Das kulinarische Manifest

Dieser Mann heißt Thierry Marx, stammt aus einem Pariser Arbeiterbezirk und revolutioniert die französische Küche.

Ausgerechnet Marx heißt er, Thierry Marx, die größte Hoffnung für die Zukunft der französischen Küche. Dieses Jahr ist er vom Gault-Millau-Führer zum Koch des Jahres gewählt worden.

Er sieht nicht so aus, wie ein französischer Küchenchef auszusehen hat. Keine Haube. Die braucht er nicht, weil er eine Glatze hat, ratzekahl wie ein Skin. Und in der Freizeit trägt er eine Baseballkappe, keine Baskenmütze, auch keinen savoyardischen Alpenhut wie der Kollege Veyrat, sondern eine Baseballkappe wie die Jugendlichen in den Vorstädten, die gelegentlich Autos anzünden.

Von dort kommt Marx ja auch. Nicht aus Vaters Restaurant, wie die meisten der großen französischen Köche. Nicht einmal aus der Hotelfachschule. Seine Kindheit hat er in Ménilmontand verbracht. Ménilmontand war einmal ein Arbeiterviertel im Pariser Norden, bis die Arbeiter in die gigantischen Vorstadtsiedlungen verdrängt wurden. Wie auch Marx. Er war ein schlech-ter Schüler in den Betonghettos von Champigny vor den Toren von Paris. Keine gute Sozialprognose für den jungen Mann. Schon längst nicht die, dass Thierry Marx einmal eine Hoffnung darstellen würde für die so traditionelle, so erzfranzösische Zunft der Köche.

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Als Schule diente die Armee. Mit 18 wurde Marx Marineinfanterist und kämpfte im Libanon, damals im Bürgerkrieg. Er spricht nicht gern darüber. »Eine dunkle Periode meines Lebens.« Die Küche, das gemeinsame Essen, das ist das Gegenteil von Krieg. Gemeinsam um einen Tisch statt gegeneinander im Straßenkampf. Leben und Genuss statt Tod.

Dabei ist er nicht laut. Viele Küchenchefs, die meisten, brüllen in der Küche. Sie meinen, es gehe nicht anders. Wie bei der Armee. Marx, der sich auskennt bei der Armee, brüllt nicht.

Ein Kämpfer ist er geblieben, dieser bullige Mann mit dem Kopf direkt auf den Schultern und dem massigen, aber nicht fetten Körper. Man würde ihn sofort einstellen, hätte man einen Job als Türsteher einer Diskothek zu vergeben. Übrigens war er das, Wachmann. Als die künftigen Kollegen schon Möhren schnitzten, bewachte er Geldtransporte. Was man eben so wird, wenn man nichts gelernt hat außer Schießen und Karate, schwarzer Gürtel, dritter Dan.

Der Großvater hat ihn schließlich zu einer Ausbildung als Koch gebracht. Gelernt hat er bei den »Compagnons«, einer Art Handwerksgesellenorden. Erst dann arbeitete er in großen Häusern wie dem »Taillevent« oder bei Alain Chapel in Lyon, beide heute eher traditionell und gar nicht modisch.

Die Chance für den Mann, der nichts hatte, kein Erbe, keine Tradition und keine einflussreichen Lehrer, kam 1996, als Jean-Michel Cazes einen Koch für sein Restaurant im Médoc suchte, in Cordeillan-Bages. Das liegt bei Bordeaux, im heili-gen Weinland des Pauillac. Cazes hat einen guten Namen in dieser geschlossenen Welt der alten Weinhändler. Das Château Lynch-Bages gehört ihm. Und das Gut von Ormes de Pez in Saint Estèphe. Auch im Minervois hat er Weinberge und in Portugal und in Ungarn. Das Restaurant »Le Chapon fin«, wo man in Bordeaux isst, wenn man richtig große Geschäfte gemacht hat, das besitzt er auch. 1989 dann hat Jean-Michel Cazes das Kartäuserkloster von Cordeillan-Bages gekauft, eines dieser weitläufigen, Ehrwürdigkeit ausstrahlenden Gebäude aus weißem Stein und roten Ziegeln, an denen Frankreich so reich ist. Cazes hat es renovieren lassen und zu einem dezenten ländlichen Luxushotel gemacht. Aber er ist auch einer der wenigen, der um die Gefahr von so viel Tradition weiß: die Gefahr, in Schönheit zu sterben. In den Pariser Vorstädten kann man nicht in Schönheit sterben, dort muss man kämpfen. Vielleicht hat Cazes sich das gedacht, als er Marx in seine Küche stellte.
Cazes sammelt moderne Kunst. Tàpies, Alechinsky, nicht diese drittklassigen Landschaften oder Stillleben, die man sonst gern in französischen Spitzenrestaurants an die Wand hängt.

So ist denn auch das Restaurant von Marx in der Kartause von Cazes keines dieser mit protzigen Antiquitäten aller Stile vollgestopften Wohnzimmer, die französische Gäste gern für nobel halten. Dunkler Boden, dunkle, bequeme Stühle, helle Wände, weiß eingedeckte Tische, viel Licht, viel Platz für höchstens fünfzig Gäste, wenig Dekoration. Die Kellner ganz in Schwarz, als seien sie von Yamamoto eingekleidet, die Köche natürlich ganz in Weiß. Kein Schnickschnack, keine Weinfolklore. Man ahnt: Auch in der Küche wird es nicht bodenständig zugehen. »Terroir«, dieses viel strapazierte Zauberwort der letzten Jahrzehnte, ist hier nach draußen verwiesen. Draußen gibt es reichlich Ländliches. Drinnen nicht. Drinnen ist es weltläufig. Küchen aller Länder, vereinigt euch.

