Das Problem: Viele frisch aus dem Gefängnis Entlassene haben Schwierigkeiten, eine Wohnung zu finden, vor allem nach langer Haft.
Die Lösung: Eine Initiative namens »Homecoming Project« im kalifornischen Oakland vermittelt Ex-Häftlingen Zimmer bei privaten Gastgebern.
Als die US-Amerikanerin London Croudy, 32, nach mehr als acht Jahren aus dem Gefängnis freikommt, weiß sie nicht wohin. Zu ihrer Familie in New Jersey hat sie kaum Kontakt, und zu den ehemaligen Freunden, die sie wegen Heroinbesitz ins Gefängnis brachten, will sie nicht. »Ich hatte kein Auto, hatte Angst, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren und war mir überhaupt unsicher, wie ich mich wieder eingliedern kann.«
Wer die zierliche, selbstbewusste und nach eigener Aussage sehr spirituelle Frau heute in einem schmucken Reihenhaus im kalifornischen Oakland vor ihrem blauen Buddhagemälde sitzen sieht, kann sich kaum vorstellen, dass sie dieselbe Person ist, die vor acht Jahren »wegen des Plans, Heroin weiterzugeben« in New Jersey eingebuchtet wurde. »Ich war total auf dem falschen Weg, wog 100 Kilo, und suchte das schnelle Party-Leben.«
Auf einer Informationsveranstaltung für frisch Entlassene lernte sie Sabina Crocette kennen, eine mütterlich wirkende Rechtsanwältin. »Sabina war unglaublich«, sagt Croudy. »Sie fuhr mich in die Übergangsunterkunft, weil ich kein Auto hatte, lud mich zum Essen ein, weil ich kein Geld hatte, und als ich sie später fragte, ob sie jemanden kennt, der ein Zimmer frei hat, guckte sie mich so komisch an und sagte: ›Das passt jetzt vielleicht gerade. Hast du schon vom Homecoming Project gehört? Ich habe nämlich ein kleines Gästezimmer.‹«
Als »Air BnB für Verbrecher« versteht sich das Homecoming Project in Alameda County. Es ist ein Pilotprojekt, das eine enorme Lücke füllt: In den USA landen etwa ein Viertel der Ex-Häftlinge auf der Straße. Zum einen weil sie sich die teuren Mieten nicht leisten können und zweitens, weil sich die Wohnungsbesitzer im boomenden Wohnungsmarkt die Mieter meist unter Hunderten von Bewerbern aussuchen können. Wer will dann den ehemaligen Junkie im Haus? Aber wenn Ex-Häftlinge auf der Straße landen, steigen die Rückfallquoten. Das ist übrigens nicht nur ein kalifornisches oder amerikanisches, sondern ein internationales Problem und in Deutschland kaum anders.
Auch bei uns gibt es außer Übergangsheimen und Notunterkünften wenig funktionierende Angebote, die ehemalige Häftlinge gut in die Gemeinschaft integrieren. Was am meisten hilft: ein stabiles Umfeld, eine Unterkunft, ein Job und gegebenenfalls Hilfe bei der Suchtbewältigung.
Deshalb betätigt sich die gemeinnützige Initiative Impact Justice in Oakland seit einem Jahr als Vermittlungsplattform für Gastfamilien und (ehemals) kriminelle Wohnungssuchende. Es geht allerdings um viel mehr als nur um einen Platz zum Schlafen: »Viele Teilnehmer müssen sich nach der Haft erst wieder zurechtfinden und in die Gemeinschaft integrieren«, sagt Terah Lawyer, 36, die das Programm organisiert. »Wie funktioniert ein iPhone? Wie lerne ich kochen? Manche haben nie gelernt, für sich zu kochen oder Teil einer funktionierenden Familie zu sein. Es ist wichtig für sie, Tag für Tag im Alltag integriert zu sein.« Bisher hat das Homecoming Project 15 Ex-Häftlinge vermittelt, und, so berichtet Lawyer stolz, »jedes Match hat funktioniert. Keiner wurde rückfällig, keiner zog aus, alle haben Arbeit, es gab keine Beschwerden. Denn wir nehmen uns enorm viel Zeit, beide Seiten ausführlich zu befragen, damit Gast und Gastgeber wirklich gut zusammen passen.« Weil allein in Amerika jedes Jahr 600.000 Häftlinge aus dem Gefängnis kommen, hofft Lawyer, dass Gemeinden im ganzen Land das Modellprojekt nachmachen.
Dabei hatte ausgerechnet Sabina Crocette, die Rechtsanwältin, negative Erfahrungen damit gemacht, dass sie Klienten mit zu sich nach Hause nahm. Sie arbeitete viele Jahre als gutverdienende Steueranwältin und kaufte sich von dem Geld 2005 ihr schmuckes Reihenhäuschen in Oakland mit dem großen »Welcome«-Schild auf der feuerroten Haustür. Dann sattelte sie um und begleitet nun seit gut zehn Jahren als Anwältin Häftlinge bei den Anträgen, auf Bewährung freizukommen. »Das ist finanziell nicht lukrativ«, sagt sie, »aber persönlich bereichernd.« Es kam früher schon vor, dass sie mal kurzfristig Klienten bei sich wohnen ließ. »Ich sehe es einfach als meine Aufgabe an, diesen Menschen zu helfen.« Aber ein Klient hatte auch ein Suchtproblem, von dem Crocette nichts ahnte. »Als meine Tochter im Krankenhaus war, wusste er, dass gerade niemand zuhause war, und er stahl Bargeld von meiner Tochter.«
Deshalb war ihre 21 Jahre alte Tochter dagegen, als Crocette mit der Idee ankam, Croudy aufzunehmen: »Nein! Hast du vergessen, was uns letztes Jahr passiert ist?« Crocette lacht. »Ich habe dann gesagt, lerne London doch erstmal kennen, bevor du nein sagst, ihr werdet euch blendend verstehen. Und so kam es dann auch.«
Das Homecoming Project unterzieht sowohl die Gastgeber als auch die potenziellen Hausgäste einem ausführlichen Bewerbungsprozess und bezahlt nach der Schlüsselübergabe pauschal 775 Dollar Monatsmiete für sechs Monate. Es bietet Workshops für Gastgeber und Gäste an und schickt regelmäßig Sozialarbeiter als »Navigatoren« vorbei, die sich darum kümmern, dass die ungewöhnliche Wohngemeinschaft rundläuft.
