SZ-Magazin: Professor Dr. Schinzel, wann bitte spricht ein Genetiker von einem Mann?
Albert Schinzel: Der Mensch hat 46 Chromosomen, davon 44 Autosomen und zwei X-Chromosomen oder ein X- und ein Y-Chromosom, im letzteren Fall ist man genetisch gesehen ein Mann. Wohlgemerkt: nur chromosomal, nicht unbedingt psychosozial. Beides kann unterschiedlich ausfallen.
Wenn es doch nur so einfach wäre: Es gibt auch Männer mit XYY – sind das überhaupt Männer für Sie?
Das sind ganz normale Männer. Ihre Libido soll sogar stärker sein als die von Männern mit nur einem Y-Chromosom. Woher kommt das?
So genau weiß ich das nicht. Wahrscheinlich wirkt die doppelte Dosis von Genen auf dem Y-Chromosom Libido-verstärkend.
Krimischriftsteller sprechen deswegen auch gern vom Supermann-Syndrom, weil XYY-Männer vergleichsweise groß sein sollen.
Sie sind größer als ihre Brüder, im Schnitt zehn Zentimeter, und haben deswegen auch größere Füße und Hände. Sie haben größere Zähne und ihre Zahnform ist etwas plumper.
Ist ihre Lebenserwartung geringer?
Ich glaube nicht, dass es dazu Untersuchungen gibt. Sie dürfte allerdings etwas niedriger liegen: Männer generell verhalten sich ja im Vergleich zu Frauen unvernünftiger, sie verursachen mehr Autounfälle oder begehen sogar häufiger Suizid – für XYY-Männer trifft das wahrscheinlich noch etwas stärker zu, sie sind vielleicht noch verwegener als normale Männer.
Auch krimineller? Überproportional viele dieser XYY-Männer sollen in Gefängnissen zu finden sein.
Ja, mehrere Studien bestätigen dies in der Tendenz. In den USA und Schottland, wo es mit psychiatrischen Anstalten ausgestattete Hochsicherheitsgefängnisse gibt, hat man durch chromosomales Screening der Insassen festgestellt, dass der Anteil von XYY-Männern im Gefängnis ungefähr zehnmal höher liegt als in der durchschnittlichen Bevölkerung.
Wie erklären Sie sich das?
Alle Chromosomenstörungen besitzen ihren ganz speziellen Charakter. Die XYY-Männer sind etwa im Vergleich zu ihren Geschwistern nicht ganz so intelligent oder erfolgreich in der Schule. Sie isolieren sich gern, haben Kontaktschwierigkeiten und sind in gewisser Weise frustrationsintolerant.
Das heißt, sie explodieren leicht?
Richtig. XYY-Männer sind keine geborenen Verbrecher, wenn es das überhaupt geben sollte. Aber ihre Verbrechen – wenn sie solche begehen – sind gewalttätige Eruptionen, die sie nicht kontrollieren können. XYY-Männern sagt man auch eine gewisse Diskrepanz zwischen Libido und Potenz nach, die Libido ist oft verstärkt, die Potenz dagegen etwas vermindert. Insofern sind XYY-Männer überhaupt keine Supermänner, und gelegentliche Impotenz erzeugt natürlich auch wiederum gewisse Frustrationen.
Gibt es auch Studien zum Anteil von XYY-Männern unter Massenmördern?
Nein, soweit ich weiß, nicht. In den USA ist allerdings einmal bei Gericht darüber diskutiert worden, ob ein Massenmörder mit XYY überhaupt strafmündig sei. Ich kenne das Urteil nicht, in Europa sind Männer mit dem XYY-Syndrom in jedem Fall strafmündig, denn die gleichen Phänomene von Gewaltausbrüchen sind ja auch bei normalen XY-Männern anzutreffen.
Das Syndrom wird nicht einmal als strafmindernd angesehen?
Das weiß ich nicht. Richter reagieren da mitunter ganz anders als Genetiker. Aber sehen Sie: Wenn ein genetisch normal veranlagter Mann ohne Elternliebe aufwächst, ist er wahrscheinlich noch schlechter dran als ein Mann mit XYY-Syndrom. Ein Faktor allein dürfte jedenfalls nicht genügen, um ein Leben zu bestimmen. Ich kenne ja auch XYY-Männer, die sind so zufrieden und ausgeglichen, wie ein Mann nur eben sein kann. Übrigens gibt es auch kleine XYY-Männer.
Warum suchen Männer mit dem Supermann-Syndrom Sie eigentlich auf?
