Und dann geht die Tür auf und siebzehn Männer in schneeweißen Smokings mit Tigerschwänzen am Po fangen zu tanzen an, und eins, und zwei, die Trommeln setzen ein, und drei, und vier, die Trompeten, Posaunen, Tubas, dann stürzen sie sich mit wirbelnden Schirmen auf den Jungen, Geschmeide aus Glasperlen um seinen Hals schlingend.
»Als ich hörte, er soll zum Mardi Gras – auf gar keinen Fall«, sagt die Mutter. Sie heißt Heidi.
»Na ja, er verliert seine Sehkraft. Zeit für Ausnahmen«, sagt der Vater. Er heißt Kit.
Noch eine Federboa, noch ein Teddybär, die ehrenwerte Bruderschaft der Selucrey Sophistocats hatte versprochen, den Jungen wie einen König willkommen zu heißen, und bei Gott, sie halten Wort – Blaskapelle, Tanztruppe, Bürgermeister, Stadtschlüssel; wäre der Vater nicht eingeschritten, sie hätten die Verstärker ihres Lautsprecherwagens vorgeglüht und das Kind ihren Bass kosten lassen.
»Er genießt das, glaube ich – für ihn ist es, sagen wir: ein Jahr wundervoller Wahnsinn«, sagt die Mutter.
»Das ist der Plan: Wir wollen ihm so viele visuelle Erinnerungen geben wie möglich«, sagt der Vater.
Der Junge ist zehn Jahre alt, er lebt in Texas. Sein Name ist Ben Pierce, aber in Amerika nennen sie ihn nur the boy going blind – den Jungen, der erblindet. Ben kam vier Monate zu früh auf die Welt, hart an der Grenze, an der ein Leben gerettet werden kann. So extreme Frühgeburten besitzen keine voll ausgereifte Lunge, sie müssen sofort beatmet werden. Der Sauerstoff, den Ben bekam, griff seine Netzhaut an: Auch die Augen eines Frühchens sind nicht ausgereift, und Sauerstoff hemmt diese Reifung. In früheren Zeiten erblindeten deswegen viele Frühchen. Bei Bens Geburt war die Medizin so weit, dass seine Augen eine Chance hatten.
»Seine erste Brille hat er bekommen, da war er ein Jahr alt. War eine Stunde später zerbrochen«, sagt die Mutter.
Bis er zwei war, erledigte Ben 47 Brillen. Aber er sah.
Die Frage war, wie lange noch. Die Ärzte hatten Furcht, seine Netzhaut könnte sich ablösen, vielleicht in einem Monat, vielleicht in einem Jahr. Sicher war, dass seine Sicht schlechter würde, solange sein Körper wuchs: Seine Netzhaut war voller Narben, eine Folge der Operation, die ihm nach der Geburt das Augenlicht gerettet hatte. Diese Narben veränderten seine Sicht. Sein Sinn für Farben und Tiefe schwand Schritt für Schritt, sein Gesichtsfeld schrumpfte. Die Ärzte empfahlen den Eltern, Ben so viel zu sehen zu geben, wie sie konnten.
Die Eltern hörten kaum hin. Ben ging es endlich gut, außerdem hatten Heidi und Kit zwei ältere Kinder, dazu ein jüngeres, gerade auf die Welt gekommen, immer viel zu tun, immer viel zu merken, irgendwie rutschte ihnen der Ratschlag durch. Im Alltag war von Bens Sehschwäche wenig zu bemerken: Sein Gehirn füllte Eindrücke, die seine Netzhaut nicht mehr lieferte, auf. Seine schlechte Sicht für Räume machte sich erst bemerkbar, als er in Geschwister rannte, die neben ihm standen. Nach einem Augentest im August 2013, Ben war acht Jahre alt, bekamen die Eltern einen Bescheid: Vor dem Gesetz galt Ben ab sofort als blind.
»Heidi hat die Nachricht gar nicht gut aufgenommen. Ich dachte: Ist ja Ben. Ben findet immer seinen Weg«, sagt der Vater.
Nun erinnerten sich die Eltern an den Ratschlag von einst. Sie stellten ihrem Sohn die Frage: Wenn du angucken könntest, was du willst – was würdest du sehen wollen?
