»Mein Arzt verschrieb Zoloft – ohne mir genau zu erklären, warum ich das nehmen soll … Ich arbeite als Anlageberaterin, ich war überarbeitet, erschöpft, müde … Eure Kerstin«. Die 32-Jährige bekommt in dem Internetforum für Antidepressiva innerhalb eines Tages ein Dutzend Antworten. »Nehme Mirtapazin, wenn ich es höher dosiere, fühle ich mich aktiv, weniger hilft beim Einschlafen«, schreibt einer. Andere berich-
ten von 10 mg Cipralex gegen Angst, täglich ein Modafinil zum Konzentrieren oder
»Ritalin als Brain-Booster«. Die Erfahrungsberichte lesen sich so selbstverständlich, als ginge es nicht um Psychopharmaka, sondern um Vitaminpräparate.
Apotheker berichten derzeit, dass der Verkauf von Psychopharmaka deutlich zunimmt. Dabei besteht der Verdacht, dass Antidepressiva nicht mehr nur gegen die Krankheit Depression eingenommen werden – sondern zur Leistungssteigerung. Im Jahr 2006 wurden in Deutschland allein von den neueren Antidepressiva, welche die Produktion des Botenstoffs Serotonin im Gehirn anregen, 4,8 Millionen Packungen verkauft. Sie haben im Vergleich zu früheren Medikamenten weniger Nebenwirkungen und, seit Prozac als eines der ersten Psychopharmaka der neuen Generation auf den Markt kam, auch das Image von Glückspillen. »Diese Medikamente haben sich den gesellschaftlichen Bedürfnissen angepasst und sind damit im Alltag angekommen«, sagt Gerd Glaeske vom Zentrum für Sozialpolitik an der Universität Bremen. »Sie wirken nicht mehr nur dämpfend wie früher, sondern vor allem auch stimulierend.« Das Versprechen der Medikamente sei groß, »beinahe so, als könne aus einem traurigen Menschen ein schöner Schwan werden«. Und wer sei dafür nicht empfänglich, in einer Welt, in der jeder aktiv und leistungsstark sein soll und sxeine Persönlichkeit optimieren will?
Jedes Jahrzehnt hat seine Pillen. Vor vierzig Jahren, in der Zeit um 1968, ging es noch darum, das Bewusstsein zu erweitern. Hatte die Nachkriegswelt sich hin und wieder in die beruhigende rosa Watte eines Valiums gepackt, wollte man nun sehr bunte Blumen sehen. Kokain und Speed passten zu der in den Achtzigerjahren aufkommenden Spezies der schnelllebigen Yuppies, dann überschwemmten Substanzen wie Ecstasy einen spaßorientierten Markt. Aber jede Party geht einmal zu Ende, auch die Neunzigerjahre. Vielleicht ist das ein Zeichen unserer Zeit – man nimmt chemische Substanzen nicht mehr zum Vergnügen, sondern um besser arbeiten zu können. Die neuen Antidepressiva sollen das Gemüt aufhellen; sie sollen den Geist nicht vernebeln oder überreizen, sondern fokussieren.
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In einer Samstagnacht, es war der Sommer 2006, saß Gerd Gruber* in seiner Berliner Wohnung, am ganzen Körper zitternd. Er kannte diese Schlaflosigkeit, seitdem er für einen großen Computerkonzern ein Projekt in Nordeuropa übernommen hatte. Wie viele Nächte war er fast jede Stunde aufgestanden? Dann hatte er bis vier Uhr nachts E-Mails geschrieben, war immer wieder die Themen für den nächsten Tag, die Aufgaben für seine Mitarbeiter durchgegangen und die eigenen, die er nach einem 15-Stunden-Tag dann abermals nachts erledigen würde. »Aber in dieser Nacht stand ich wie unter Strom«, sagt Gerd Gruber. Ein ruhiger, konzentrierter Mann im Alter von 37 Jahren, der den Anzug genauso selbstverständlich trägt wie einen Kapuzenpullover. Kurz geschnittene Haare, Abitur von 1,0, Doktorarbeit. Er bezeichnet sich selbst als »sehr pflichtbewusst und exakt«.
Er setzte sich irgendwann im Morgengrauen an den Computer, seine Erinnerung daran ist löchrig, er gab bei unterschiedlichen Suchmaschinen immer wieder die Begriffe »Stress«, »Arbeitsüberforderung« oder »Burnout« ein. Am Ende hatte er eine Telefonnummer einer Klinik notiert. Die rief er am nächsten Tag an und bekam einen Termin in sechs Wochen. Am Montagmorgen stieg er wieder ins Flugzeug zur Arbeit. Die nächste Zeit arbeitete er durch; er befand sich wieder in seinem üb-lichen Modus und glaubte, wenn er nur noch mehr arbeite, würde er alles perfekt schaffen. Doch neben seinem Schreibtisch stand in dieser Zeit eine gepackte Tasche mit einem flexiblen Flugticket. Er hielt die Wochen bis zum Behandlungstermin durch.
