Ich habe zum ersten Mal meine Atemschutzmaske aufgezogen. Auf der Straße fragt eine Gruppe Vorpubertärer: »Ey, hast du Corona?!«, und rennt dann lachend weg, aber nicht, ohne vorher ein Handyfoto zu schießen. Im Supermarkt hatte die Verkäuferin Angst davor, mir ins Gesicht zu blicken. Klar: Die Jungs haben es wohl nur als Scherz gemeint, und die Kassenfrau war verunsichert.
Mein erster Reflex beim Anblick der Verkäuferin war zu sagen: »Tut mir Leid für die Unannehmlichkeit.« Denn tatsächlich bringen das Coronavirus und die erzwungene Rücksichtnahme auf vorerkrankte und alte Menschen eine tiefe Unsicherheit und ein Schuldgefühl mit sich, mit dem viele vor allem jüngere chronisch Kranke täglich zu kämpfen haben. Sollte ich nicht eigentlich verägert sein, dass viele Menschen nur über ein minimales Hygieneverständnis verfügen und mich deshalb in Gefahr bringen?
Autoimmunkrankheiten werden nicht grundlos oft »unsichtbare Krankheiten« genannt. Als ich meine Krankheit vor drei Jahren an meinem Arbeitsplatz öffentlich machte, traf ich oft auf ein verdutztes Gegenüber: »Das sieht man dir gar nicht an!« Solche Sätze könnte man als Kompliment werten. Sie werden aber genau dann entscheidend, wenn man als chronisch kranker Mensch trotz seiner Beschwerden als normal eingestuft wird, weil man eben »gesund aussieht und sich ja auch so gibt«. Besonders zu spüren bekommt man das in einer Arbeitswelt, die kaum Schwächen duldet. In meiner Branche nennt sich diese Eigenschaft oft das »hohe Maß an Belastbarkeit und Flexibilität«.
Das Gefühl, so gesund zu sein wie alle anderen, wird zur Rettung und zur Hoffnung, dass das Wort »chronisch« doch nur ein Versehen vom Arzt war
Menschen wie ich neigen dazu, sich genauso belasten zu wollen wie ihr gesundes Gegenüber, weil es uns das Gefühl von Kontrolle über den sich selbst angreifenden Körper gibt: Das Gefühl, so gesund zu sein wie alle anderen, wird zur Rettung und zur Hoffnung, dass das Wort »chronisch« doch nur ein Versehen vom Arzt war. In diesem Kreislauf, in dem man auf die Bestätigung des Normalseins von außen angewiesen ist und sich dadurch gesünder und heilbar fühlt, findet man sich stets wieder. Es hat Jahre gedauert, drei Operationen und eine Organentnahme, um genau zu sein. Und ich befinde mich auch heute noch öfter als mir lieb ist in meinem Wunsch nach Konventionalität und Zugehörigkeit wieder. Man könnte sagen, er ist Teil meiner chronischen Erkrankung.
Was auch konstant bleibt, ist die Schuld, die man sich selbst daran gibt, eben nicht normal sein zu können. Diesem Schuldgefühl sehe ich mich in den vergangenen Tagen eigentlich permanent gegenüber. Ich kam mir lächerlich vor, als ich meinte, ich könne nicht auf die nächste große Party kommen. Als ich meinem Freund von meinen Bedenken erzählte, nächstes Wochenende zum Geburtstag seiner Cousine nach Nordrhein-Westfalen zu fahren, meinte er nur, dass wir einfach noch die Veränderungen abwarten sollten. Im Gruppenchat zur Geburtstagsfeier einer Bekannten heißt es: »Wir haben gerade einen Langstreckenflug hinter uns, und es kribbelt im Hals, aber wir kommen trotzdem! Lachsmiley, Virensmiley.«
Der Gefahr, die man für andere darstellen könnte, wenn man trotz Erkältung in die enge Weinbar geht, scheinen sich viele nicht bewusst. Dabei geht es nicht darum, dass man vielleicht denkt, dass Alte und Kranke an einem solchen Ort nichts zu suchen haben. Dass man auch andere junge Menschen anstecken könnte, die dann ihre Oma anstecken, darauf darf ich diese Person im Chat aber nicht hinweisen – wäre ja fatal für die Partystimmung. Ich wäre die Spaßbremse und nicht die ernsthaft Betroffene.
Meine Freundin Lea ist so krank wie ich, wir besuchen dieselbe Selbsthilfegruppe. Da sie im kosmetischen Bereich arbeitet und täglich in nahem Kontakt mit Menschen steht, schlug ihre Chefin vor, lieber im Hintergrund zu arbeiten: »Das ist eine gute Idee, aber du musst eben auch irgendwie deinen Umsatz machen.« Sie meinte, sie verstehe ihre Vorgesetzte, fühle sich aber einfach nur schlecht – und habe nun das Gefühl, sich entschuldigen zu müssen für den Aufwand, den das Corona-Virus und ihre Sonderbehandlung wieder mit sich bringen würde.
Das bedeutet nicht, dass ich oder Lea von meinen Nachbarn erwarten würden, dass sie Einkäufe vor unsere Tür stellen. Es heißt auch nicht, dass ich Mitleid für meine Krankheit erwarte. Aber in einer Gesellschaft, in der mir jeden Tag unzählige Twitternachrichten vermitteln, dass man sich nur die Hände zu waschen habe, und nichts würde passieren, wird es für mich, die ich mehr denn je auf die Rücksicht anderer angewiesen bin, täglich schwerer.
Ich würde mich gern weniger schuldig oder schlecht für diesen Ist-Zustand fühlen. Ich bin genauso jung, genauso wild und gierig nach Leben. Ich kämpfe trotzdem täglich mit den Einschränkungen, die mein Körper mir verordnet. Deshalb sollte man aufhören zu weinen, wenn das Berghain vorübergehend schließt und man sich nicht in die 50 Meter lange Schlange des Conceptstores stellen kann, um im Sale ein Kleidungsstück für 170 und nicht 1200 Euro zu erweben. Das Privileg, dass man weiß, es muss kein Zustand für immer sein, sollte reichen.
Dieser Text ist mein Appell an den Zusammenhalt von allen. Ein Füreinandereintreten, damit meine Sorge als rechtens und nicht als Humbug wahrgenommen wird. Damit ich mich nicht schlecht fühle, wenn ich meine Atemmaske aufziehe. Ich wünsche mir eine Solidarität, in der sich meine Umgebung wortlos und kollektiv vor einem gefährlichen und kaum erforschten Virus schützt und mir dadurch die Erlaubnis gibt, mich selbst zu schützen.