanderung zum Beispiel in fremde Länder.
Es gab keine andere Chance. Ledda schildert, wie sich die Bevölkerung des Dorfes Siligo versammelt, um die Emigranten zu verabschieden, sie »kam auf dem Marktplatz wie zu einem Leichenbegräbnis zusammen, an dem sich die Emigranten als Lebende beteiligten. Männer, denen es beschieden war, bei der eigenen Beerdigung ihre Angehörigen weinen zu hören. Es war fast, als wäre die Bevölkerung in zwei Gruppen von Leichen geteilt, die sich gegenseitig begraben mussten.« Er fährt fort: »Siligo war tot für sie. Sie waren tot für Siligo. Einzige Hoffnung war ein Neuanfang in einem Land, das ihnen keine Wiege und keinen Gesang bieten konnte, sondern sie nur als Arbeitswerkzeuge gebrauchen und verbrauchen würde.«
Unfassbar, dass ich das erst jetzt lese, zufällig (oder nicht?), mehr als vierzig Jahre nach dem Erscheinen! Jeder, der etwas verstehen will von Auswanderung, ihren Ursachen und Bedingungen, sollte doch dieses Buch kennen. Muss nicht sein, dass er dann zum Befürworter allseits offener Grenzen wird, warum auch?, ich bin es jedenfalls nicht. Aber begreifen wird er wohl, wie dumm das Gerede vom »Asyltourismus« ist und wie erbärmlich das Geschwätz des rechtsextremen italienischen Innenministers Salvini von der »Party« der Emigranten, die nun vorbei sei.
Ganz abgesehen davon, dass er beim Lesen keine Serie vermissen wird und auch sein Handy nicht.
Was ich noch sagen wollte: Vergesst die Krise des Buches! Lest einfach Bücher und redet darüber!