Was bedeutet es, eine Nationalelf zu haben? Sind das nur die besten Spieler des Landes? Verbinden wir damit etwas über den Fußball hinaus?
In der Welt las ich: »Doch zum Bekenntnis, ein deutsches Trikot zu tragen, gehört mehr als das gute Spiel. Nationalspieler sind Vorbild (…)«. In der FAZ stand: »In der Nationalelf wird eine Entscheidung verlangt.« Tja. War Mario Basler ein Vorbild? Stefan Effenberg? Matthäus? Ist Beckenbauer noch eines? Oder, bitte: Hoeneß?! Oder jene Spieler, die 1978 in Argentinien nicht zur Kenntnis nehmen wollten, dass sie einem Folterregime als Staffage dienten?
Vielleicht hilft der Gedanke, dass es im Fußball um eine menschliche Sehnsucht geht: Zugehörigkeit. Der Mensch möchte in der Gemeinschaft mit anderen leben. Und er wäre gern Teil einer Geschichte, am besten einer großen, erfolgreichen. Das kann man im Fußball mit jedem Klub haben (wenn auch nicht immer groß und erfolgreich). Ein Land kann sich nur hinter der Nationalelf vereinen.
In Deutschland hat die Auswahl des DFB immer mehr bedeutet als Fußball. 1954 stand sie als Weltmeister für Wir sind wieder wer, 1990 für das wiedervereinigte Deutschland. Aber offensichtlich ist sie uns heute noch wichtiger als damals. Warum? Weil es weniger integrierende Gemeinschaften gibt? Parteien, Gewerkschaften, Vereine, die Menschen zusammenhielten, sind kraftloser geworden. Das rückt die Nationalelf ins Zentrum.
Übrigens habe ich mir ein Video angesehen: wie 1974 vor dem WM-Finale gegen die Niederlande die Nationalhymne gespielt wurde. Kein einziger Deutscher – von Maier bis Müller, von Beckenbauer bis Hoeneß – rührte eine Lippe.
Mesut Özil ist oft vorgeworfen worden, dass er nicht mitsang. Er schrieb jetzt, für manche sei er »Deutscher, wenn wir gewinnen, aber ein Einwanderer, wenn wir verlieren«. Das sagt viel darüber, wie Gemeinschaften funktionieren. Kommt einer dazu, der nicht zur Last fällt, sondern etwas beiträgt, ist er willkommen. Klappt was nicht, sucht man einen Schuldigen und nimmt gern den Neuen. Das ist ungerecht. Aber so sind Menschen nun mal. Man sollte wissen, dass sie so sind. Nur dann kann man dagegen angehen.
Wir laden dem Fußball viel auf in aufgeregten Zeiten, das sollte man so wenig vergessen wie die Tatsache, dass Mesut Özil ein schüchterner 29-Jähriger ist, der nach Jahren in Spanien nun in England lebt und ein Weltstar ist. Er fing in dem Gelsenkirchener Stadtteil, der tatsächlich Bismarck heißt, nicht mit Fußball an, weil er ein Vorbild für Integration werden wollte. Er wollte ein toller Fußballer sein. Nun ist er einer.
Aber er ist mehr, weil die Nationalelf eben mehr ist als nur eine Truppe toller Kicker. Für Erdogan ist Özil ein Werkzeug in seinen Machtspielen, und Özil lässt sich benutzen, weil auch er auf der Suche nach Identität und Zugehörigkeit ist. Schlimm – und schade, dass es so gekommen ist. Viele andere wollen ihn hier nicht dabeihaben, weil sie das Komplizierte, Uneindeutige, das mit Einwanderern und deren Kindern verbunden ist, nicht mögen. Dabei ist gerade dies das Großartige an einer Nationalelf wie unserer (oder der französischen, der belgischen, der aus der Schweiz): dass man sich für ein Ziel zusammenfinden kann und dass dabei nur zählt, was einer kann, nicht, wie er aussieht und woher er kommt.
Das Magazin 11Freunde hat über Mesut Özil geschrieben: »Wenn wir uns mal ganz einsam fühlen und uns nach Geborgenheit und Zärtlichkeit sehnen, möchten wir bitte von Mesut Özils Sohle gestreichelt werden.« Damit ist über den Fußballer Özil alles gesagt. Er ist einer der besten (und dabei fairsten) Spieler, die unser Land hatte, wenig spektakulär, oft unscheinbar, dabei ein unersetzlicher Ballverarbeiter zwischen den Linien. Özil: dieses melancholische, selbstvergessene, hingegebene Gesicht mit den stets nur halb offenen Lidern, oft nach kurzer Zeit schweißtriefend, der ganze Mann versunken ins Spiel.
Ich werde das vermissen.