Aus verschiedenen Gründen: Die Eltern fragen sich manchmal, warum ein Sohn viel größer als seine Geschwister oder warum er wesentlich schlechter in der Schule ist. Einmal kam ein Ehepaar wegen verminderter Fruchtbarkeit zu mir. Das ist äußerst atypisch für das XYY-Syndrom, noch dazu war dieser Mann außerordentlich klein im Vergleich zu seinen Geschwistern.
Wie kann ein Genetiker da helfen?
Wir sind für die Diagnose zuständig, nicht für therapeutische Hilfe. Wir überweisen an einen Hormonspezialisten oder Psychiater. Wir besprechen mit XYY-Männern nur, was man über die Befunde weiß, und zwar ziemlich offen. Wir klären auch über das mögliche, aber nicht bewiesene Risiko auf, zwei Geschlechtschromosomen weiterzugeben, das heißt, das Risiko, Kinder mit dem gleichen Syndrom oder dem Klinefelter-Syndrom zu bekommen, mit XXY-Chromosomensatz.
Menschen mit dem XXY-Syndrom, sind das Männer oder Frauen?
Männer, ein Y genügt, um die Gonade beim Embryo in Richtung Hoden zu entwickeln, egal wie viele X-Chromosomen sie haben. Diese Klinefelter-Männer sind unfruchtbar, auch groß und in der Intelligenz gegenüber ihren Geschwistern benachteiligt. Aber sie haben etwas weniger ausgeprägte psychologische Probleme als Männer mit dem XYY-Syndrom. In der Regel sind Klinefelter-Männer auch nicht gewalttätig.
Raten Sie XYY-Männern, auf Kinder zu verzichten?
Nein, wenn XYY-Männer in einer glücklichen Ehe leben, haben sie fast die gleichen Chancen auf ein unauffälliges Kind. Die Rate von chromosomal abnormen Kindern hängt viel eher vom Alter der Partnerin ab als vom Mann. Außerdem kann sich ein betroffenes Ehepaar ja überlegen, eine vorgeburtliche Diagnose stellen zu lassen. Natürlich sollte man schon vorher wissen, was man denn im Fall einer Geschlechtschromosomen-Anomalie zu tun gedenkt. Aber das Risiko dürfte sehr gering sein.
Wäre denn eine solche Geschlechtschromosomen-Anomalie wie XYY oder XXY aus medizinischer Sicht ein hinreichender Grund für eine Abtreibung?
Wenn es eine psychosoziale Indikation gibt, wenn der psychische Druck beim Ehepaar entsprechend groß ist, muss man die beiden Syndrome meiner Meinung nach als Indikation anerkennen. Ich betone im Gespräch allerdings immer, dass es sich beim XXY- und beim XYY-Syndrom um marginale Befunde handelt, von der Unfruchtbarkeit des Klinefelter-Syndroms mal abgesehen. Bei einer Trisomie 21, dem Down-Syndrom, wissen Sie, dieses Kind wird mit Sicherheit geistig behindert sein – außer, die Diagnose stimmt nicht. Beim XYY-Syndrom wissen Sie nur, dass ein Junge vielleicht keinen großen Schulerfolg haben wird, dass er vielleicht etwas auffällig oder etwas unglücklicher sein wird –, aber all dies kann ja auch ohne eine Geschlechtschromosomen-Anomalie passieren, inklusive der Unfruchtbarkeit.
Treiben viele Frauen ab, wenn sie erfahren, dass ihr Embryo betroffen ist?
Mit dem Befund eines XYY-Syndroms brechen in der Schweiz zwei Drittel aller Ehepaare die Schwangerschaft ab. In Norwegen oder Schweden bricht mit dieser Diagnose niemand ab, auch in Norddeutschland viel weniger, in Italien fast alle Paare.
Wie häufig kommt das XYY-Syndrom vor?
Ungefähr einmal auf tausend Männer.
Das ist doch eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit?
Für eine genetische Veränderung, ja, es gibt andere mit 100-fach kleinerem Risiko. Trisomie 21 kommt auch häufiger vor, eins auf 600 bis eins auf 1000, wohlgemerkt bei Frauen und Männern zusammen, also deutlich häufiger, das hängt ganz vom durchschnittlichen Gebär-Alter ab.
Das XYY-Syndrom auch?
Nein, XYY ist altersunabhängig. Beim Klinefelter-Syndrom, dem XXY, übrigens stammt das zusätzliche Geschlechtschromosom zur Hälfte von der Mutter und zur anderen vom Vater; die mütterlichen sind altersabhängig, die väterlichen nicht.
