Das Sortiment der Eisdielen gehorchte lange Zeit einem überschaubaren System. Eine Anzahl von Früchten (Zitrone, Erdbeer, Banane etc.), Nüssen (Pistazie, Walnuss, Haselnuss) und Gewürzen (Vanille) bildete die Geschmacksreferenten für die Sorten. In den vergangenen Jahren sind zwei Dinge geschehen. Erstens führte die von Saison zu Saison voranschreitende Erweiterung des Angebots dazu, dass das Spektrum immer weiter ausgedehnt wurde: nicht nur auf exotische und abseitige Früchte wie Granatapfel, Rhabarber oder Preiselbeeren, sondern auch auf Referenten wie Desserts (Panna cotta, Tiramisu, Crème brûlée), Konditoreiwaren (Sachertorte, Apfelstrudel), Süßwaren (After Eight, Rocher) und Cocktails (Caipirinha, Piña Colada). Die Eissorten verweisen also nicht mehr allein auf Naturprodukte, sondern auf bereits vorhandene kulinarische Kreationen. Zweitens sind aber auch zunehmend Sorten auf dem Vormarsch, die überhaupt keine Geschmacksentsprechung mehr in der Wirklichkeit haben. Im aktuellen Sortiment von Berliner und Münchner Eisdielen finden sich etwa folgende Angebote: »Pokemon«, »Carribean Dream«, »Delfino«, »Delizia«, »Raver’s Dream«, »Swiss«.Was hat sich verändert? Mit der Anlehnung der Sorten an Cocktailnamen, Schokoladenriegel, Länder oder Filme tritt in den Eiscafés etwas ein, was jahrzehntelang undenkbar war: Die Eis-kugel wird zum Markenprodukt. Solange sich das Sortiment allein auf Früchte oder Nüsse bezog, gab es diese Option nicht, und genau darin bestand auch der grundsätzliche Unterschied zwischen den Kugeln in der Eisdiele und den Eis-am-Stiel-Sorten am Kiosk. Diese trugen einen an mondäne Ferienregionen erinnernden Eigennamen, hatten eine wiedererkennbare Verpackung, erschienen also in jeder Hinsicht als Produkt einer Marke (wie Langnese oder Schöller). Jene dagegen waren gewissermaßen blank, unverpackt, markenlos; es gab zwar von Eisdiele zu Eisdiele beträchtliche Geschmacksunterschiede, aber es handelte sich immer um Varianten ein und derselben Grundsubstanz. Die Sorten hatten Bezeichnungen, keine Namen. Inzwischen ist auch das Angebot der Eisdielen mehr und mehr vom Produktgedanken durchzogen, und wenn man sich fragt, woran das liegen könnte, muss man vielleicht einen Blick auf die jüngste Entwicklung des Marktes für Speiseeis werfen. Der Niedergang der traditionellen italienischen Eisdielen in den vergangenen Jahren ist bekannt; verdrängt wurden sie von den Herstellern hochverfeinerter Eiscreme für den Heimbedarf: Mövenpick, Häagen Dazs, in letzter Zeit auch Langnese mit seiner »Cremissimo«-Linie. Die-se Firmen präsentieren bloße Eissorten mit den Mitteln des Eises am Stiel: als saisonale Neuheit, als limitierte Auflage, als Marke mit klingenden Namen wie »Tre Noci« oder »Lemon & Elderberry«. Langnese brachte in diesem Frühling sogar drei neue Eissorten namens »Erste Liebe«, »Wolke Sieben« und »Süße Küsse« heraus – als Geschmacksrichtungen wohlgemerkt, nicht allein als Produktnamen. Die größeren Eisdielen und ihre Berater haben diese Tendenz natürlich erkannt und die Konsequenz wird sich auch in diesem Sommer wieder an ihrem veränderten Sortiment erweisen. Dass an die Stelle der Eissorte die Eismarke tritt, ist für die Hersteller aber mit einer bislang unbekannten Schwierigkeit verbunden. Denn es gibt keine selbstverständliche Deckung mehr zwischen Sorte und Geschmack. Erdbeer schmeckt nach Erdbeere, aber was ist mit »Aloe Vera«, »Delizia« oder »Raver’s Dream«? Wie viele Marktbefragungen musste Langnese durchführen, bis man sich sicher war, dass »Süße Küsse« vorwiegend aus Vanilleeis bestehen sollten, und das Gefühl, auf »Wolke Sieben« zu schweben, dem Geschmack von Heidelbeereis entsprach? Eines ist jedenfalls sicher: Das Sortiment der Eisdiele hat sein lange bewahrtes Stadium der Unschuld verloren, jene Zeit, in der der Name, und das, was er bezeichnen soll, noch in unmissverständlichem Verhältnis zueinander standen. Nun bestellt man auch in der Eisdiele, einem der letzten Refugien des Markenlosen, immer häufiger Sehnsüchte und Rollenzuschreibungen, und der Gaumen muss erst Übersetzungsarbeit leisten.