Ben schrieb und malte seine Wünsche auf. Ein Wasserturm von innen. Legoland. Schnorcheln. Eine Spielzeugfabrik. Und eine für Süßigkeiten. Und eine für Eiscreme. Kreide durch ein Mikroskop. Das Nordlicht. Eine Herde Pferde. Die Bodenstation eines Raumschiffs. Die Oper. Das Skelett eines Dinosauriers. Eine Höhle. Bunte Bilder im Museum. Einen Ara streicheln, und einen Pinguin,
und vielleicht einen Hai. Harry-Potter-World. Die Werkstatt eines
Buchbinders. Einen Computerladen. Wellen bei Flut. Die Bäckerei, wo die guten Kuchen herkommen. Und die Chinesische Mauer, die Pyramiden, den Grand Canyon, die Sixtinische Kapelle, einen deutschen Christkindlmarkt, das Weiße Haus, Las Vegas, die Sahara, den Eiffelturm, den Südpol (aber Nordpol geht auch) und selbstverständlich Big Ben.
Und Mardi Gras, den Karneval in Louisiana.
»Heidi hatte ihr Veto eingelegt, aber die guten Leute der Stadt Houma haben gesagt: Kommt nicht in Frage, den Karneval wegzulassen – wir laden euch ein«, sagt Kit, der Vater.
Es ist 14 Uhr, alle Bars sind offen, alle Getränke frei, der Karnevalsverein der Krewe of Morpheus feiert sich in einer Großraumdisco am Mississippi für seine Parade warm, 500 Mann, 21 Festwagen, ein Prinzenpaar. Ben ist ihr Ehrengast. Sie haben ihm ein blinkendes Glitzerkleid mit Zipfelmütze geschenkt, damit er aussieht wie alle hier, und jetzt schieben sie ihn auf die Bühne, Ladies and Gentlemen, Mr. Ben Pierce! Es ist grell. Es ist laut. Es ist heiß. Ben duckt sich an seinen Vater, als ihn der Prinz, seine Tollität William Moore III. von Morpheus, zum Großmarschall ernennt.
»Klar habe ich da meine Zweifel. Ich bin sein Vater. Welcher Vater hätte da keine Zweifel?«, sagt Kit, der nie in seinem Leben einen Tropfen Alkohol trank. Er ist Mormone.
23 Uhr. Keine fünf Grad kalt. Die Krewe of Hermes kam als Erstes an der Ehrentribüne an, 29 Festwagen, dann Le Krewe d’Etat, 23 Festwagen, dazu Nationalgarde, Polizei, Feuerwehr, drei Dutzend Blaskapellen, und dann hatte irgendwo irgendein Schleppwagen einen Schaden, und seitdem sitzt Ben in der Ehrenloge und friert. Der Bürgermeister hatte ihn hochleben lassen, aber der Bürgermeister ist fort. Der Sheriff hatte ihn hochleben lassen, aber der Sheriff ist fort. Ben harrt aus. Seine Gastgeber sind noch nicht defiliert. Als sie endlich eintreffen, ist er erschöpft. Es ist das einzige Mal, dass der Vater seine Stimme erhebt. »Ben. Ben! Stell dich hin! Bedank dich!« Dann donnern die Maschinen der Veteranen heran, eine Kolonne von bärtigen Männern in Bomberjacken, jede einzelne Maschine trägt ein Schild: Happy Mardi Gras, Ben.
»Viele schreiben uns, wie traurig sie Bens Geschichte macht. Sehe ich nicht so. Nach allem, was passiert ist – ist doch eine Geschichte vom Glück, oder?«, sagt Heidi, die mit sechs Geschwistern aufwuchs.
Sie hatte zu bluten begonnen, zehnte Schwangerschaftswoche. Sie hatte Angst, und Angst vor der Angst hatte sie auch. Als sie das erste Mal schwanger gewesen war, hatte sie eine Fehlgeburt. Als sie das zweite Mal schwanger war, kam der Sohn, den sie sich so gewünscht hatte, und schrie. Sie wiegte ihn. Sie stillte ihn. Sie küsste ihn. Er schrie. Tage. Nächte. Wochen. Als die Depression sie wieder verließ, fürchtete sie, sie würde nie wieder ein Kind wollen, wenn sie nicht rasch ein zweites bekäme. Es klappte. Sie war so glücklich. Sie hatte sich immer eine große Familie gewünscht. Schnell wurde sie ein viertes Mal schwanger. Fehlgeburt. Jetzt war sie wieder schwanger, zehnte Woche, und sie blutete.
