Sie kamen morgens um halb elf, um Víctor Basterra zu holen. Traten ihn, bis er zu Boden fiel. »Nicht auf die Narbe«, schrie er und hielt sich den frisch operierten Bauch, Leistenbruch. »Sucht eine Rasierklinge, ich zieh ihm die Fäden«, befahl der Chef des Kommandos. Seine Männer stülpten Basterra eine Kapuze über den Kopf, stinkend und hart von getrocknetem Blut.
Später, in den Folterkammern der Militärschule ESMA, des berüchtigtsten aller Geheimgefängnisse der argentinischen Militärdiktatur, begriff der Verschleppte, woher das Blut in der Kapuze kam: »Wenn sie dir Elektroschocks geben, beißt du dir auf die Zunge.« Warum die Folterknechte Basterra nicht umbrachten, ist ein Rätsel, er wäre nur einer von vielen gewesen. Mehr als 30 000 »Subversive« ließ das Militärregime in Argentinien ermorden, als es von 1976 bis 1983 an der Macht war. In den Prozessen gegen die Folterer der ESMA ist Víctor Basterra nun einer der wichtigsten Zeugen. Nur wenige haben die Zeit dort überlebt, niemand kann so einzigartige Beweise vorlegen wie er: Fotos der Täter. Und ihrer Opfer.
Das ehemalige Folterzentrum ESMA, kurz für Escuela Mecánica de la Armada (»Marine-Akademie«), liegt mitten in Buenos Aires, an einer vierspurigen Ausfallstraße. »Nicht stehen bleiben«, hatte die Militärjunta 1976 auf die Schilder am Zaun schreiben lassen; aus Angst hielten sich die Passanten daran. Sie sahen weiß getünchte Gebäude, umrahmt von gepflegten Parkanlagen, aber niemand hörte die Schreie.
5000 Menschen wurden in der ESMA gefoltert, wie Tiere im Keller und auf dem Dachboden gefangen gehalten. Wer keinen Wert mehr für Geheimdienst und Militärs hatte, wurde betäubt und aus einem Flugzeug über dem Río de la Plata abgeworfen, der riesigen Flussmündung, an der Buenos Aires liegt. So stellten die Militärs sicher, dass die Leichen nie wieder auftauchten.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Monatelang war er in Einzelhaft, 24 Stunden am Tag an Händen und Füßen gefesselt, immer wieder bekam er Stromstöße, nackt auf ein Bettgestell aus Metall gebunden.)
Auch Víctor Basterra wurde in der ESMA gefoltert: Elektroschocks an allen Körperteilen. Schläge. Als er nicht reden wollte, brachten die Folterknechte seine zwei Monate alte Tochter in die Zelle und drohten, sie ihm auf den Bauch zu legen, damit die Stromstöße auch durch ihren kleinen Körper fahren würden. »So haben sie Informationen erpresst«, sagt Basterra, dessen Vergehen es gewesen war, in der Opposition zu sein.
Um die »Basis zu mobilisieren«, hatte er in Fabriken Handzettel verteilt, mit der Forderung nach besseren Arbeitsbedingungen. Monatelang war er in Einzelhaft, 24 Stunden am Tag an Händen und Füßen gefesselt, immer wieder bekam er Stromstöße, nackt auf ein Bettgestell aus Metall gebunden. In einem der Verhöre wurde Basterra gezwungen, sein Haus auf die Militärs zu überschreiben. Bis heute hat er es nicht wieder.
Langsam geht der kleine Mann, dessen Augen durch die Brillengläser unnatürlich groß wirken, die Treppe zum Dachboden hoch. Er zeigt mit dem Gehstock auf die ramponierten Kanten der Stufen. »Diese Spuren haben unsere Fußketten hinterlassen, als sie uns hier herunterstießen.« Seine Worte hallen durchs Treppenhaus, das Gebäude steht leer, seit es die Armee im September vergangenen Jahres räumen musste.
Auf dem Dachboden ist es heiß, es riecht nach modrigem Holz. Die Luft steht im Raum, es gibt keine Fenster, nur zwei Luken. Basterra legt den Kopf in den Nacken, schaut die grau gestrichenen Dachbalken an, ein paar Meter vor Ende des Ganges bleibt er stehen. »Eisen und Holz, Eisen und Holz«, erinnert er sich und zeigt auf eine Stelle im Giebel. »Genau hier drunter lag ich.«
Basterra hat jetzt Schweißtropfen auf der Stirn. Wie in Zeitlupe läuft er den Gang entlang, spricht plötzlich in der Gegenwart: »Wir liegen in Holzverschlägen auf dem Boden, 75 auf 200 Zentimeter groß. Wie Särge. Aber oben offen, damit die Wärter uns beobachten können.« Er macht eine Pause. »Ohne zu sprechen. Ohne zu sehen, wer dich schlägt, immer die stinkende Kapuze auf dem Kopf. Am Hals hatte sie einen Gummi zum Festziehen.«
Das Essen war spärlich und kaum genießbar: »Eine Zeit lang hatte das Fleisch eine eigenartige Konsistenz. Ich habe es nicht gegessen, ich fürchtete, sie füttern uns mit den Leichen der ermordeten compañeros.«
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Er merkte, dass es einen Ort gab, den seine Peiniger nicht durchsuchten: die Kiste mit dem lichtempfindlichen Fotopapier.)
