Wenn es heute – selten, aber immer mal wieder – in meinem Münchner Mietshaus nach Braten duftet, wenn durch die Türen und Briefschlitze eines der älteren Nachbarn das Amalgam von Sellerie, Zwiebeln und schmorendem Fett dringt, katapultiert mich das zurück: In der ARD läuft der Presseclub, Papa kommt vom Frühschoppen, etwas zu spät, aber prächtig aufgelegt. Augenrollen bei den Frauen. Dann: feierliches Hereintragen des Bratens (Schweine-, Sauer- oder Kalbsroll-). Zum Nachtisch: Erdbeeren mit Sahne aus dickwandigen Glas-Schüsselchen. Danach ist der Tag natürlich gelaufen. Von da an gleiten alle nur noch sachte in den Montag.
In meinem westdeutschen, katholisch geprägten Leben verlor der Sonntagsbraten etwa ab 2001, als ich auszog, an Bedeutung, in anderen deutschen Realitäten gab es ihn nie. Heute gilt er als kulinarischer Dinosaurier, er ist auch schon fast ausgestorben, und mit ihm der Gottesdienst als kollektives Ritual, der Frühschoppen, mit dem Essen wartende Frauen sowie Mahlzeiten, die so schwer sind, dass man danach zu nichts mehr in der Lage ist. Auch auf dem absteigenden Ast: Fleisch als Fixstern eines jeden Essens, die Notwendigkeit einer »Sättigungsbeilage«, überhaupt dieses degradierende Wort: Beilage. Deutschland hat sich verändert, ist durchmischter geworden, moderner, säkularer, der Bedeutungsverlust des Sonntagsbratens erfolgte parallel.
Ich frage mich: Mag ich Sonntagsbraten? Oder mag ich ihn nur, weil er mich an früher erinnert? »Beides, also Erinnerungen und Wohlfühlen, spielt eine große Rolle dabei, ob einem etwas schmeckt«, sagte Maik Behrens vom Leibniz-Institut für Lebensmittel-Systembiologie an der TU München kürzlich in einem Interview mit dem SZ-Magazin. Man kann sagen: Nicht nur das Auge, auch die Erinnerung isst mit. Das ist der Grund, warum im Supermarkt Produkte von »Bonne Maman« oder Leberwurst »Großmutters Art« verkauft werden – Marketingstrategien machen sich die Sehnsucht nach den Gerichten der Kindheit zunutze: Je häufiger ein Kind mit bestimmten Gerichten in Kontakt gekommen ist (sofern dieser Erstkontakt nicht ganz schrecklich war), desto wahrscheinlicher ist, dass es später eine Präferenz dafür entwickelt. Man spricht vom Mere-Exposure-Effekt, dem Effekt des schieren Ausgesetztseins.
Was wird der Sonntagsbraten der Generation TikTok sein? Vegane Bowls, Shakshuka, Linsencurry? Wird diese Gesellschaft in zwei, drei Jahrzehnten überhaupt noch mehrheitlich Fleisch essen? Und wenn, dann sonntags? Aber ob es dann ein mächtiger Braten ist? Auch der Sonntag hat sich ja verändert: Am Wochenende gilt es, »den Akku aufzuladen«, aber nicht durch Fresskoma und Rumliegen, sondern durch Erlebnisse und Aktivität. Da hat man endlich Zeit für Yoga. Wandern. E-Bike-Touren. Freunde treffen.
Ich gehe sonntags tatsächlich noch manchmal in die Kirche, aber oft auch extra lange joggen. Nach beidem steige ich aufgeräumt und zufrieden die Stufen zu meiner Wohnung hinauf, und wenn ich Glück habe, hat einer der Nachbarn einen Braten im Rohr. Hey, Raumduftbranche: Geruchsstäbchen »Sunday Roast«, das wär’s doch! Ich fürchte, ich würde sie kaufen.