Deniz steht im Salon, neben einem Flügel, der einst Maurice Ravel gehörte. Er soll ein Lasso werfen. Zumindest soll er sich das vorstellen: Dreimal das Seil über dem Kopf kreisen lassen und dann die Schlinge, gemeinsam mit einem einzelnen Ton, in die andere Ecke des Raumes schleudern, hinüber zur barocken Flügeltür. Man muss fest auf beiden Beinen stehen, damit das gelingt, aber gleichzeitig in der Hüfte locker bleiben. Man braucht Kraft, ohne verbissene Anstrengung. Und man muss loslassen können.
Wo Deniz gerade steht, musizierten schon Johannes Brahms, Franz Liszt, Richard Wagner und Gustav Mahler. Der Junge zögert. Er zupft sich die Kapuzenjacke zurecht, holt tief Luft, setzt an. Er trifft den Ton, aber er ist zu leise. »Trau dich!«, ruft der Mann am Klavier. »Fest! Laut! Du bist Lucky Luke! Dort laufen deine Kühe! Die müssen dich hören!«
Der Mann am Klavier heißt Gerald Wirth und ist künstlerischer Leiter der Wiener Sängerknaben. Deniz Germec ist zehn Jahre alt und singt zweiten Sopran. Deniz hat einen türkischen Pass. Er ist Muslim. Seine Mutter ist Putzfrau, der Vater Koch, beide sprechen nur wenig Deutsch, obwohl sie seit 14 Jahren in Wien leben. Gastarbeiter nannte man solche Menschen früher.
Deniz wohnt seit mehr als einem Jahr in einem Palais, das einst den Habsburgern als Jagdschloss diente, mitten im barocken Augarten, einem der schönsten Parks der Stadt. Dort ist das Internat des berühmtesten Knabenchors der Welt. Etwa hundert Buben, von zehn bis 14 Jahre alt, gehen hier zur Schule, erhalten nebenbei eine musikalische Ausbildung und geben weltweit Konzerte. Gegründet wurden die Sängerknaben 1498 als Teil der Hofmusikkapelle der Habsburger, heute sind sie ein Verein und finanzieren den Schulbetrieb durch CD-Verkäufe und Konzerttourneen.
Gerade kam Deniz von seiner ersten großen Reise zurück: Singapur, Australien, Neuseeland, Taiwan, Südkorea – neun Wochen, 27 Konzerte. Er hat von jeder Station Sticker mitgebracht und auf seinen Rollkoffer geklebt. Derzeit stehen Proben für die Weihnachtskonzerte in Deutschland an, außerdem Aufnahmen für die neue CD.
Deniz besuchte noch vor anderthalb Jahren eine sogenannte Problemschule in einem Arbeiterbezirk, wohnte in einer engen Zweizimmerwohnung und wollte Profifußballer werden. Er hörte gern Tarkan und Justin Bieber. Inzwischen ist ein neues Lieblingslied dazugekommen: Gaudete, ein polyphoner Choral aus dem 16. Jahrhundert. Sein Berufswunsch lautet jetzt Komponist. Was sich nicht geändert hat: Er ist immer noch Fan von Fenerbahçe Istanbul, isst am liebsten Döner mit Reis, sieht gern fern und spielt Fußball-Games auf der Playstation. Natürlich ist er auch musikalisch. Seine Mutter erinnert sich, dass er sich schon als Baby am besten mit Liedern beruhigen ließ. Aber ist er deswegen etwas Besonderes? Ein musikalisches Wunderkind?
Wohl kaum. Er ist eines von Tausenden Kindern mit musikalischem Talent, die ohne Babydisco, Frühförderung und private Geigenstunden aufwachsen und die von sich aus kaum je den Weg in die Staatsoper, den Musikvereinssaal oder das Konzerthaus finden würden. Und schon gar nicht zu den Sängerknaben. »Wir brauchen diese Kinder«, sagt Gerald Wirth. »Aber wir können nicht darauf warten, dass sie zu uns kommen. Wir müssen zu ihnen hin.«
Das ist für die 500 Jahre alte Institution eine ziemlich neue Erkenntnis. Die Sängerknaben sind schon seit ihrer Gründung international besetzt. Im 15. Jahrhundert kamen viele aus Flandern, im frühen 17. Jahrhundert aus Italien. Heute stammen die Knaben aus Tiroler Bergdörfern und aus ostasiatischen Millionenstädten, sie kommen aus großbürgerlichem Haus oder aus zerrütteten Verhältnissen. Zwei Brüder entstammen einer Flüchtlingsfamilie aus dem Kongo, andere schauen auf mehrere Generationen Sängerknabenvorfahren zurück. Immer wieder lesen die Sängerknaben auf ihren Tourneen Kinder auf, die unbedingt mitmachen wollen und die bereit sind, sofort aus Kuala Lumpur oder Hongkong nach Wien zu übersiedeln, ganz allein.
