Warum 65 Prozent manchmal genug sind

Wer Pizza vom Lieferservice oder einem Cocktail aus dem Pappkarton ein bisschen Liebe schenkt, kann ganz hervorragende Momente erleben. Und spart sich eine Menge Stress.

Foto: Maurizio Di Iorio

Ich war mal zu einem Abendessen eingeladen. Vage waren Nudeln mit Garnelen versprochen worden, in jedem Fall Prosecco und Romantik. Als ich ankam, öffnete ein gestresster Gastgeber die Tür, flüchtiges Hallo, dann der Hinweis, er habe schon Pizza bestellt, sei zum Kochen nicht gekommen, zu viel unerwartete Arbeit, aber er sei dann auch gleich fertig. Abgang an den Schreibtisch. Die Voraussetzungen waren mies, aber es wurde ein guter Abend.

Ich will jetzt nicht auf die lahme Pointe hinaus, dass es oft richtig schön wird, wenn man keine so hohen Erwartungen hatte. Sondern auf Menschen mit der beneidenswerten Eigenschaft, auch mittelgute Sachen nicht vorschnell kampflos aufzugeben und mit dem Einsatz von Kraft, Zeit, Ideen, Witz oder Liebe aus 40 Prozent noch 65 machen zu wollen.

Es ging folgenderweise weiter: Meine Laune verfinsterte sich. Nach 20 Minuten kam die Pizza, lauwarm. Ich wollte schon anfangen ein oder zwei Achtel an der Küchenzeile stehend zu verschlingen. Aber der Gastgeber kam jetzt, war fertig mit Arbeit, holte Teller, wärmte den Ofen und darin Porzellanteller und Pizza, wischte den Balkontisch, holte Servietten, deckte ein, pflückte Basilikum, wusch ihn, füllte etwas Chili-Öl in ein Schälchen mit Löffel und brachte schließlich eine warme Pizza mit frischen Kräutern auf einem warmen Teller an den gedeckten Tisch. Ich glaube, ich habe noch nie eine bestellte Pizza oder eine Fertigpizza gegessen, um die so viel Aufhebens gemacht wurde. Sie schmeckte nicht köstlich, aber echt gut. Aus 40 Prozent waren 65 geworden. Ich fand das beeindruckend. Und wie man im Internet so gern sagt: Ich hätte das nicht erwartet.

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Auf sehr gutem Niveau starten und dann nur noch veredeln, das kann jeder. Das ist wie Wandern, wenn man schon den Gipfel sieht. Die Motivation ist plötzlich wieder da, der Weg recht kurz, der Lohn riesig. Aber halten muss man sich wohl an diejenigen, die kurz vor halber Strecke – wenn man noch nicht sagen kann: »Wir haben schon über die Hälfte« – eine Reserve verfeuern. Die singen, wenn es anfängt zu nieseln und vor einem jetzt erst mal nur der steile Teil des Aufstiegs liegt, keine Sicht auf keinen Gipfel, nichts.

Ich wollte das Prinzip auch öfter in meinen Alltag holen. Eine simple Art der Aufwertung, von der ich jahrzehntelang keinen Gebrauch gemacht hatte. Was hatte ich wohl alles liegen lassen an 65-Prozent-Zufriedenheit? Ich habe wohl höchstens ein halbes Dutzend Mal eine Lieferpizza überhaupt im Sitzen gegessen, ich verzehre sie im Grunde zwischen Wohnungstür und Besteckkasten, aus dem ich dann nichts mehr brauche. Ich verfeinere keine Fertigsuppen. Ich mache zu Fertigpommes keine tollen Salate. Wenn ich ein Fertig­produkt aufwärme, betrachte ich das als Kapitulation vor der Idee Mahlzeit und esse aus Scham alles ganz schnell auf.

So hätte ich es aus Gewohnheit auch fast mit den Fertigdrinks gemacht, die mir geschenkt worden waren. Aber hinten auf der Verpackung stand so liebevoll, ich empfand es als flehentlich, man solle zunächst ein Glas auswählen und Eiswürfel einfüllen, den Manhattan schütteln, Lasche aufschneiden und dann erst ins Glas füllen. Ich spülte also extra das passende Glas, schnitt Limetten auf, wählte schöne runde Eiswürfel aus, goss ein und setzte mich zum Trinken ans offene Fenster. Ich hätte im Überschwang fast noch Basilikum ins Glas geschmissen. Definitiv 65 Prozent.