»Sie haben mich wirklich sehr unterstützt«, sagt Crocette. »Nach zehn Jahren in dieser Arbeit bin ich etwas mitgefühls-müde. Die Botschafter bieten Hilfe an, und besonders gut war für mich ein Workshop, in dem es um Selfcare ging, denn vor lauter Sorge um die anderen vergesse ich gerne, mich auch um mich selbst zu kümmern.«
Die meisten Gastfamilien nehmen teil, weil sie sich wie Crocette ohnehin für die Wiedereingliederung und gegen die Stigmatisierung von Ex-Häftlingen engagieren. Ihre Tochter ist mittlerweile ausgezogen, aber Crocette hat den Mietvertrag mit Croudy auf eigene Faust verlängert, nachdem die sechs Monate mit dem Homecoming Project vorbei waren. »Statt der 775 Dollar verlange ich 650 Dollar im Monat, damit sie sich was zurücklegen kann. Wir haben uns auf zwei Jahre geeinigt.« Zwei Jahre lang, das hat Crocette beobachtet, braucht ein Mensch sichere Rahmenbedingungen, um eine neue Existenz planen zu können.
»Nochmal von vorne anzufangen ist ein körperlicher und emotionaler Kampf«, bestätigt Croudy. Sie fand einen Job bei einer gemeinnnützigen Initiative, die Ex-Häftlinge berät und hat eine Videoserie namens »Starting Over With London« auf YouTube und Instagram begonnen, um anderen Frauen in ähnlichen Situationen zu helfen.
Was fehlt: mehr Gastgeber. Das Homecoming Project hat eine Warteliste von über 100 Ex-Häftlingen, aber nur 20 Gastgeber. »Wir nehmen diejenigen als erstes, die obdachlos sind«, sagt Terah Lawyer, „diejenigen, die viele Jahre einsassen und von denen wir mit gutem Gewissen sagen können: Wir glauben, dass sie mitziehen und die Regeln befolgen.« Crocette will ihre Nachbarn und Freunde zum Mitmachen auffordern: »Ich kann nur einen Menschen aufnehmen, aber der Bedarf ist unendlich.« Unter anderem fördert die private Stanford Universität das Projekt, und Lawyer hofft, dass sie das Programm durch einen kürzlich abgeschlossenen Vertrag über 300.000 Dollar mit der kalifornischen Regierung ausweiten kann.
Lawyer saß selbst 15 Jahre lang im Gefängnis, und zwar wegen Beihilfe zu einem Mord. Sie hat zwar selbst niemanden verletzt, allerdings mitgeholfen, einen Mord zu vertuschen. Die herzliche, lebensfrohe Afroamerikanerin kennt die Schwierigkeiten, nach einer so langen Haftstrafe wieder Fuß zu fassen, aus eigener Erfahrung: »Ich landete in einem Übergangsheim, wo es fast wie im Gefängnis zuging. Ich war dankbar, dass ich einen Platz zum Schlafen hatte, aber ich durfte drei Monate lang nicht arbeiten und musste ein Drogenrehabilitationsprogramm absolvieren, obwohl ich nie mit Drogen zu tun hatte und selbst ausgebildete Suchtberaterin bin. Ich hätte diese Kurse leiten können!«
Das Homecoming Project ist gut organisiert, aber auch für die Gemeinde wesentlich kostengünstiger als die Alternativen für Ex-Häftlinge, die kein stabiles Umfeld haben: Obdachlosigkeit, Rückfall, oder die Unterbringung in den unbeliebten Übergangsheimen. Diese Übergangsheime werden in Amerika oft von den gleichen profitorientierten Privatunternehmen geleitet, die auch die Gefängnisse betreiben. Croudy bestätigt, wie sehr auch sie das Übergangsheim hasste: »Ich durfte nur an einem Tag in der Woche raus, man schläft in Stockbetten. Ich war dankbar, einen Platz zum Schlafen zu haben, aber das ist nur eine Stufe über dem Gefängnis. So findet man nicht zurück ins Leben.«
Crocette wollte unbedingt, dass Croudy noch vor Weihnachten 2018 bei ihr einzog, »damit sie Weihnachten zuhause verbringen kann«. Nun, nach einem Jahr Zusammenleben wirken Crocette und Croudy wie Mutter und Tochter. Croudy gibt Crocette Schönheits- und Ernährungstipps, und Crocette klopft stolz auf ihre Oberschenkel, die in neuen Jeans stecken: »London hilft mir bei meiner Diät, ich habe gerade vier Kilo abgenommen!«
Fragt man Crocette, was sie als größte Herausforderung empfindet, sagt sie, es habe eine Weile gedauert, die richtige Balance zu finden: »Ich will für sie da sein, aber sie nicht bemuttern. Anfangs wusste ich nicht, wie ich sie meinen Freunden vorstellen sollte – als Mieterin? Mitbewohnerin? Als neues Familienmitglied?«
Inzwischen haben sie das richtige Wort gefunden: »Wir sind Freunde.«