Wahrscheinlich rettete sein Beruf Víctor Basterra das Leben: Als gelernter Drucker konnte er Pässe, Ausweise, Führerscheine, Polizeidokumente fälschen. Basterra wurde zum nützlichen Sklaven. »Ich fotografierte die Militärs, meistens in Zivil oder in Polizeiuniform, zur Tarnung. Und dann bekamen sie ein Set neuer Ausweise und Karten, alle mit falschem Namen.«
Durch solche konspirativen Maßnahmen sollte sichergestellt werden, dass die Behörden möglichst wenig von den Machenschaften der Militärs mitbekamen. Nach einer Weile musste Basterra nicht mehr in den Verschlag auf dem Dachboden zurück, durfte in der Dunkelkammer im Keller schlafen.
Er merkte, dass es einen Ort gab, den seine Peiniger nicht durchsuchten: die Kiste mit dem lichtempfindlichen Fotopapier. »Während der Arbeit stand immer jemand neben mir, beobachtete jede Handbewegung. Ich fing an, die Abzüge absichtlich über- oder unterzubelichten. Wenn die Bewacher weg waren, holte ich die Fotos aus dem Abfall und versteckte sie unter dem lichtempfindlichen Papier.«
Die Negative musste Basterra abgeben. Nur einmal fand er eine ganze Rolle in einer Mülltüte: Bilder der Opfer, der Verschwundenen, welche die Militärs selbst gemacht hatten, um ihr grausiges Handwerk zu dokumentieren. Obwohl er nicht hoffen konnte, dieses Material jemals nach draußen zu schmuggeln, versteckte er die Negative dort, wo schon die Bilder der Täter lagen: in der Kiste mit dem Fotopapier.
»Ich weiß gar nicht, warum ich angefangen habe, die Bilder zu sammeln«, sagt Basterra. »Ich dachte nicht, dass ich jemals lebend da rauskommen würde.«
Bedächtig steigt er die Treppe in Richtung Untergeschoss hinunter, ertastet jede Stufe zuerst mit dem Gehstock. Dabei streift er mit der Hand die Wand entlang, als suche er nach Spuren. Der Rücken schmerzt, eine Spätfolge der Haft, der Schläge. »Nach meiner Freilassung konnte ich kaum noch laufen, jetzt habe ich mehrere Metallstreben im Rücken, einen kleinen Grill«, sagt er.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Nach langen Monaten im Keller durfte Basterra seine Frau besuchen, zuerst einmal, dann öfter, in unregelmäßigen Abständen.)
Regelmäßig demonstrierten die Militärs ihre Macht, etwa Fernando Enrique Peyón, der bei Basterras Entführung eine Rasierklinge verlangt hatte: »Peyón kam einmal pro Woche zu mir ins Labor. Hielt mir die 9-Millimeter-Pistole an die Stirn und sagte: Ich weiß, du machst irgendwann einen Fehler.«
Nach langen Monaten im Keller durfte Basterra seine Frau besuchen, zuerst einmal, dann öfter, in unregelmäßigen Abständen. »Eine Maßnahme, um die Familie ruhig zu stellen«, sagt er. »Damit sie keine Suchanzeige aufgab. Das wäre für die Militärs lästig gewesen, denn offiziell gab es uns ›Verschwundene‹ nicht.«
Den Schein zu wahren, daran lag den Militärs einiges: Ende der Siebziger drangen die ersten Gerüchte darüber, was in Argentinien geschah, ins Ausland. Als sich daraufhin eine Menschenrechtskommission zu einem Kontrollbesuch ankündigte, brachten die Militärs die ESMA-Gefangenen auf eine Insel im Flussdelta des Tigre, eine Dreiviertelstunde von Buenos Aires entfernt, und verwischten in der Militärschule alle Spuren der Untaten.
Mehrere Wochen lang mussten die Häftlinge in einem feuchten Raum auf der Insel El Silencio kauern. Nach dem ergebnislosen Besuch der Kommission wurden sie zurück ins Folterzentrum gebracht.
Jedes Mal, wenn Basterra die ESMA verlassen durfte, versteckte er ein paar Passfotos und Negative in der Unterhose; in der Wohnung seiner Frau deponierte er die Beweise in einer Wandritze. »Wenn mich jemand erwischt hätte, wäre alles vorbei gewesen.«
Basterra steht jetzt im Keller des Gebäudes, wo nichts mehr darauf hindeutet, dass hier einmal ein Fotolabor und eine Folterkammer waren. Beigegelbe Fliesen, weiß getünchte Wände, angefressen von der Feuchtigkeit. Vier Jahre war Víctor Basterra in der Militärschule gefangen, bis 1983. Eine Woche vor Ende der Diktatur ließen ihn die Militärs frei. Nicht ohne zu drohen: »Die Regierungen kommen und gehen. Wir werden da sein.«
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Er sagte fünf Stunden und 40 Minuten aus und legte zwei Stapel mit Fotos auf den Tisch: die der Opfer und die der Täter.)