Doch dass sich der Chor auch um die Talente in seiner unmittelbaren Nachbarschaft kümmern könnte, in den Einwanderervierteln vor den Toren des Augartens etwa – auf diese Idee kam jahrzehntelang niemand. Die hatte erst Gerald Wirth.
»Singen ist Integration«, sagt er. »Man wird im Chor immer Teil von etwas Größerem.« Wirth leitet Chöre, seit er einen Taktstock halten kann. Er erzählt von einem Kind in seinem Heimatdorf in Niederösterreich, das hartnäckig das Sprechen verweigerte, bis es im Kirchenchor plötzlich zu singen begann. Wirth hat Radaubrüder gesehen, die im Chor ganz weich wurden, und schüchterne Kinder, die plötzlich aus sich herausgingen. Manche Kinder, sagt er, würden beim Singen zum ersten Mal die Erfahrung machen, dass ihnen jemand zuhört.
Vor zwei Jahren gründete er gemeinsam mit dem Wiener Konzerthaus und der Caritas das Projekt »Superar«. Er bildet Tutoren aus, die an sozialen Brennpunkten der Stadt mit ausgewählten Klassen singen. Täglich. Mehrmals im Jahr gibt es öffentliche Konzerte. Es ist nicht Hauptzweck von »Superar«, dabei Nachwuchs für die Sägerknaben zu rekrutieren. Aber es kann passieren, wie bei Deniz. Er war der erste Junge, der auf diese Weise entdeckt wurde, vom »Superar«-Tutor Rafael Neira Wolf.
»Es hat sich angefühlt, als würde ich ein paar Zentimeter wachsen.«
Der 37-Jährige trägt lange, dunkle Locken und einen Ohrring, und wenn er mit seiner Gitarre durch das Eingangstor von Deniz’ alter Schule läuft, begrüßen ihn die Kinder manchmal mit Sprechchören. Jetzt steht Rafael vor der Klasse und macht Zischgeräusche – um den Kindern die richtige Atmung beizubringen. »Z-z-z-z-pfffff, stellt euch vor, das ist eine Spraydose, und ihr macht schnell eure Tags, ehe die Polizei kommt.« Die Kinder zischen begeistert mit. Sie mögen Rafael. Er ist kein Lehrer, sondern Profimusiker, das macht ihn cool.
Rund um die Grundschule Wichtelgasse im Wiener Stadtbezirk Hernals gibt es einen Park mit Fußballkäfig, sonst gibt es dort nicht viel. Von der Ottakringer Brauerei weht süßlicher Biergeruch herüber, aus den Manner-Werken, wo die berühmten Waffeln hergestellt werden, riecht es oft ein bisschen verbrannt. In den Zinshäusern aus der Gründerzeit hausten einst die Tagelöhner in engen Zimmer-Küche-Wohnungen. Bis heute ist es eine Arbeitergegend. Achtzig Prozent der Schüler in der Wichtelgasse haben Migrations-hintergrund. Deniz war bis vor anderthalb Jahren einer von ihnen.
Damals studierte Rafael Neira Wolf mit den Schülern den gregorianischen Choral Veni creator spiritus ein. Der Text endet mit »Amen«, was ihn als christlich identifiziert. »Ich bin Moslem«, »Ich bin Türke«, sagten die Rädelsführer der Klasse, »so etwas sing’ ich nicht.« Rafael kennt diese Diskussionen, er führt sie oft. Doch er hält daran fest,
jüdische Chanukka-Lieder mit serbischen und steirischen Volksliedern abzuwechseln. Diesmal lautete der Deal mit den Kindern: Das »Amen« lassen wir weg, und gleich nachher lernen wir das türkische Volkslied Üsküdar’a gider iken.
