Meine Großmutter ist auf drei Dinge sehr stolz: dass sie acht Kinder aufgezogen hat, ohne wahnsinnig zu werden. Dass sie das Geheimnis eines langen Lebens entdeckt hat (ein Gläschen Asbach Uralt zum Mittagessen). Und dass sie mit diesem Trinkverhalten Queen Elizabeth überlebt hat, die beiden sind derselbe Jahrgang.
Die Frau hat es aber auch verdient. Ngabu, so nenne ich meine Oma im Shanghaier Dialekt, ist 97. Und wenn man den chinesischen Bürgerkrieg und die Kulturrevolution überlebt und währenddessen eine halbe Dynastie in die Welt gesetzt hat, kann man auch mal durchatmen und sich ein Gläschen genehmigen. Dieses Gläschen habe ich ihr oft gebracht. Als ich geboren wurde, bat meine Mutter Ngabu, nach Deutschland zu kommen und auf mich aufzupassen, während sie arbeitete. Ich bin der einzige Sohn der einzigen Tochter, da kann man schlecht Nein sagen.
Wie ein Oberkellner lernte ich mit der Zeit, wie Oma ihren Weinbrand mag: zwei Fingerbreit, ein Eiswürfel, in einem Cognac-Glas (mit einem Whisky-Glas trinkt es sich nicht so elegant, sagt sie). Wenn sie das Glas hob, funkelten alle Armreife und Ringe, mit denen sie die Falten ihrer Hände verschleiern wollte. Dabei mochte ich die besonders, wie zerknittertes Backpapier.
Lange her, dass ich den Job gemacht habe. Was auch daran liegt, dass meine Oma in meinen Teenagerjahren wieder in ihre Heimatstadt Shanghai zog. Als ich sie vor ein paar Jahren besuchte, feierte sie groß ihren 90. Geburtstag. Sie liebt Fest und Fülle. Sie trug Pelz und Jade, und mit ihrem weißen Lockenkopf sah sie aus wie ihre Jahrgangsschwester Elizabeth auf dem Weg zum Staatsbankett. Als ich sie vor fünf Jahren wieder besuchte, ging sie an einer Krücke, sie war einige Monate zuvor in der Dusche ausgerutscht. Ich packte sie in einen Rollstuhl, und wir düsten auf der Promenade am Huangpu-Fluss mit den Skateboardern um die Wette. Wir aßen frittierten Tofu und versprachen einander, beim nächsten Mal diese vorlauten Bengel abzuhängen, Kleiner-Finger-Schwur!
Kurz vor meiner Abreise bemerkte ich es zum ersten Mal. Als sie mich umarmte, verwechselte sie mich mit ihrem Mann. Opa, ein stattlicher, gut aussehender Typ, ist seit mehr als 40 Jahren tot.
Seitdem habe ich Angst, sie zu besuchen. Dass sie nicht mehr die Ngabu ist, die ich kenne. Mit jedem Videoanruf bekomme ich mit, wie sie vergisst, wie sie schreit, wie sie weint, weil sie nicht versteht, wieso ihr Mann aus diesem elektronischen Kasten zu ihr spricht wie ein Toter aus einer anderen Welt und wieso alle um sie herum krakeelen, der Mann sei eigentlich ihr Enkel. Nach jedem Anruf geht es mir schlechter als vorher. Also besuche ich sie lieber gar nicht.
Ich weiß, es ist furchtbar feige. Ich weiß, der Tod gehört zum Leben, das Vergessen zum Altern, das Erinnern zu den Hinterbliebenen. Aber ganz ehrlich: Es ist doch einfach scheiße.
Ein altes Sprichwort besagt: »Wenn ein alter Mensch stirbt, brennt eine Bibliothek.« Das ist schon schlimm genug. Genauso schlimm ist es, danebenzustehen und keinen Feuerlöscher dabei zu haben. Ich habe nie gedacht, ich sei unzerstörbar, wie es viele junge Leute tun. Ich habe aber gedacht, ich habe Zeit. Auch um Ngabu Fragen zu stellen: Was wärst du gern geworden, wenn du keine Mutter wärst? Was ist das Grausamste und Schönste am Älterwerden? Glaubst du, Buddha täte dir einen Gefallen, wenn er dir noch ein Leben schenken würde?
Ich glaube, es ist auch gut, ein Stück meiner Unbeschwertheit zu verlieren und bewusster zu leben. Ich kann zu ihr reisen, ihr die Fragen stellen und schauen, was passiert. Und wenn sie nicht antwortet, halte ich ihren kleinen Finger, denke an das Rennen an der Promenade und an unseren Schwur. Bis ich irgendwann loslassen muss.