Als die Ärzte fürchteten, außer dem Baby auch die Mutter zu verlieren, holten sie Ben, 23. Schwangerschaftswoche. Er wog wenig mehr als eine Dose Cola. Die Hauptschlagader entwickelte sich nicht recht, Herzoperation nach zehn Tagen. Seine Lunge kollabierte, sechs Wochen Hochfrequenzbeatmung. Sein Atem wankte, 109 Tage Intensivstation. Danach Vireninfektion, Lungenentzündung, Intensivstation, und eines Tages, als abermals die Tür aufging und Ärzte mit ernsten Mienen Fremdwörter aufsagten, erkannten die Eltern, wie einfach es war.
Wenn er stirbt, dann stirbt er. Aber wenn er lebt.
»Sie ist angetreten, Nachfolgerin der Piaf zu werden. Sie hat mit ihr so viel gemeinsam wie eine kostbare Kommode mit einem Nachbau.«
»Die sagten uns, in solchen Extremsituationen trennen sich 75 Prozent aller Paare«, sagt die Mutter.
Sie arbeiteten Bens Liste anfangs nur in ihrer Vorstellung ab. Schon der Besuch eines Museums war schwierig. Die Familie zählte inzwischen zwei weitere Kinder, Heidi hatte sie im Schlafzimmer zur Welt gebracht. Sie traute Kreißsälen nicht mehr, also hatte sie sich, als Antwort auf ihre Ängste, als Geburtsbegleiterin ausbilden lassen. Ihre Gedanken über den Alltag einer Familie aus zwei Erwachsenen und sechs Kindern schrieb sie auf, in einem Blog im Internet: Geld war knapp, aber sie waren nicht arm, das Leben chaotisch, aber nicht aus der Bahn, die Reaktionen der Restwelt mitleidig, aber selten verletzend. Sie schrieb auch über Bens Wunschliste. Wenige Wochen später, im Oktober 2013, fand Heidi einen Umschlag vor der Haustür. Ein Scheck steckte darin. 5000 Dollar.
Sie verwandten das Geld, um Harry-Potter-World in Florida zu besuchen, die Fotos stellten sie als Dank an ihren anonymen Wohltäter ins Netz. Eine Computerfirma mailte. Einen Laden besuchen, klar doch, und das Tablet kann er behalten. Kurz kamen Heidi und Kit Zweifel. War es richtig, eines von sechs Kindern so herauszu-
heben? Sie erklärten ihnen die Situation. Bens Geschwister fühlten sich nicht zurückgesetzt. Sie kündigten an, am Valentinstag 2014 selbst gemachte Pralinen zu verkaufen, um mindestens einen weiteren Wunsch Bens zu erfüllen. Die Lokalzeitung brachte die Geschichte auf Seite eins. Das Lokalradio sendete sie. Dann rief das Fernsehen an.
»War eine Kette von Ereignissen«, sagt Kit.
»Eine Lawine«, sagt Heidi.
Die NASA meldete sich. Ben will eine Bodenstation sehen? Houston hatte kein Problem damit.
Auf großen Bildschirmen sah er die Astronauten im All winken, er winkte zurück, Wunsch erfüllt. Dann lud ihn das Museum der Künste in Dallas ein. Dann die Oper. CNN, ABC, CBS berichteten. Jetzt ging es Schlag auf Schlag. Buchbinder, erledigt. Wasserturm, erledigt. Dinosaurier, erledigt. Pferdeherde, Süßigkeitenfabrik, Pinguin streicheln, erledigt, erledigt, erledigt.
Ben war gerade neun geworden, aber es war, als hätte er jeden Tag Geburtstag. Während eines Mittelalterturniers schlugen sie ihn zum Ritter, in einer Feuerwehrstation durfte er an die Spritzenwagen, er stieg in Hubschraubern und Heißluftballons auf. Disneyworld, Legoland, das Nordlicht, das Meer dreimal. Immer lud sie jemand ein. Immer fotografierte jemand. Einmal fragte ein Journalist so lange, ob Ben Angst habe zu erblinden, bis der Junge vor laufender Kamera weinte. Die Eltern griffen erzürnt ein, aber die Dinge waren außer Kontrolle. Unbekannte sammelten in Bens Namen Spenden. Die Post empfahl dringend ein Postfach, schon wegen der Schecks. Todkranke boten an, Ben ihre Augäpfel zu überlassen.