Deniz war Rafael bis dahin nicht besonders aufgefallen. »Es war eine wilde Klasse, mit seiner weichen, gutmütigen Art war er immer in Gefahr, ausgenützt oder ausgelacht zu werden.« Doch dann kam der Bub mit einem Zettel von zu Hause. Seine Mutter hatte ihm die zweite und dritte Strophe von Üsküdar aufgeschrieben. Sie handeln von einem Mann und einer Frau, die durch den Regen gehen und sich dabei ineinander verlieben. Deniz hatte zu Hause mit Youtube geübt, stellte sich vor die Klasse und sang solo.
»Wow«, sagte Rafael. Die Kinder waren ganz still. Deniz sagt: »Es hat sich angefühlt, als würde ich ein paar Zentimeter wachsen.« Wenig später kam Gerald Wirth in die Grundschule Wichtelgasse und fragte, wer Sängerknabe werden will. »Da hab ich mich sofort gemeldet«, sagt Deniz.
Der Moment, in dem sie den Text des türkischen Volksliedes aufschrieb, war auch für seine Mutter ein besonderer: Nermin Germec ist 47 Jahre alt und gelernte Schneiderin. In ihrem Heimatort Samsun an der türkischen Schwarzmeerküste arbeitete sie in der Werbeabteilung einer Regionalzeitung. In Wien ging sie für eine Leiharbeiterfirma putzen: in Krankenhäusern, in einem Elektrogroßmarkt, in der Hofburg. Deutsch hat sie dabei kaum gelernt. Die beiden Strophen von Üsküdar waren das Erste, was sie zum Schulerfolg ihres Sohnes beitragen konnte. Davor waren ihr Wissen, ihre Herkunft, ihre Türkischkenntnisse noch nie von Nutzen gewesen für Deniz.
Doch es gab da auch diesen kurzen Moment des Zögerns: Geht das überhaupt zusammen, dass ein Muslim in der Kirche steht und christliche Lieder singt? Die Familie ist nicht strenggläubig, aber im Heimatdorf Samsun sprach es sich bei den Verwandten schnell herum, was Deniz macht. Bald kamen die ersten Anrufe mit zweifelnden Fragen.
Für die Sängerknaben ist die Sache klar: Obwohl Kirchenkonzerte und Messen auf dem Programm stehen, ist es ihnen gleichgültig, an welchen Gott die Kinder glauben. Muslimische Sängerknaben gab es immer wieder, derzeit sind drei oder vier der hundert Jungen muslimisch. Für Deniz ist die Sache ebenfalls klar. »Das ist einfach Musik«, sagt er. Die Messen und christlichen Lieder stammen von Mozart, Schubert, Haydn oder Bruckner. Manche muss er in fröhlichem Tonfall singen, andere in traurigem. Für manche braucht er mehr Luft, für andere mehr Spannung im Zwerchfell. Einen christlichen Glauben braucht er für keines davon.
Nachdem Gerald Wirth ihn singen gehört hatte, ging alles sehr schnell. Deniz zog ins Internat der Sängerknaben, er lernte Notenlesen und Klavierspielen, sang bald seine ersten Konzerte. Es gab für ihn neue Regeln und neue Freunde.
Nach ein paar Wochen in der neuen Schule hielt Deniz vor der Klasse ein Referat über die Türkei. Er hatte die Heldentaten von Kemal Atatürk zusammengeschrieben, sich mit Jahreszahlen gewappnet und mit Widerspruch seiner Klassenkameraden gerechnet. Doch als er begann, stellte er fest: Da waren keine Kinder, die ihn in seinem Nationalstolz kränken wollten. Seine neuen Schulkollegen kannten die Türkei nur vom Badeurlaub oder vom Städtetrip nach Istanbul. Sie wollten alles Mögliche von ihm wissen, übers Essen, über Fenerbahçe, über das Meer. Deniz war überrascht. Er begann frei zu erzählen, wollte gar nicht mehr aufhören. Es fühlte sich gut an, nicht mehr einer von vielen Türken zu sein, sondern der erste, der einzige Türke.
