Immerzu lese ich im Moment Texte, die vom Verschwinden handeln, ist das nicht seltsam? Zum Beispiel habe ich seit dem Sommer ’17 ein Heft von mare aufgehoben, das einfach nicht verschwand, sodass ich es schließlich las. Titel: Sand – Vom Verschwinden des Unerschöpflichen.
Genau, das stand gerade erst auch in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung: Der Sand auf der Welt wird immer weniger, weil es diesen gigantischen Bauboom gibt, überall wird Sand benötigt zur Herstellung von Beton. Wer hätte das gedacht, Sand gab es immer wie Sand am Meer. Und nun …? Wird man für die Kinderkiste künstlichen Sand kaufen, aus Recycling-Glas oder so?
Auch stöbere ich im Atlas der verschwundenen Länder von Björn Berge. Berge ist ein verschrobener Norweger, der hinreißend über fünfzig Länder plaudert, die es nicht mehr gibt, und diese Länder an Hand von Briefmarken vorstellt: Obock, Ostrumelien, Allenstein, Tripolitanien, die Tuwinische Volksrepublik, Maluku Selatan, eine Weltgeschichte jener Jahre, seit die erste Briefmarke, eine One Penny Black, 1840 in England gedruckt wurde. Bitte, ich flehe Sie an, lesen Sie dieses Buch! Sie werden zum Beispiel von der Insel Sazan hören, dem langweiligsten Ort der Welt, oder von Alwar, das in der Nähe von Jaipur und Bharatpur lag und von einem scheußlichen Maharadscha beherrscht wurde, der Autos liebte. Als er sich in London von einem Rolls-Royce-Verkäufer nicht standesgemäß behandelt fühlte, kaufte er sechs Limousinen und ließ sie daheim zu Müllautos umbauen, was Image und Absatz spürbar schadete.
So was lese ich jeden Abend vor dem Einschlafen und dazu Gerade gestern. Vom allmählichen Verschwinden des Gewohnten, in dem Martin Meyer Dingen, Zuständen und Gefühlen, die bisweilen jahrzehntelang zur Grundausstattung unseres Alltags gehörten, einige Blicke hinterherwirft: dem Brockhaus, Woody Allen, der Langeweile am Sonntag, auch der Dauerwelle – aber nicht im nostalgischen Geschmerztheits-Ton, sondern mit dem unausgesprochenen Hinweis, dass nichts von Dauer ist. Auch der Laptop wird es nicht sein oder das Dschungelcamp. Alles wird uns eines Tages fehlen oder auch nicht.
Und jemand wird seinen Kindern erzählen von den Tagen, an denen Telefone fest montiert an der Wand hingen, sodass man stehend im Flur zu sprechen hatte. Wobei zu erwähnen wäre, dass sich das Schrillen dieser Geräte nicht abstellen ließ wie das Flöten eines Handys, sodass, wie Meyer berichtet, der Philosoph Blumenberg, zurückgezogen in einem Dorf bei Münster lebend, einmal einen Anrufer, der ihn zufällig am Apparat erwischt hatte, beschied: »… bitte stören Sie mich nicht mehr in meiner Arbeit.« Allerdings nicht am Telefon, sondern per Postkarte.
Wir hatten mit dem Sand begonnen, der uns fehlen wird, am Strand oder in der Eieruhr, die es ihrerseits kaum noch gibt. Vielleicht sollte man, sagt Bruno, mein alter Freund, ein Buch schreiben über Dinge, die uns nicht fehlen würden, wären sie weg – die aber einfach bleiben. Wann wird man uns die Grippe nehmen und die Kopfläuse? Auch die Mehrfachsteckdose ist unausrottbar, in mehreren Exemplaren unter dem Schreibtisch lungernd. Der Mücke würde ich so wenig eine Träne hinterher weinen wie der Betrugsmail aus Nigeria, und übrigens möchte ich am liebsten sofort ein Bürgerbegehren zur Abschaffung der Unfreundlichkeit unterschreiben. Und wieso werden die Raucher weniger, die Zigarettenkippen auf der Straße immer noch mehr? Klar, das Draußenrauchen ist schuld.
Wenn wir gerade bei den Zuständen auf unseren Bürgersteigen sind: Über Kaugummi würde ich gern einen Nachruf lesen, tränenreich und melancholisch, voller Jammer meinetwegen. Aber ein Nachruf.