»Uns war das ja alles neu. Ich hab dann lange nachgedacht, warum Ben die Leute so berührt«, sagt Kit, der Vater.
»Frag Menschen, was ihre größte Angst ist – ich wette, viele antworten: zu erblinden«, sagt Heidi, die Mutter.
Vor einem halben Jahr baten die Eltern auf Heidis Blog, nicht an Ben, sondern an Blindenorganisationen zu spenden. Es half nichts. Sie hefteten die Briefe an Ben nun nach Kontinenten ab. Aus Australien kam ein Bumerang, aus Ägypten das Modell einer Mumie. Und genug Geld für ein schlechtes Gewissen. Gab es nicht Menschen, denen es wahrhaft schlecht ging? Heidi und Kit sprachen sich aus.
Es wurde eine Nacht wie ihre erste. Als sie sich kennenlernten, hatte sie einen Freund, er eine Freundin. Aus Zufall trafen sie sich. Und redeten. Und redeten. Es war eine dieser Nächte, an deren Anfang zwei Menschen atemlos ehrlich sind und am Ende verliebt. Sie waren sich einig. Sie wollten Kinder, viele Kinder, sie wollten eine Familie, eine wilde, sie wollten leben, und das aufrecht. Sieben Tage später bat er sie, seine Frau zu werden.
»Ich hab meine Mutter angerufen: Mama, ich heirate! Sagt sie: Du bist doch nicht verlobt. Sag ich: Doch. Seit einer Woche«, sagt Heidi.
Wie in jener Nacht redeten sie auch jetzt, schonungslos. Das Geld konnten sie gut brauchen. Die Kinder. Das Haus. Sie selbst. Sie waren beide nicht krankenversichert. Zu teuer. Bei Heidi hatten ihre Ängste eine Versicherung für die Familie unbezahlbar gemacht. Bei Kit, der sechs Geburten nicht schwankte, waren es die Albträume, die ihn danach anfielen, aus der Intensivstation; die Ärzte erkannten auf PTBS, posttraumatische Belastungsstörung. Als sie sich ausgesprochen hatten, löschten sie Teile der Wunschliste aus dem Netz. Sie wollten keine weiteren Almosen. Dann sprachen sie mit den Kindern. Die Kinder entschieden: Keine Geschenke an Weihnachten, das Geld dafür den Armen geben. Aber einen Wunsch noch, nur einen. Oder zwei?
Obwohl offiziell blind, kann Ben mit Hilfe einer Brille und einer Lupe noch lesen. Niemand weiß, wie schlecht Bens Sicht sein wird, wenn er erwachsen ist. Vielleicht wird er Schemen sehen. Vielleicht löst sich seine Netzhaut ab, dann wird er vollkommen blind sein.
Die Eltern ließen sich erweichen. Sie einigten sich mit den Kindern, im Sommer an den Pazifik zu reisen, zu den Mammutbäumen. Irgendwann vielleicht nach England. Aber ansonsten sollte nach der nächsten Reise Schluss sein.
»Wir sind dankbar, wirklich. Gibt eine Menge guter Menschen auf der Welt«, sagt der Vater.
»Es ist ein Segen – aber es muss aufhören«, sagt die Mutter.
Es ist ein Uhr mittags am Sonntag, der große Tag der Paraden im Städtchen Houma am Delta des Mississippi. Jetzt führt er ihren Karnevalszug an, im eigenen Jeep. Jeder hört ihn kommen, schon von weitem, weil ihn die Menschen in Wellen anfeuern: Ben! Ben! Ben!
Er ist ganz bei sich. Er steht in seinem Jeep wie ein Feldherr, ein kleiner Junge mit einer dicken Brille, den Vater an der Seite, der ihm aus den zwei Zentnern Plastikplunder auf der Ladefläche anreicht, was Ben in die Menge wirft, Ketten, Ringe, Münzen. Acht Stunden reitet er so durch die Stadt. »Was ich sehen wollte, bevor ich erblinden würde? Das ist einfach. Die Gesichter meiner Kinder«, sagt Kit.
Ihre Gesichter waren der einzige Grund, warum er in diesem Jahr des Wahnsinns wusste, dass er richtig handelt.
Fotos: William Widmer