Den Traum hat ihr ihr Sohn erfüllt.
Mittwochnachmittag ist Besuchstag im Sängerknaben-Internat. Manche Eltern lassen sich dort wochenlang nicht blicken, andere fahren mit dunklen SUVs vor und laden ihre Söhne ein. Familie Germec kommt jeden Mittwoch, und zwar am liebsten in großer Besetzung: Mutter, Vater, die erwachsenen Brüder Emre, Can und Oguz mit Frauen und Kindern. Wenn es warm ist, machen sie ein Picknick unter den großen Bäumen. Einmal schleppten sie sogar eine Schweinshaxe an, die Oguz, Lagerarbeiter beim »Billa«-Supermarkt, von seinem Arbeitgeber geschenkt bekommen hatte. Als Muslime wussten sie damit wenig anzufangen, doch in der Internatsküche war die Freude groß.
Die Mutter schämte sich anfangs für ihr gebrochenes Deutsch, sie brachte zu Elternabenden ihre erwachsenen Söhne mit, als Kontakt für die Schule gab sie lieber die Telefonnummer der Schwiegertochter an. Jetzt macht sie ihren ersten Deutschkurs. »Für Deniz«, sagt sie. Seine Klassenlehrerin spricht von einem ungewöhnlich großen Rückhalt, den Deniz durch seine Familie habe.
Sie erinnert sich aber auch an den Hautausschlag, den er in seinen ersten Monaten öfter hatte. Rote Flecken, ein klares Zeichen von Stress. »Es muss einiges in ihm gearbeitet haben«, sagt sie. Aber er beschwerte sich nicht. Er antwortete auch nicht, als sie ihn danach fragte. Er wolle nie wieder von diesem Ort weg, sagte er bloß. Wenn er singen konnte, dann war alles gut.
Seine Mutter hat ihn zum ersten Mal in der Kapelle in der Wiener Hofburg gehört, wo die Sängerknaben seit dem 15. Jahrhundert die Messe singen. Nermin Germec kennt die Wiener Hofburg gut. Hier hat sie jahrelang geputzt, die Ballsäle und Konferenzräume, die Museen und Toiletten. Oft hatte sie bei einem der großen Bälle Bereitschafts-Putzdienst, sie beobachtete die Ballgäste und wünschte sich, einmal selbst Gast in diesem Haus zu sein. Einmal nicht zum Saubermachen herzukommen. Den Traum hat ihr ihr Sohn erfüllt.
Nermin und ihr Mann Yücel waren nervös, als sie die steinerne Treppe zur gotischen Kapelle hinaufgingen. Sie hatten Angst, etwas falsch zu machen, unpassend gekleidet zu sein. Am Ende konnte Nermin ihren Sohn nicht einmal sehen, weil die Knaben auf einem Balkon singen, versteckt hinter einer Balustrade. Aber wenn sie die Augen schloss, meinte sie manchmal, seine Stimme zu erkennen. Wenn sie im Januar zum zweiten Mal die Hofburg-Messe besucht, wird die ganze Familie dabei sein. Darauf hat Deniz bestanden. Die Wiener Philharmoniker werden Mozart spielen, es wird nach Weihrauch riechen, und die türkische Großfamilie wird stolz in den ersten Reihen sitzen.
Manchmal kommt die Mutter ins Grübeln, sie sucht nach einer Erklärung für das, was mit ihrem Sohn in so kurzer Zeit passiert ist. »Warum Deniz?« fragt sie dann, als könne sie es noch nicht glauben. Gerald Wirth sagt: »Deniz war tonlich nicht der Allerbeste, aber das ist nicht so wichtig. Singen kann man lernen. Wichtiger war, dass Deniz so begeisterungsfähig ist.« Rafael Neira Wolf sagt: »Bei ihm hat einfach alles zusammengepasst. Aber ich habe schon vier, fünf Buben im Auge, bei denen es ebenso gut passen könnte.« Deniz selbst sieht seine Mutter ein wenig genervt an und sagt: »Weil ich eben gut singen kann, Mama.« Er hat ihr das wahrscheinlich schon öfter gesagt.
Fotos: Peter Rigaud / Shotview Photographers
Fotos: Peter Rigaud