Schmutz und Lügen in gigantischem Ausmaß

So vieles stört unseren Kolumnisten an Verschwörungstheorien. Zuallererst das Wort selbst.

Neuerdings liest man oft das Wort Verschwörungstheorie. Man hört von Verschwörungstheoretikern, die dieses oder jenes verbreitet hätten.

Mir gefällt schon mal nicht, dass hier das Wort Theorie enthalten ist, das, kehrt man zu seinen griechischen Ursprüngen zurück, etwas mit reinem Denken zu tun hat, mit Anschauung der Wahrheit und mit Überlegungen, diese betreffend. Der sogenannte Verschwörungstheoretiker denkt aber nicht, ihm geht es auch nicht um die Wahrheit. Er fantasiert, in schlimmsten Varianten von der Weltherrschaft des Judentums, bisweilen auch davon, dass die Bundesrepublik kein Staat sei, sondern eine GmbH; wer sie anerkenne, gehöre zu deren Personal, deshalb habe er auch einen Personalausweis. Ein Reichsbürger hingegen besitze einen Personenausweis. Wieder andere halten auf Grund obskurster Assoziationsketten Emmanuel Macron für eine Marionette der Freimaurer und Freimaurer sowieso für das Böse schlechthin.

Man redet also besser nicht von Theorie, sondern von einem Verschwörungsgefühl. Dies wäre indes weniger weit verbreitet, hätte es nicht für die Psyche in vielen Fällen segensreiche Auswirkungen: Wer sich in das geschlossene Weltbild einer Verschwörungsgeschichte hineinbegeben hat, erkennt plötzlich verborgenen Sinn im Leben, eine verdeckte Struktur. Sein Dasein gewinnt an Bedeutung, weil er dies' Geheime erkannt hat und sich widersetzt. Auch ist er nicht selbst schuld am eigenen Scheitern. Hitler hätte Mein Kampf wahrscheinlich nie geschrieben, wäre er einfach ein besserer Maler gewesen. Und mancher miserable Journalist wurde Autor von Verschwörungsgefühlsbüchern, weil man auf diesem Wege mit weniger Mühe zu Erfolg gelangt.

Meistgelesen diese Woche:

Wichtiger ist aber nun etwas anderes. Nach dem Massaker an einer Schule in Parkland/USA tauchte bei Youtube ein gefälschtes Video auf, in dem behauptet wurde, der 17-jährige David Hogg, einer der Überlebenden, der sich sehr kritisch über die Waffenlobby geäußert hatte, sei ein Schauspieler, der für sein Auftreten bezahlt werde. Dieses Video stand kurz auf Platz eins des sogenannten Trending-Bereichs der Seite. Dort werden viel gesehene Beiträge in einer Tabelle aufgeführt, was dazu führt, dass sie noch mehr gesehen werden. Und es gab nicht nur eine Lüge über Hogg. Es gab viele, über andere Parkland-Schüler, die sich nach dem Attentat zu Wort gemeldet hatten, ebenfalls. Sie wurden mehr als fünfzig Millionen Mal angeschaut, auch weil Youtube das als TopSpot förderte – und übrigens auch, weil Donald Trump Jr. (zugegebenermaßen nicht die hellste Lampe im Trump Tower) entsprechende Tweets mit »Gefällt mir« versah, was, da er selbst 2,6 Millionen Follower hat, enorme Auswirkungen hat.

Und wieder las ich, »Verschwörungstheoretiker« hätten die Filme produziert. Aber es geht um Verschwörungspraxis! Es geht um die unfassbare Widerwärtigkeit, mit der Überlebende eines Mordgeschehens verleumdet werden – und darum, wie sich die sogenannten sozialen Medien an dieser Widerwärtigkeit beteiligen. Und es geht nicht nur um diesen einen Fall und nicht nur um ein Geschehen in den USA; auch anderswo gibt es genug Beispiele dafür, wie mit Fälschungen in großem Ausmaß gegen Menschen vorgegangen worden ist. Es geht darum, wie über diese Medien immer noch Schmutz und Lügen in gigantischem Ausmaß verbreitet werden. Und darum, wie sich unsere Gesellschaft immer noch nur zögernd und zaghaft dagegen wehrt, dass geschulte, gewissenlose, zutiefst amoralische Zyniker unser Zusammenleben untergraben und zerstören, indem sie Hass und Zwietracht säen.

Das ist keine Theorie. Es ist Praxis. Es geschieht, und wir schauen zu und denken, es wird irgendwie gutgehen. Wird es das?