»Betreff: Ihr Tisch bei mir?« So geht die Geschichte los. Mit der seltsamen Betreffzeile einer E-Mail, geschrieben von dem bekannten Berliner Kunstsammler Christian Boros an den damals noch unbekannten Absolventen der Hochschule für Gestaltung in Offenbach. Es war Herbst 2009. Den Tisch, um den es in dieser Nachricht ging, hatte Boros auf einem Foto im Magazin Architectural Digest gesehen, er wollte ihn in seinen Kunstbunker stellen, zu kaufen gab es den Tisch noch nicht. Herkner war verdutzt, sagte dreimal hintereinander Ja in den Hörer. Dann hatte er nicht nur einen Auftrag, sondern auch das Gefühl, dass es mit seinem »Bell Table« etwas werden konnte. Ist ja nicht alltäglich, dass Nachwuchsdesigner Fan-Anrufe erhalten, und noch dazu von einer Geschmacksinstanz wie Boros, der schon oft Schätze entdeckt hat, wo andere nichts sahen.
Boros sah so einen Schatz in diesem Couchtisch, bei dem der Fuß aus Glas ist, eine dicke Kuppel, auf deren Krümmung eine Platte aus Metall sitzt. Die Kunst dieses Entwurfs liegt in der Formgebung und dem Willen des Erfinders, den kühlglatten Werkstoffen etwas Sinnliches abzugewinnen. Die dicke mundgeblasene Glasglocke und das weiche Messing der Tischfassung, die organische Form und die Verbindung der Materialien ohne sichtbare Konstruktion machen aus dem »Bell Table« eine Erscheinung, von der man gar nicht genau sagen könnte, welche Epoche sie hervorgebracht hat und welcher Kulturkreis. Als er die schmeichelhafte Mail von Christian Boros bekam, hatte Herkner gerade mal einen Prototyp. Er baute in den folgenden Wochen noch zwei Stück, lud sie in seinen Polo, fuhr von Offenbach nach Berlin und dann mit dem Aufzug auf das Dach des Kunstbunkers in Boros Penthouse. Dessen Frau empfing ihn mit den Worten: »Oh, hat er wieder was entdeckt?«
Er hatte. Der »Bell Table« bekam in der Folge zwei Designpreise und, was noch wichtiger ist, einen namhaften Hersteller: Die Firma ClassiCon reihte den Tisch in ihr Sortiment neben ikonische Entwürfe von Eileen Gray und Konstantin Grcic ein. Dabei ist die Produktion des »Bell Table« aufwändig. Den großen Fuß gleichzeitig fragil und stabil in Serie mundzublasen, das können nicht viele. Zum Glück fand Herkner die Firma Freiherr zu Poschinger im Bayerischen Wald, die seit 445 Jahren Spezialanfertigungen in Glas macht. Und jetzt eben das Unterteil eines Tisches, der rund um die Welt in den Magazinen zu sehen ist und trotz seines stolzen Preises von 1600 Euro »gut läuft«, wie Herkner sagt.
Er steht nun mit einem schmutzigen Neonschild in seinem Studio, gerade war der 33-Jährige, in Sakko und polierten Schuhen, auf dem Flohmarkt in Frankfurt. »Super – Internet – Cafe« ist auf dem Schild zu lesen. »Zu irre, um es stehen zu lassen. Vielleicht ist es ja mal für was gut«, sagt Herkner mit tauberfränkischem Einschlag. Den Fund sortiert er in das Schwerlastregal ein, das eine ganze Wand seines Ateliers einnimmt. Dieses Regal ist eine Art externe Festplatte, den ganzen Besuch über wird Herkner daran auf und ab gehen und Materialproben, Modelle und inspirierendes Treibgut herausnehmen. Es ist eine ganze Menge, denn der Erfolg mit dem »Bell Table« war nur der erste Schritt eines Sprints durch die Königsklasse der Designer. Körbe, Wanduhren, Sofas, Stühle und Lampen wurden bei Sebastian Herkner seitdem in Auftrag gegeben, es hagelt Auszeichnungen, er arbeitet mit legendären Labels wie Moroso zusammen und wird dort von Design-Stars wie Patricia Urquiola gefördert. Wie ging das so schnell?
»Offenbach ist aktuell im Aufbruch, und es ist schön, in einer Stadt zu arbeiten, die eine echte Handwerkstradition hat.«
Sebastian Herkner schwenkt als Antwort eine Kindersocke mit Anti-Rutsch-Noppen, was bei einem ernsten Mann besonders komisch wirkt. »Das war der Ansatz für mein erstes Sofa bei den Italienern, nur damit bin ich zu Patrizia Moroso.« Ein mutiger Auftritt, und wieder ein Erfolg. »Coat«, ein Sofa, das leicht ist und dank Noppenbesatz an der Unterseite trotzdem nicht rutscht, wenn man sich hineinfallen lässt, war der Auftakt zu einer Zusammenarbeit, die ihn heute oft eine Tagesreise nach Udine antreten lässt, es folgte eine Handvoll weiterer Aufträge. Herkners Gestaltungsphilosophie steckt in diesen kleinen Hauruck-Ideen. Eine Banalität wie die Socken oder das abgeknibbelte Flaschenhalsetikett einer Tannenzäpfle-Bierflasche nimmt er mit, denkt darauf herum, lässt sie liegen und kommt irgendwann zu ihr zurück. Werden die Entwürfe dann konkret, geraten sie meistens ein bisschen opulenter und hedonistischer, als man es vom deutschen und skandinavischen Design der vergangenen Dekade gewohnt ist.