In der Klinik, sagt er, ging es nicht um die Diagnose, ob er eine Depression habe oder nur überfordert sei; »die Ärzte erklärten mir die Möglichkeiten von Psychotherapie und Medikamenten, und dass ich, wenn ich so weitermache, irgendwann wirklich ein Problem bekomme«. Er blieb und nahm seine erste Tablette, das Antidepressivum Remergil. »Ich hatte überhaupt keine Vorbehalte, in meinem Bekanntenkreis hatten schon einige Erfahrungen mit Psychopharmaka gemacht und konnten sich optimieren.« Erst schlief er einen Tag durch, am nächsten zwölf Stunden, danach ging es ihm besser. Acht Wochen blieb Gerd Gruber in der Klinik, dann fing er wieder an zu arbeiten. Für seine Kollegen war er im Urlaub gewesen. Die Tabletten nimmt er bis heute. Ob und wie sie ihm geholfen haben, was eher an der Therapie und was an der Arbeitspause lag, kann er nicht genau sagen; er weiß nur, er kann schlafen, und Stimmungstiefs vergehen schneller. Er hat nun den Koffer seines Pendlerlebens gegen einen festen Schreibtisch und ein Headset getauscht und manchmal vergisst er sogar, an die Einnahme der Tabletten zu denken.
*Name von der Redaktion geändert
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Dass sich Menschen unter anderem wegen Problemen am Arbeitsplatz oder drohender Arbeitslosigkeit psychiatrisch behandeln lassen, nehme immer mehr zu, sagt Rainer Rupprecht von der Universitätsklinik für Psychiatrie in München. Zu ihm kommen Patienten mit schweren, andauernden Depressionen, die in ihrer Lebensführung beeinträchtigt sind. Zwar werden die Medikamente besser, hätten weniger Nebenwirkungen, »aber den Durchbruch gibt es noch nicht«. Auch die neueren Antidepressiva würden meist erst nach etwa zwei Wochen wirken, bei einigen Patienten auch gar nicht, bei anderen müsse man Medikamente kombinieren, und die hätten immer noch Neben-wirkungen, wie Übelkeit oder eine sexuelle Funktionsstörung. »Wir wissen noch zu wenig über antidepressive Wirkstoffe.«
Trotzdem werden Antidepressiva wie ein Allheilmittel eingesetzt. Im Berliner Gesundheitszentrum für Frauen (FFGZ) kennt man viele Fälle, in denen sie gegen schlechten Schlaf oder Nackenschmerzen helfen sollten. »Die neuen Antidepressiva werden sehr schnell und beherzt verschrieben«, sagt die Mitarbeiterin Maya Krock. Manchmal würde aber vielleicht schon ein Schlaftee von Lidl reichen. Und das Krankheitsbild der Depression wird ständig erweitert: Es gibt Psychopharmaka, die beim Abnehmen helfen oder um das Rauchen aufzuhören. Die Medikamente, die Depressionen lindern sollten, werden immer mehr zum Mittel der Selbstoptimierung. Doch darüber öffentlich zu sprechen ist noch ein Tabu, vielleicht wie einst bei den ersten Schönheitsoperationen. Der Eingriff ins Gehirn, das Aufpolstern der Geisteskraft gilt noch als verpönt und nimmt doch unbemerkt von der Öffentlichkeit zu.
Am auffälligsten an Mark S. ist seine angespannte Ruhe. Er ist ein guter Student, seine letzte Prüfung hat er erfolgreich bestanden, er könnte gelassen sein, aber es scheint, als würde ihn bei aller vorgetragenen Ausgeglichenheit etwas umtreiben. Er lehnt sich in seinem beigefarbenen Kaschmirpullover zurück, verschränkt die muskulösen Arme, blickt konzentriert auf die Apfelschorle, die auf dem Bistrotisch vor ihm steht, und sagt sehr schnell: »Bitte diese Geschichte ohne vollen Namen. Immerhin geht es um Doping. Und um meinen Jurastudienplatz.«
Mark S. beschloss vor einem Jahr, dass er seine Leistungen verbessern müsste. Eine Kommilitonin erzählte ihm von einem Mittel, das ihr beim Lernen geholfen hatte: Modafinil. Ein Medikament gegen Narkolepsie, eine seltene Krankheit, die Menschen am Tag plötzlich einschlafen lässt. Das US-Militär hat das Medikament für Piloten bei langen Flügen getestet, denn gesunde Menschen können mit dem Medikament sehr lange, angeblich bis zu 48 Stunden, wach bleiben. Mark S. hörte aber auch noch von anderen Substanzen, die im Umlauf sind: vor allem Antidepressiva. Und »Vitamin R«, wie ein Student, der ein Jahr in den USA gewesen war, das Medikament Ritalin für hyperaktive Kinder nannte – es wirke im Kopf wie »ein Konzentrationstonikum«. Eine Studie unter amerikanischen Studenten ergab, dass 16 Prozent schon einmal Ritalin genommen hatten. Für Deutschland gibt es keine entsprechenden Zahlen, nur eine von der Techniker Krankenkasse vor Kurzem veröffentlichte Statistik: Jedes zehnte für Studenten verschriebene Medikament, heißt es darin, sei ein Psychopharmakon.