Die meisten XYY-Männer in Europa wissen vermutlich gar nichts von ihrem zweiten Y.
Da wird es eine ganze Reihe geben, die Mehrheit, würde ich schätzen. Eltern suchen uns ja nur auf, wenn ihr Kind verhaltensauffällig wird oder der Kinderarzt etwas bemerkt, wobei die meisten Kinderärzte das Syndrom kaum kennen. In einem Fall war ein Patient 2,05 Meter groß. Man überlegte, sein Wachstum zu bremsen, und wollte vorher wissen, warum er so groß ist.
Wann wurde das XYY-Syndrom eigentlich entdeckt?
1960, durch die Genetikerin Patricia Jacobs in Schottland.
Warum so spät?
Das war nicht spät. Man hat ja erst 1956 zufällig herausgefunden, dass der Mensch 46 Chromosomen hat; Trisomie 21 als Ursache des längst bekannten Down-Syndroms ist erst 1959 publiziert worden.
Es gibt sogar XY-Frauen.
Das beruht nicht auf einer Chromosomenstörung. Bei XY-Frauen liegt eine genetische Störung vor. Das Gen auf dem Y-Chromosom, das die Gonade irgendwann vermännlicht, ist mutiert. Es handelt sich also um einen Gendefekt.
Und was ist bei den XX-Männern passiert?
Da ist genau der umgekehrte Fall passiert: Durch einen Fehler bei der Paarung der Chromosomen ist das Gen vom Y-Chromosom, welches für die Vermännlichung der Gonaden verantwortlich ist, auf das X-Chromosom verlagert worden.
Wie oft kommt diese Störung vor?
Höchstens eins auf 10000, genau wie die XY-Frau.
XY-Frauen sind im Sport bevorteilt.
Ihre Muskulatur ist stärker. Deswegen wird bei Olympischen Spielen, soweit ich weiß, niemand ohne Gentest zugelassen.
Die Superfemale-Frauen sind aber wiederum etwas anderes, nicht wahr?
Sie sprechen von der Trisomie X, drei X-Chromosomen. Früher nannte man sie Superfemale, etwas größere Frauen, das weibliche Pendant zu XYY. Sie sind im Durchschnitt etwas weniger intelligent als ihre Geschwister, haben etwas plumpere Gesichter, sonst sind sie allerdings ziemlich unauffällig. Viel auffälliger sind Frauen mit dem Ullrich-Turner-Syndrom: Frauen mit nur einem X, also nur 45 Chromosomen, oder einem normalen und einem auffälligen X. Die sind kleinwüchsig, oft nur 1,35 Meter groß, fast immer unfruchtbar, können Herz- und Nierenfehlbildungen haben, neigen früh zur Osteoporose, ihre Intelligenz ist allerdings meist normal. Häufigkeit: eins auf 3000.
Werden all diese Syndrome eigentlich bei einer normalen Fruchtwasseruntersuchung entdeckt?
Ja, die Geschlechtschromosomen-Anomalien werden in einer Fruchtwasserpunktion meistens entdeckt, obwohl diese ja vor allem bei älteren Schwangeren mit Frage nach Down-Syndrom durchgeführt werden. Wenn wir dann eine Trisomie X, ein Klinefelter-Syndrom oder zufälligerweise ein XYY finden, ist das für die Eltern unerwartet und schwierig, weil die Untersuchung ja wegen des Mongolismus durchgeführt wurde. Das heißt, die Eltern sind auf den Befund gar nicht vorbereitet und müssen rasch entscheiden, was sie tun wollen.
Ab welchem Alter empfehlen Sie eine Fruchtwasseruntersuchung?
Ich empfehle gar nichts, ich informiere nur. Das Risiko auf Trisomien steigt ja laufend mit dem Alter der Frau, ab 35 zahlt die Kasse die Vorsorgeuntersuchung, weil das Risiko eines Down-Syndroms dann schon bei eins zu 380 liegt.
Haben Sie Kinder?
Ja. Wir haben bei allen Schwangerschaften eine Chromosomenuntersuchung gemacht, meine Frau war bei der ersten Geburt schon 35. Sie war sich nicht sicher, ob sie abtreiben würde. Zum Glück hat sich diese Frage nicht gestellt. Die meisten Missbildungen und Anomalien sind ja ohnehin nicht durch eine vorgeburtliche Chromosomenuntersuchung zu entdecken.
Prof. Dr. Albert Schinzel, 62, leitet das Institut für Medizinische Genetik der Universität Zürich.
Illustration: Smal