Vor allem mit der japanischen: Japan ist überall präsent. Das geht vom Kampfsport über die Innenarchitektur, die Kleidung der Kellner bis zu den Präsentiertellern. In der Küche arbeiten drei japanische Köche. Kein Wunder, Marx verbringt mehrere Monate im Jahr in Japan, gibt dort Unterricht, vor allem aber lässt er sich unterrichten. Nicht nur von den japanischen Großköchen. Er streunt auch durch die Viertel und schaut, was die Straßenrestaurants da Erstaunliches anbieten. Er klaut überall. Die Idee, dass es in der Küche schützenswertes geistiges Eigentum gebe, macht ihn lachen: »Rezepte klauen, was heißt denn das?« Respektiert wird Stärke, Intensität, nicht Eigentum und Urheberrecht. Er kommt eben aus den Vorstädten. »Man braucht wenig zum Leben. Ein Futon und ein paar Bücher, das reicht schon.«

Aber das Restaurant in der Kartause ist kein japanisches Restaurant. Da kocht ein Koch, der sich auf der Welt zusammensucht, was er brauchen kann. Und was er brauchen kann, das nimmt er sich und macht es sich zu eigen. Auch das, was aus der fran-zösischen Tradition kommt. Er lernt von ihr, aber er respektiert sie nicht. Vielleicht funktioniert die kulinarische Weltläufigkeit in Frankreich besser als sonst in Europa. In Frankreich gibt es eine Tradition, die verhindert, dass alles in Beliebigkeit und Imitation auseinanderfällt.

Die Nouvelle Cuisine war einst angetreten mit dem Programm, die Produkte müssten respektiert, ihrer Natur entsprechend zubereitet werden. Marx ist auch dieser Respekt fremd. »Dekonstruieren und rekonstruieren« nennt er als Prinzip seiner Arbeit. Ob er wirklich Derrida gelesen hat, darauf kommt es nicht an. Aber er hat ihm einen Schlüsselsatz seiner Philosophie gestohlen, jener Philosophie, die auf beiden Seiten des Atlantiks nicht nur die große philosophische Mode der letzten zwanzig Jahre war, sondern auch in viele Künste ausgestrahlt hat. Die Produkte erscheinen bei Marx verwandelt. Der Gast sieht ihnen nicht an, wie sie schmecken werden. Zum Beispiel das Gepresste von geräuchertem Aal »Land und Mündung«. Man denkt, wenn man den Teller anschaut, eher an Schokoladenkuchen als an Aal, und es schmeckt dann, sehr ungewöhnlich, aber nicht befremdlich, nach geräuchertem Fisch (Meer) und Gänseleber (Land). Die vielfarbigen Flüssigkeiten in einer transparenten Hülle, die nach Bratwurst aussieht, wird mit den Augen niemand als flüssigen Hasen mit Linsen identifizieren. In der kunstvollen Spaghettikugel wird niemand Kalbsbries vermuten. Da herrscht Lust am Spiel, Lust an der Verblüffung und am Augenschmaus. Und schön sieht es aus. So weit, wie man seit hundert Jahren in den anderen Künsten gehen kann, geht auch hier die Kunst nicht. Schockieren darf das Essen, verblüffen auch, aber es darf nicht hässlich sein. Und nichts ist hässlich, nichts ist banal, aber auch nur weniges sieht natürlich aus, was aus der Küche von Thierry Marx kommt.

Keine Angst vor niemand, kein Respekt vor nichts – außer vor den Gästen und ihrem Urteil. Marx weiß, dass die Gäste so schnell fernbleiben, wie sie gekommen sind, wenn man ihnen nur die Eitelkeit des Kochs auftischt, wenn die Idee nur neu ist, aber nicht gut, nur originell, aber nicht durchgearbeitet. Sein Sonntagsmenü heißt »Menu Créa«, wie Création. Da werden neue Gerichte vorgestellt. Das Menü kostet 60 Euro. Alle sind aufgefordert, eine kleine schriftliche Kritik zu hinterlassen. Einer pro Vierertisch isst dafür umsonst.

Marx’ Küche lässt an Ferran Adriàs »El Bulli« denken, an jenen spanischen Meisterkoch, der in den letzten Jahren die französischen Chefs so alt aussehen ließ, an eine Küche, die den Materialien die Substanz raubt, sie konzentriert, umformt und neu kombiniert, wie es der Natur und den Vorfahren nie eingefallen ist. An eine Küche, die im Labor entworfen wird. Marx verhehlt nicht seine Bewunderung für die neue spanische Küche, ihren Sinn für das Spektakuläre. Er teilt die Lust an der Alchimie. Häufig sieht er sich im nahen San Sebastián um. Aber wie im »El Bulli« sieht es auf seinen Tellern nicht aus und so schmeckt es auch nicht. Thierry Marx war nie ein guter Schüler. Trotzdem ist er ein Meister geworden.