Der Fehler

Warum schimpfen eigentlich gerade alle auf Karrieremütter? Die lassen sich immerhin ab und zu daheim blicken. Im Gegensatz zu vielen Vätern.



Sie haben einen Vater, klar: Jeder hat einen Vater. Kolja und Mona wissen auch, dass er sie liebt, wie er aussieht, was er mag und nicht mag: Er ist mittelgroß, schlank und hat nette braune Augen. Er hasst Unordnung und er schreibt gern Verträge. Jedenfalls handelt er ständig welche aus, mit Banken oder Firmen, also muss er Verträge wohl mögen. Manchmal macht er mit der sechsjährigen Tochter und dem neunjährigen Sohn am Wochenende eine Radtour oder geht mit ihnen ins Kino, und bald schon, das hat er fest versprochen, wird er mal mehr Zeit haben. Wenn es im Büro ruhiger wird. Irgendwann.

Kolja und Mona sehen Renée Wolf*, Top-Anwalt in Düsseldorf, auch ab und zu beim Frühstück – wenn er nicht gerade auf Dienstreise ist. Gutenachtgeschichten erzählt er selten; Wolf arbeitet in der Regel sechs, manchmal sieben Tage die Woche bis zu 18 Stunden. Ina Wolf kann kochen und spielt inzwischen recht gut Fußball, sie erledigt die Steuererklärung und kauft ein, sie putzt die Wohnung und den Schrank repariert sie auch, wenn es sein muss. Wer soll das alles auch sonst machen? »Ich bin Mutter und Vater zugleich«, sagt sie, »deshalb bin ich auch für Sachen zuständig, die bei uns früher mein Vater getan hat.«

Das Kindschaftsrecht von 1998 fordert: »Jedes Kind hat ein Recht auf beide Eltern.« Die Realität sieht anders aus. »Es gibt keine berufstätigen Väter«, skandierte in den Achtzigerjahren die Männerbewegung, die den traditionellen Mann in Frage stellte. Gemeint war: entweder Vater – oder Beruf. Im Moment streiten Bischöfe und Politiker aller Parteien, vor allem Männer, darüber, welche Rolle der Frau in unserer Gesellschaft zukommen sollte. Aber kaum jemand redet über den Mann. Dass er nicht nur in der Karriere, sondern auch in der Familie Verantwortung übernehmen sollte. Dass es höchste Zeit ist für die Väter, die Papalücke zu schließen.

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Vor mittlerweile mehr als 40 Jahren verfasste der legendäre Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich seine Thesen über die »vaterlose Gesellschaft«. Wenn man genau hinsieht, hat er das frühe Gegenbuch zu Eva Herman und ihrem Ruf nach der »reinen, mütterlichen« Frau geschrieben: Er ruft nach dem präsenten, sich um seine Kinder, seine Familie, sein Leben kümmernden Mann – nach einem, der nicht so ist, wie Mitscherlich ihn schon 1963 schildert: »In den Schattenbereich der Berufsausübung verbannte Väter erfüllen neben der gemüthaft ausgleichenden noch eine zweite Aufgabe nicht: ihren Kindern anschauliche Lebenspraxis zu vermitteln«, schreibt er und sieht die moderne Welt besiedelt von einer seelisch verkümmerten Spezies: »Aufstiegsneurotiker« und »Versessene«, die nur auf Ersatzbefriedigung im Job aus sind, anstatt Erfüllung im Privatleben zu suchen.

Mitscherlich publizierte sein Buch in einer Zeit, in der sich die deutsche Gesellschaft gerade mühsam von der einen, durch den Krieg erzwungenen Vaterlosigkeit erholte und in eine andere, durch den Wiederaufbau bedingte hineinschlitterte: Während Vati Tag und Nacht am Wirtschaftswunder werkelte, bereitete Mutti zu Hause das Nest. Väter waren abwesend, und sie sind es geblieben; nur die Gründe haben sich – partiell – geändert. Sie fehlen, weil die Angst vor dem Jobverlust sie zu doppeltem und dreifachem Einsatz im Büro treibt. Sie fehlen, weil ihre Chefs es lächerlich finden, wenn ein Mann um vier nach Hause geht, weil seine Tochter ein Flötenvorspiel hat. Die moderne Arbeitswelt sieht, allen Beteuerungen und Programmen zum Trotz, berufstätige Väter schlicht nicht vor. Väter fehlen aber auch, weil sie ihr Selbstbewusstsein aus der Arbeit und nicht aus der Familie ziehen, weil sie eine Präsentation weniger anstrengend finden als Kindertränen, weil sie zwar gern mit ihren Kindern Pizza essen oder nach Legoland fahren, aber nicht mit ihnen zum Logopäden latschen oder Kopfläuse beseitigen wollen.

