Die Autorin mit dem Ellenbogen auf dem Tisch. Neben ihr ihre Mutter.(Foto: privat)
Nach der Schule trafen wir uns immer »unter der Uhr«. So hieß bei uns der Platz in der Fußgängerzone, über dem eine große Uhr hing. Es waren die Siebzigerjahre, alle dort trugen grüne Parkas, alle außer mir. Ich war 13, neu zugezogen und wollte so sein wie die anderen, ein grüner Parka war mein sehnlichster Wunsch.
Ich weiß nicht mehr, ob es mein Geburtstag war oder Weihnachten. Ich weiß nur noch, dass der Parka, den ich bekam, blau war. Dunkelblau. Meine Mutter strahlte, als ich ihn auspackte. »Den hast du dir doch so gewünscht!«
Ich hätte lieber keinen Parka bekommen als einen dunkelblauen. Aber so war meine Mutter. Sie mochte »diese Militärfarbe« nicht, also suchte sie einen Parka nach ihrem Geschmack aus und merkte es kaum. Ich ging in dem Parka vielleicht zur Klavierstunde, aber niemals unter die Uhr.
Als meine Schwester und ich kleiner waren und eines Tages nebeneinander die Treppe runterliefen, sagte mein Vater erschrocken: »Das sind ja kleine Ebenbilder von dir!« So erzählt es meine Mutter und lacht. Wir trugen karierte Hosen aus Wolle, die kratzten und überhaupt das Unlässigste waren, das wir uns vorstellen konnten. Aber meine Mutter mochte uns in karierten Hosen. Denn so mochte sie sich selbst ja auch. Sie mochte uns in Polohemden und Faltenröcken, in gesteppten Daunenwesten und College-Schuhen und kam in keiner Sekunde auf die Idee, dass man diese Art Kleidung auch nicht mögen konnte.
Mit vierzig habe ich mir einen grünen Parka gekauft. Ein später Akt der Rebellion. Das lag daran, dass in den Achtzigern und Neunzigern irgendwie niemand grüne Parkas trug und ich meine Rebellion mit kaputten Jeans (für meine erste Jeans musste ich lang kämpfen) und schwarzen Lederjacken auslebte. Aber als ich den Parka endlich hatte, durchströmte mich ernsthaft ein tiefes Glücksgefühl. Es war genau der, den ich damals hätte haben wollen. Ein alter Bundeswehrparka. Einer mit seitlich eingeschnittenen Taschen, in die man die Hände so gemütlich reinhängen kann.
Ich zog den Parka an, als ich das nächste Mal zu meiner Mutter fuhr. Ich wusste, dass ich ihr darin nicht gefallen würde. Ich weiß, dass ich ihr in meinen Sachen meistens nicht gefalle. Mein Lieblingsaufzug: verwaschene Jeans mit Pullovern in verwaschenen Farben, dazu Stiefel oder Turnschuhe. Niemals Halbschuhe. Niemals Polohemden. Keine gesteppten Daunenjacken.
Ich sehe jedes Mal, wie es in ihr arbeitet: Warum zieht sie sich so an? Sie ist doch meine Tochter! Sie könnte so hübsch aussehen, wenn sie nur ein bisschen Geschmack hätte. Ich triumphiere. Es freut mich, wenn meine Mutter mich kritisiert.
Meine Mutter sieht sehr gut aus. Sie war – und ist immer noch – der Inbegriff der Dame. Sportlich-elegant. Damit vertrat sie ihre Klasse: den gehobenen Mittelstand. Hausfrau, Mitgliedschaft im Tennisclub, Waffeln backen für Rotary, Damenausflüge während der Geschäftsreisen meines Vaters. Sie war stolz auf diese Klassenzugehörigkeit, mir war sie unendlich peinlich damals. Das demonstrierte ich mit meiner Kleidung.
Nun frage ich mich, ob ich das immer noch nötig habe. Meine Mutter ist mir längst nicht mehr peinlich. Aber ich komme nicht raus aus diesem Programm. Komme nicht raus aus verwaschenen Jeans und Turnschuhen. Als müsste ich bis heute mit aller Macht dafür sorgen, dass man in mir bloß keine Dame sieht.