Auch als Argentinien längst wieder demokratisch war, bekam Basterra zweimal im Monat Besuch von einem Soldaten, der drohte, ihn umzubringen, sollte er anfangen, über die Ereignisse im Folterzentrum auszusagen. Trotzdem brachte Basterra bereits im Mai 1984 heimlich die hinausgeschmuggelten Bilder zu einer Kommission, die das Rätsel der 30000 Verschwundenen lösen sollte.
Er sagte fünf Stunden und 40 Minuten aus und legte zwei Stapel mit Fotos auf den Tisch: die der Opfer und die der Täter. Allerdings brachte er nur Fotokopien mit. Wer wusste damals schon, ob man dieser Kommission vertrauen konnte? Die Originale gab Basterra später bei Gericht ab.
Das Material, das er der Kommission übergab, ist bis heute einzigartig: Von den Tätern, die in der ESMA operierten, wusste bis dahin niemand die richtigen Namen, niemand kannte ihre Gesichter. Basterra war Zeuge, aber er hatte mehr als bloße Beschreibungen. Er hatte Fotos: Von Fernando Enrique Peyón, der seine Tochter entführte und sie ihm bei der Folter auf den Bauch legen wollte.
Von Beto Naya, der regelmäßig im Labor auf ihn einprügelte. Von Julio César Binotti, der vor der Freilassung drohte, ihn umzubringen, falls er plaudern würde. Von Alfredo Astiz, genannt der »Engel des Todes«, der an der Ermordung von zwei französischen Nonnen und einer 17-jährigen Schwedin beteiligt war.
Von Miguel Ángel Cavallo, der in der ESMA Zwangsarbeiter beaufsichtigte und dem – auch dank Basterras Foto – nun der Prozess gemacht werden soll: Die Anklage lautet auf Völkermord, organisierten Terrorismus und Mord. Und Basterra legte auch Fotos der Opfer auf den Tisch – jenen Film, den er im Müll gefunden und aufbewahrt hatte.
Bilder der Verschwundenen gibt es sonst nur aus der Zeit vor ihrer Verschleppung. Sie lächeln. Sind glücklich. Heiraten gerade oder feiern Geburtstag. Danach kommt nichts mehr, außer Bildern von namenlosen Skeletten oder gerade identifizierten Knochen. Die Fotografien, die Basterra aus der ESMA schmuggelte, sind die einzigen, die es von den Verschwundenen aus der Zeit der Haft gibt.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Denn auch 25 Jahre nach dem Ende der Diktatur funktionieren die alten Netzwerke weiterhin: Mehrfach sind Zeugen eingeschüchtert worden, einer verschwand spurlos.)
Bis heute weiß niemand, wohin die meisten Opfer verschleppt wurden, wie lange sie gefoltert wurden, wer sie umgebracht hat. Víctor Basterra konnte wenigstens das Rätsel um die Schicksale einiger weniger Verschleppter lüften und den Angehörigen die Gewissheit geben, dass die Personen auf den Fotos in der ESMA inhaftiert waren. »Und vermutlich über dem Río de la Plata betäubt aus dem Flugzeug geworfen wurden«, sagt er leise.
Víctor Basterra ist weiterhin in der Arbeiterbewegung aktiv und an den Planungen für die Gedenkstätte beteiligt, die in der ESMA eingerichtet werden soll. Außerdem ist er einer der Hauptbelastungszeugen in den Prozessen gegen die Täter. Eine heikle Rolle. Denn auch 25 Jahre nach dem Ende der Diktatur funktionieren die alten Netzwerke weiterhin: Mehrfach sind Zeugen eingeschüchtert worden, einer verschwand spurlos.
So ist bis heute kaum einer von Basterras Folterern ins Gefängnis gekommen. Fernando Enrique Peyón zum Beispiel lebte weiterhin in Argentinien und wurde bis zu seinem Tod im Jahre 2003 niemals vor Gericht gestellt. Und Héctor Febres, der in der ESMA schwangeren Gefangenen nach der Geburt ihre Babys wegnahm, starb im vergangenen Dezember in der Untersuchungshaft, ehe er vor Gericht aussagen konnte; manche glauben, er sei gezwungen worden, eine Giftkapsel zu schlucken.
»Der Pakt des Schweigens besteht noch immer«, sagt Víctor Basterra. »Und die Militärs lassen weiterhin Menschen verschwinden.« Ob er selbst denn keine Angst habe? »Ich kann nicht schweigen. Es geht um meine toten compañeros.«
Fotos: Stephanie Fuessenich, Porträts: Víctor Basterra