Die Gewissensfrage

Muss ich dem Zimmermädchen Trinkgeld geben, wenn ich beruflich auf Reisen bin?

»Privat reise ich gern und gebe auch immer Trinkgeld für den Zimmerservice, weil ich davon ausgehe, dass das Servicepersonal zu wenig verdient und auf Aufstockung durch Gäste angewiesen ist. Wenn ich beruflich im Hotel übernachte, zögere ich: Schließlich dient die Reise nicht meinem Vergnügen, und mein Arbeitgeber legt für das Trinkgeld keinen Cent mehr in die Reisekasse. Wäre es trotzdem moralisch geboten, das geringe Gehalt des Zimmerservice durch mein Trinkgeld aufzubessern?« Udo B., Kiel.

Ihr Ausgangspunkt ist ein Missstand, der zu denken gibt: dass das Personal in Hotels und Gaststätten ohne Trinkgeld nicht ausreichend entlohnt wird. Insofern Trinkgeldgaben dieses System festigen, sind sie, ganz gegen ihren äußeren Anschein, im Kern unsozial. Deshalb gab es immer wieder Versuche, das Trinkgeldgeben zu unterbinden, um die soziale Lage der Angestellten zu verbessern; so formierte sich etwa, neben wiederholten gesetzlichen Verboten in verschiedenen Ländern, in Hamburg Anfang des 20. Jahrhunderts die »Anti-Trinkgeld-Liga«, die 1902 schrieb: »Das Trinkgeld ist schuld daran, dass die … Hotelangestellten wie Citronen ausgepresst werden …«

Mit Ihrer Feststellung, zwar auf Privatreisen gern Trinkgeld zu geben, bei dienstlichen Reisen aber zu zögern, zeigen Sie einen weiteren Aspekt des Trinkgelds auf, der oft übersehen wird: den soziologischen. Trinkgelder haben auch abgrenzende Funktion und sind als Gabe zugleich, in den Worten des französischen Philosophen Paul Ricœur, Unterpfand und Substitut der Anerkennung. Auf Ihren Reisen nehmen Sie zwar dienstlich wie privat die Dienstleistung der Zimmersäuberung in Anspruch, tun dies aber in unterschiedlichen Rollen.

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Der Gießener Historiker Winfried Speitkamp beschreibt in seiner Kleinen Geschichte des Trinkgeldes unter dem Titel Der Rest ist für Sie!, wie das Trinkgeld neben seiner finanziellen Bedeutung zuvorderst der Statusabgrenzung diente und dient, hart ausgedrückt der Unterscheidung zwischen Herr und Knecht. Durch die Gabe des Trinkgelds kann der Gast seine Rolle als Herr ausdrücken und festigen. Nachdem im 20. Jahrhundert die Standesgrenzen geringer wurden, änderte das Trinkgeld seine Bedeutung: »Die Milieus lösten sich auf, der Kellner bewegte sich de facto im selben soziologischen Milieu wie der Gast. Daher wollte sich der Gast wenigstens in der Ausnahmesituation des Reisens, im Hotel und in der Gaststätte, also jenseits des Alltags, buchstäblich in Feierlaune, als Herr fühlen. Trinkgeld war eine bescheidene Vorführung von Überschuss und Luxus.«

Diese Zusammenhänge erleichtern die Entscheidung: Wenn es Ihnen beim Trinkgeld weniger darum geht, Ihren Status auszudrücken, sondern Sie etwas geben, weil Sie der Meinung sind, dass das Servicepersonal zu wenig verdient, gilt dies bei dienstlichen Reisen wie privaten Reisen gleichermaßen, und Sie sollten somit auch gleichermaßen Trinkgeld geben.
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Quellen:

Winfried Speitkamp, Der Rest ist für Sie! Kleine Geschichte des Trinkgeldes. Reclam Verlag, Stuttgart 2008.

Paul Ricœur, Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein, Frankfurt am Main 2006, S. 319-325.

Illustration: Marc Herold