Andreas Wacker verkaufte nach der Geburt des zweiten Sohnes den gut gehenden Möbelladen und handelte mit seiner Frau aus, dass er zu Hause bleibt. Sie will weiter aufsteigen als Pilotin, ein klassischer Männerjob, und Wacker wollte ihr diese Chance nicht verbauen. Dass er die Ausnahme ist, spürt er jeden Tag: Wenn er als einziger Mann auf Kindergeburtstagen auftaucht, wenn er nachmittags mit den Kindern zum Klavierunterricht fährt: »Bis heute werde ich angeschaut wie ein seltenes Tier.« Von befremdeten Karrieremännern in der Nachbarschaft ebenso wie von Vollzeitmüttern.

Dabei hatte Wacker es vergleichsweise leicht: Er war sein eigener Chef, er musste nicht den Spott von Kollegen ertragen, die nicht verstehen können, dass ein Mann sich gegen die eigene Karriere und für die der Frau entscheidet. Männer wie Wacker ereilt in Büros fast immer das gleiche Schicksal: Sie gehören nicht mehr dazu. Und wenn sie nach ein oder zwei Jahren zurück in den Job gehen, wird ihnen der »Mutterschutz« in den Testosteron-gesteuerten Männerzirkeln noch lange anhängen.

Väter fehlen, weil sie das wissen. Sie fehlen aber, selbst wenn sie nicht fehlen wollen, weil sie nicht genug dafür kämpfen, dass es anders wird: weil sie nicht von den Kollegen fordern, das Meeting vorzuziehen, damit sie mal früher heimkommen. Weil sie sich in das traditionelle Bild ergeben und sagen: »Ich wäre ja gern mehr zu Hause, aber mein Job erlaubt es nicht.« Renée Wolf sagt das, der Düsseldorfer Anwalt, und wie ihm geht es viel zu vielen: »Ich habe zu viel zu tun«, so einfach ist das.

Väter fehlen, nicht zuletzt weil alles gut läuft – so, wie es ist, und weil der Job zu Hause ja erledigt wird, wenn auch nicht von ihnen. Väter fehlen, weil sie es nie anders gelernt haben, weil sie nicht dazu gezwungen werden, da zu sein, weil sich zu viele Frauen damit abfinden und die Rollenverteilung erschöpft, aber achselzuckend akzeptieren – und weil die Kinder nicht wissen, was ihnen fehlt, bis es, manchmal, zu spät ist. Ina Wolf erlebt das Tag für Tag. Sie streitet mit ihrem Mann, fühlt sich allein gelassen: »Aber ich dringe nicht zu ihm durch, also stecke ich zurück.« Ina Wolf ließ es nicht kalt, dass ihr Mann die Karriere weit vor die Familie stellte. Sie wurde depressiv.

Den neuen Mann sucht man meist noch vergebens. Die neue Frau – von der Erfolgs-schriftstellerin Hera Lind vor einigen Jahren in falscher Euphorie zum »Superweib« hochgekitscht – ist längst in der Realität angekommen. Nur: Die Frauenbewegung erkämpfte mehr Rechte und bekam mehr Belastung, ohne dafür eine Gegenleistung einzufordern. Die neue Frau hätte aber gern mehr Dauerpapa – und weniger Dauerstress. So leben Superweiber, aber auch Hausfrauen und ihre Kinder in einer anstrengenden neuen Welt, während die Männer sich in ihrer alten Welt bis auf Weiteres recht gut einrichten.

Die moderne soziologische und psychologische Literatur ist voll von »Schattenvätern«, »Freizeitvätern«, »Wochenendvätern«, von »Entväterlichung« und »Vaterverlust«. Um die Folgen einer solchen Lebens- und Arbeitsteilung zu besichtigen, reicht schon der Einblick in den Lebensalltag vieler Familien. Den bekommt der Leiter der Tagesklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Oldenburg, Michael Bode, mehr, als ihm lieb ist. Er kann viele traurige Anekdoten erzählen von Mamafamilien mit Papalücke.