Ein weiteres schönes Beispiel ist seine Lampe »Oda« für das junge deutsche Label Pulpo: Ein riesiger Glasballon mit opaker Eintrübung schwebt im Raum, balanciert von einem dünnen Metallgestell. Diese fantastische Leuchtboje ist nicht funktionell, nicht ökonomisch, aber eine gestalterische Kühnheit auf dem schwer belagerten Feld der Raumbeleuchtung. Herkner steht daneben und tätschelt sie mit zerstreutem Stolz, er lächelt nie, wenn er erzählt. Die Idee dafür kam ihm übrigens beim Betrachten eines Wasserturms, fotografiert von Bernd und Hilla Becher.
Aber der Erfolg hat noch andere Wurzeln. Jahrelang und schon während des Studiums ist Herkner über Messen getingelt, hat in den Nachwuchshallen seine Ideen präsentiert, Geld für die Stände zusammengespart, in Köln und Mailand eine Woche lang aus dem Auto heraus improvisiert, als Student am Rand der glamourösen Designszene. »Ich bin überzeugt, dass sich diese Präsenz und das Knüpfen von Kontakten jetzt auszahlen«, sagt Herkner und macht zum ersten Mal seit einer Stunde eine Erzählpause.
Sein zeitenthobenes Gestalten passt gut in die aktuelle Designlandschaft, in der die Firmen jedes Jahr zwei neue Kollektionen zeigen und sich die Sehgewohnheiten deshalb sehr schnell überleben. Das Auge sehnt sich nach etwas, was auf Minimalismus und Industriechic folgt. Etwas, was auch dem Sichtbeton von Bunkerwänden mit Eleganz und Schwärmerei begegnet.
Neben dem Lampenballon stapeln sich Körbe, geflochten aus einem besonderen Schilfgras. Herkner war von einer britischen Organisation für zwei Wochen nach Simbabwe eingeladen worden, um sich mit einheimischen Frauen Formen und Muster für die Körbe zu überlegen, die sie für den europäischen Markt interessant machen könnten. Er hat einen Film auf seinem Mobiltelefon, man sieht eine Gruppe Frauen in einer Dorfhütte singend um ihn herum sitzen und Körbe flechten. »Eine Woche nach der Messe in Mailand war das ein wahnsinniges Kontrastprogramm«, sagt Herkner, »aber sehr interessant und ergiebig!« Dazu macht er eine vielsagende Geste in Richtung Schwerlastregal, und man weiß: Der hat natürlich auch noch andere Ideen mitgebracht aus der Dorfhütte.
Besuche an den Orten, wo die Dinge entstehen, putschen Herkner regelrecht auf, ob bei den Glasbläsern im Bayerischen Wald oder eben in Afrika. Oder die Henkel von Tüten in Barcelona aus gedrehtem Papier! Ein ganz billiger Werkstoff ist das, den er zufällig entdeckt hat und jetzt verwendet wie Rattan: Auch die Papierschnüre werden zu bunten Körben geflochten. Er kann viel über die Eigenschaften von Materialien sprechen, und wer so gern die Disziplinen mixt wie er, muss viel darüber wissen, wie sie entstehen und welches Potenzial sie haben. Die für Möbeldesigner schon fast zum Pflichtprogramm gehörende Schreinerausbildung ließ er aus, stattdessen war er ein Jahr bei Stella McCartney in London: Fashion statt Fichte. »Das war eine Zeit, in der ich viel über die Wichtigkeit von Details und akribischer Arbeit an den Feinheiten gelernt habe.«
Dann will er einen Spaziergang machen, durch Offenbach, das gar nicht so übel sei, wie er vorsichthalber versichert. Okay, direkt nebenan ist ein Boxcamp für Problemjugendliche, und ein paar Meter weiter ist der Mülleimer explodiert. Trotzdem. »Offenbach ist aktuell im Aufbruch, und es ist schön, in einer Stadt zu arbeiten, die eine echte Handwerkstradition hat.« Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Offenbach die Hauptstadt der Lederverarbeitung, und deshalb freut sich Sebastian Herkner, dass er für die italienische Firma Gervasoni gerade einen Stuhl namens »Unam« entworfen hat, der die klassische Bugholztechnik mit einem speziellen breiten Ledergeflecht in Popfarben verbindet. Das sei doch eine schöne Reverenz an seine Wirkungsstätte, nicht wahr, sagt er und strahlt, zum ersten Mal. Dann kommt der Bahnhof. »Nicht hinschauen!«, ruft Herkner.
Fotos: Ramon Haindl