Den Versuch einer Definition des Schulz-Effekts beginnt man am besten mit der Geschichte des Lazarus von Bethanien, die im Johannes-Evangelium erzählt wird. Lazarus, ein Freund Jesu, erkrankt. Jesus erfährt davon, reist zu ihm, kommt jedoch zu spät: Als er in Bethanien eintrifft, ist Lazarus bereits tot und in einer Höhle begraben. Aber Jesus lässt den Stein vom Grab entfernen und ruft: »Lazarus, komm heraus!« Worauf der Verstorbene ans Licht tritt, »seine Füße und Hände waren mit Binden umwickelt, und sein Gesicht war mit einem Schweißtuch verhüllt. Jesus sagte zu ihnen: Löst ihm die Binden und lasst ihn weggehen!« Und Lazarus lebte und ging. (Übrigens beschließen die Pharisäer dann, Jesus zu suchen, um ihn zu töten, aber das hier nur nebenbei.)
Auf diesen Text zurückgehend, ist der Lazarus-Effekt sowohl in der Physik bekannt (was uns hier nicht beschäftigen soll) als auch in der Zoologie: Dort versteht man darunter die Wiederauffindung für ausgestorben gehaltener Tierarten, zum Beispiel des Juan-Fernández-Seebärs, von dem man in den Jahren 1900 bis 1965 glaubte, es gebe ihn nicht mehr, bis man herausfand, dass die Art in einigen Höhlen auf zwei chilenischen Inseln überlebt hatte; auf den Ruf »Juan-Fernández-Seebär, komm heraus!« hin erschienen vor 52 Jahren einige Exemplare; heute erfreuen sich 12 000 dieser Tiere eines artgerechten Daseins. Ähnliches ist von der Laotischen Felsenratte zu berichten, deren einstige Existenz nur aus fossilen Funden bekannt war, bis man 2005 eines lebenden Exemplars habhaft wurde.
In Analogie dazu muss man unter dem Schulz-Effekt die Wiedererfrischung lebloser beziehungsweise im Hinwegscheiden begriffener sozialer Organismen verstehen. Wobei einige Einschränkungen zu machen sind. Erstens bezieht sich der Schulz-Effekt bisher nur auf die SPD, das ist in etwa, als sei bereits in der Bibel bei der Auferstehung Lazarus' von einem Lazarus-Effekt die Rede gewesen. Größere, übersozialdemokratische und jedenfalls übertragene Bedeutung bekäme der Begriff erst, wenn zum Beispiel die FDP durch die beharrliche Arbeit ihres Vorsitzenden Lindner wieder in den Bundestag einzöge oder Emmanuel Macron französischer Präsident würde, und man dann von einem Schulz-Effekt spräche.
Zweitens ist alles nur Theorie. Was man Schulz-Effekt zu nennen sich angewöhnt hat, ist aus Umfragen und vielleicht den steigenden Mitgliederzahlen der SPD bekannt, bei Wahlen ist das Phänomen nicht aufgetreten, und die Frage ist tatsächlich: Wenn der Schulz-Effekt von einer gewissen Frische der Erscheinung Schulzens selbst abhängt, wie erhält man diese bis September? Friert man Schulz eine Weile ein, verpackt ihn in Folie, lässt ihn etwas in Vergessenheit geraten? Um ihn im August oder Anfang September unverbraucht in den Kampf zu schicken? Jedenfalls hat schon mancher bereut, seinen Namen für politische Vorgänge zur Verfügung gestellt zu haben, Peter Hartz sei als Beispiel genannt, der den Kanzler Schröder bei dessen Arbeitsmarktreformen beriet und heute damit klarkommen muss, dass hartzen im Duden als schwaches Verb verzeichnet ist, ein Untätigkeitswort, das »von Hartz IV leben« bedeutet.
Sollte also die SPD bei der Bundestagswahl nichts Bedeutendes erreichen, könnte es sein, dass vom Schulz-Effekt plötzlich keine Rede mehr sein wird, sondern wir plötzlich ein Verbum namens schulzen kennen. Das hieße dann in etwa: »als Tiger in Würselen gesprungen und als Bettvorleger im Kanzleramt geendet«. Passierte so was öfter, würde man gar von einem Schulz'schen Gesetz reden, das entsprechend Murphy's Law (Alles, was schiefgehen kann, geht auch schief) so zu formulieren wäre: Wird vom Schulz-Effekt gesprochen, tritt er nicht ein.
Illustration: Dirk Schmidt