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Modafinil gilt in Deutschland noch als Betäubungsmittel, aber es wird diskutiert,
ob es bald vom Arzt verschrieben werden kann. Mark S. bestellte eine Packung mit
40 Tabletten für 300 Euro bei einer Online-Adresse, die Präparate nach chemischer Originalrezeptur anbietet und ebenfalls von einer Mitstudentin empfohlen wurde. Er nahm die ovalen, weißen Tabletten drei Tage lang, immer morgens, bis er eine erste Wirkung feststellte. »Ich wurde einfach nicht mehr müde, auch nicht um zwei Uhr nachts. Mir fiel die Arbeit leicht, fast war es ein Gefühl, als wäre ich fixiert auf meine Bücher, den Computer.« Wenn er ins Bett ging, schlief er vier, fünf Stunden, am nächsten Tag fühlte er sich frisch, »kein Hang-over«, wie er sagt. Das ging so fast einen Monat, in dem er immer weniger Freunde sah, Verabredungen absagte, sich auf die Arbeit konzentrierte, bis er ein merkwürdiges Gefühl bekam, »als würde ein chemisches Skalpell jede Verwirrung oder Ablenkung langsam wegschneiden«.
Mark S. nimmt Modafinil seit einem Jahr regelmäßig, mit kleinen Unterbrechungen. Die Spätfolgen des Medikaments sind noch nicht erforscht, aber Mark S. findet das Mittel »so schön sauber«, das habe doch ein ganz anderes Image als etwa Kokain. Schließlich wolle man sich selbst ja nur verbessern. Dann sagt er: »Gäbe es an den Universitäten Dopingkontrollen vor den Prüfungen, das Ergebnis wäre erstaunlich.«
Die Idee, dass man seinen Geist optimieren kann (wofür in den USA bereits der Begriff »Neuro-Enhancement« geprägt wurde), hat vor allem auch durch die Vermarktungsstrategien der Psychopharmaka-Industrie Auftrieb erlangt, für die Millionenbudgets zur Verfügung stehen. Allein bei der Einführung von Prozac in den Achtzigerjahren gab die Firma Eli Lilly 21 Millionen Dollar für Werbezwecke aus. In Deutschland ist die Werbung für Psychopharmaka noch verboten, aber auf den Internetseiten von Konzernen wie etwa Wyeth Pharma mit dem Namen denkepositiv.com gibt es Checklisten, wie depressiv man ist, und es wird ganz allgemein für ein glücklicheres Leben plädiert. Bei Ärzten werben die Firmen für ihre Produkte mit Slogans wie: »Endlich wieder ich«, »Wer Sicherheit gefunden hat, kann frei in die Zukunft blicken«, »Echte Starqualitäten« oder »Aufklarende Wirkung schafft beziehungs-fähige Menschen«. Um den Markt anzukurbeln, werden immer neue zu behandelnde Schwächen entdeckt und die dazu passenden Medikamente präsentiert. Eine amerikanische Marketingfirma, die auch für Coca-Cola und Taco Bell arbeitet, startete kürzlich eine Kampagne für ein neues Antidepressivum, die Schüchternheit zu einer ernst zu nehmenden Krankheit erklärte – das Medikament gibt es nun auch in Deutschland.
Die neuen Antidepressiva bringen Psychopharmaka »näher an den Menschen«, sagt Markus Gastpar, Chefarzt der Fliedner Klinik in Berlin. Denn die wissenschaftliche Theorie der Neurotransmitter, die unsere Gedanken und Gefühle steuern, hätte sich durchgesetzt. Das erscheint jedem plausibel – wenn es am Botenstoff Serotonin mangelt, dann muss man diesen Mangel beheben, und genau das sollen die unter der englischen Abkürzung SSRI (deutsch: »Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer«) zusammengefassten Medikamente bewirken. Eine Mangelerscheinung lässt sich in einer Gesellschaft, die auch Tabletten bei Ernährungsdefiziten nimmt, gut verkaufen. »Aber das ist nur eine Theorie«, sagt Gastpar. »Es könnten noch ganz andere Transmittersys-teme im Spiel sein, ganz andere Modelle sind denkbar. Die Forschung ist momentan in einer heißen Phase.« Bis dahin seien die heute erhältlichen Antidepressiva zwar das Beste, was es gebe, »aber eben nur eine Krücke, die hilft und keine Ursachen bekämpft«.
Zwei Monate nachdem sich die Anlageberaterin im Internetforum mit dem Namen Kerstin eingeloggt hat, denkt sie weniger skeptisch über Psychopharmaka. Sie hat auf Anraten ihres Arztes zweimal das Medikament gewechselt. Sie sagt, die Arbeit sei so stressig wie zuvor, aber sie fühle sich nun »irgendwie positiver und engagierter. Vermutlich bin ich jetzt richtig eingestellt.« Auch das hat sich geändert, wenn man mit Substanzen direkt ins Gehirn eingreifen kann: Mit »Einstellung« ist nicht mehr eine Weltsicht gemeint, sondern die richtige Dosierung eines Medikaments.