90 lang ersehnte Tage

Wenn Rhabarber an Obstständen verkauft wird, ist das ein untrügliches Zeichen für Sommer. In besonderen Momenten und an besonderen Orten schmeckt er dann sogar als Zutat in einem Radler.

Foto: Erli Grünzweil

Der Weg zum Rhabarber-Radler ist lang. Aber ich glaube, er muss so lang sein. Ich mag es nur an dem einen Ort. Nur als Abendgetränk nach einem Tag, der sich zwanglos diesem eigentümlichen Gebräu angenähert hat.

An den Supermarktregalen voller wilder Kombinationen gehe ich immer vorbei: Kalter schwarzer Tee mit Wassermelone und Minze. Cider Mango & ­Limette. Grapefruit-Weißbier. Grüner Tee mit Blaubeere und Lavendel. Brombeer-Schaumwein aus der Dose. Waldmeisterbrause mit Schuss. Sandelholz-Gin. Craftbier aus Hagebutten. Ich hole mir immer einfach ein Pils, je weniger fruchtig, desto besser. Selbst das Bier meiner Jugend, das Kölsch, kommt mir mittlerweile vor, als habe jemand süße Früchte untergemischt.

Der Weg zu einem Rhabarber-Radler ist also lang. Er führt gen Norden aus der heißen Stadt raus; irgendwann fährt man statt auf der Prenzlauer Allee auf der Prenzlauer Straße, und auch sonst wird alles weniger aufgedreht. Die Ortschaften haben sich an der einen Straße ausgerichtet. Irgendwann löst der Wald die kargen Dörfer ab. Rötlich leuchtende Kiefern, als sei man kurz vor dem Atlantikstrand. Nur wachsen sie hier nicht wild, sondern sind angepflanzt in Reihen und durch jede Schneise fällt die Sonne auf die Straße, macht aus der Auto-Fahrt eine Licht-Disko. Dann eine breite Flur im geplanten Wald mit aufgebauten Verkaufsständen: Geflochtene Körbe und Geerntetes: Hier gab es im Frühjahr zuerst Spargel, dann kamen die Erdbeeren hinzu und schließlich irgendwann der Rhabarber.

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Das untrügliche Zeichen, dass der Sommer jetzt da ist. Sich nicht mehr anschleicht, nicht mehr jeder Sonnentag ein unerwartetes Geschenk ist, sondern dass es ab jetzt gilt. Dass jetzt diese neunzig versprochenen, ersehnten, fest eingeplanten, guten Tage folgen, die genutzt werden wollen. Und auch müssen. Noch glücklicher ist man, bereits auf dem Weg zum See zu sein.

Und die süße Säuerlich­keit des Rhabarbers hat man jetzt im Kopf. Das Radler bahnt sich an

Wieso braucht es für Ouzo die Hitze? Wieso schmeckt das fruchtige Craftbier nur, wenn der bärtige Brauer in Denver es auch selbst trinkt? Cola, am besten zu Bánh mì. Milchshakes nur aus dem »McDrive«. Rosé? Ja, aber am liebsten am Meer. Rotwein nur im Dunklen. Apfelschorle schmeckt am besten am Berg. Eine Freundin von mir hat sich mal in einen Mann verliebt, unter anderem auch, weil er an einem warmen Freitag beim Vorglühen in Köln nicht Kölsch in sich reingekippt hat, fantasielos wie wir alle, sondern weil sich für ihn der Abend nach Pastis mit großen Eiswürfeln und Leitungswasser anfühlte. Und er seinem Wunsch vertraute. Ja, weil er überhaupt einen eigenen hatte. Und weil er die von den anderen Männern belächelte Bestellung in Ruhe aufgab, und den Pastis dann in Ruhe genoss. Ich konnte sie verstehen.

Vielleicht ist es das, was mit Mindful Drinking gemeint ist. Bewusstes Trinken, das den Durst mit der Situation verknüpft, mit der Stimmung, mit dem Ort. Oft passt dann auch nur ein Drink und keine neun.

Später nach vielen Stunden am See, müde, dösig, ausgelaugt und mit dem modrig-fahlen Seegeschmack im Mund ist es dann so weit. Ein Rhabarber-Radler, bitte!

Jetzt alles auf einmal: Alkohol, damit es wenigstens Sinn macht, dass die Birne so matschig ist. Energie nach dem Schwimmen, Süße gegen die Fäule aus der Tiefe und eine Verbindung mit dem Hier: An einer brandenburgischen Holzbude bei einer Frau mit Schürze einen Spritz bestellen passt einfach nicht. Ich will nicht, dass sie das mixt, wo doch grad die Kiefernstämme leuchten. Ich freue mich, wie sie den Kronkorken für mich abschnippt, hier im Sommer am See. Und der erste Schluck zuckert heftig gegen den anschleichenden Gedanken an, dass die nächste anstehende Jahreszeit der Herbst ist.