Neulich erst saß Bode mit einer Elterngruppe zusammen, um über deren psychisch auffällige Söhne zu sprechen, »und wieder einmal war ich der einzige Mann im Raum, obwohl keine der Frauen eine alleinerziehende Mutter war«. In solchen Situationen versucht Bode den Frauen klarzumachen, dass das Rollenmodell von der Mama, die alles regelt, und dem Papa, der erst zur Tagesschau nach Hause kommt, ein wichtiger Teil des Problems sei, das ihre Söhne haben. Weil den Aufwachsenden eine Identifikationsfigur fehlt, aber auch die Chance zur Abgrenzung. Die Folge oft genug: seelische Instabilität. »Aber die Mütter kannten das nicht anders. Sie gingen seit Jahren zu jedem Elternabend und zu jeder Kindergartenvorführung allein, sie erzogen ihre Kinder, behüteten, beschützten sie. Und sie verteidigten diese Aufgabenteilung sogar: Ihre Männer hätten halt keine Zeit.«

Dann erinnert sich Bode an einen Tankwart, der als einer von ganz wenigen Vätern einmal in einer solchen Runde saß. Der stellte erstaunt fest: »Komisch, für einen Termin beim TÜV können sich Männer immer freinehmen.« Es sei gar nicht mal unbedingt Desinteresse, das berufstätige Männer daran hindert, wirkliche Väter zu sein, glaubt Bode: »Den meisten fehlt das Bewusstsein, wie wichtig sie für ihre Kinder sind.«

Ulrich Weber ist Immobilienentwickler in Hamburg – erfolgreich, jungenhaft, gut gelaunt. Gegen halb neun am Morgen verlässt er in der Regel die Familienwohnung am Stadtrand, dann sind die Kinder schon seit einer Stunde in der Schule. Heim kommt er, falls er kommt, gegen neun Uhr abends, in der Regel ist er drei Nächte in der Woche auf Dienstreise. Am Wochenende verbringt er ein paar Stunden mit seinen beiden Kindern, und er fände es schön, wenn er mit ihnen mehr unternehmen würde: »Aber oft bin ich einfach zu faul.« Dabei versteht Ulrich Weber sich aber nicht als ein Mann, der seine Familie vernachlässigt. »Ich bin ein engagierter Vater, soweit meine Zeit das zulässt«, sagt er. Mehr geht halt nicht. Im Alltag sei natürlich seine Frau die Hauptleidende, meint er lakonisch. Ach ja, seine Frau arbeitet auch: als Lehrerin, zwanzig Stunden pro Woche.

Ändern will Ulrich Weber nichts: »Mich von meiner Führungsposition zurückstufen zu lassen – das stünde nicht dafür. Wenn ein Mann im Vergleich zu seiner Frau das Zehn- bis Zwanzigfache verdient, dann ist diese Rollenverteilung doch nahe liegend.«

Horst-Eberhard Richter, Nestor der deutschen Psychoanalyse, hat gerade ein neues Buch vorgelegt: Die Krise der Männlichkeit in der unerwachsenen Gesellschaft. Er versucht zu erklären, warum trotz aller Bekenntnisse zur neuen Väterlichkeit das Gros aller Familien einen abwesenden Vater erlebt: »Männer haben Angst davor, als Weicheier zu gelten, wenn sie sich entfernen von ihrem Selbstbild: erobern, siegen.« Frauen, lobt Richter, seien »in die von Männern beherrschte Welt eingedrungen«. Nun sei es an den Männern, sich endlich zu ihren weiblichen Anteilen zu bekennen, »ganze Menschen zu werden«. Oder kürzer: Die Revolution der Frauen hat einiges erreicht, nun ist es an den Männern, mit der ihren zu beginnen.

Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen wird schon dafür heftig angegriffen, dass sie mehr deutschen Müttern die Möglichkeit geben will, nicht nur Mutter zu sein. Dabei will von der Leyen eigentlich noch einen Schritt weitergehen: Sie will die Väter dazu bewegen, endlich echte Väter zu sein, und die Wirtschaft animieren, dies zu er-möglichen. »Wir werden diese vaterlose Gesellschaft nicht weiter leben können«, warnt die Ministerin und stellt fest: »Frauen werden nicht beide Päckchen tragen können – die Verantwortung für Erziehung und für das Einkommen.« Ganz offen fordert von der Leyen ein neues Denken von den Männern selbst: »Männer müssen sich klarmachen, dass sie fachlich hervorragend sein und Zeit für Kinder haben können. Das ist ein Dualismus, den man von Frauen ja auch erwartet.«

Auf welche Art und Weise das funktionieren kann, erzählt Michael Bode, der Kinderpsychologe aus Oldenburg. Ein kleiner, psychisch kranker Junge beklagte sich bei ihm, dass er mehr von seinem Papa sehen will. Wie er sich denn das vorstelle, fragte Bode. Er wolle im Terminkalender seines Vaters stehen, sagte der Junge, »da sind die wichtigen Termine drin, die werden nicht abgesagt«. Bode erzählte das dem betroffenen Vater – und legte ihm ans Herz, es genau so zu machen. »Es mag zynisch klingen, aber das war ein Weg, den der Mann verstanden hat.«

Alle Namen von der Redaktion geändert. Foto: Popperfoto/Bilderberg.