Ich lebe in München und im Bayerischen Wald, und ja, manchmal nervt die Fahrerei, oder wenn meine Lieblingshose im falschen Schrank hängt, aber vor allem ist es großartig, weil ich mich, je nachdem, wo ich gerade bin, von dem Ort, an dem ich gerade nicht bin, erholen kann. Wenn die Sehnsucht steigt, breche ich auf und bleibe ein paar Tage, bis die Sehnsucht erneut steigt, und so weiter – der Kreislauf hat sich bewährt, ich bin ausgeglichener als früher, weniger genervt.
Die beiden Orte liegen nur 200 Kilometer auseinander, trotzdem habe ich jedes Mal das Gefühl, auf einem anderen Planeten gelandet zu sein. Das fängt schon damit an, dass ich, wenn ich nach München komme, zwanzig Minuten lang um den Block fahre, um am Ende doch im Halteverbot zu parken, was inzwischen 55 Euro kosten kann, während ich auf dem Land das Auto, na ja, einfach ab-, nein, hinstelle, denn »abstellen«, das sagt dort kein Mensch. Überhaupt die Preise: Gerade erst habe ich in München einen Beuteltee für 5,20 Euro getrunken. Dafür kriege ich im Bayerischen Wald fast einen Schweinsbraten, nicht überall, aber ich weiß halt, wo.
In München habe ich in den vergangenen Jahren sicher hundertmal übers Gendern diskutiert, im Bayerischen Wald noch nie, manche wissen gar nicht, was das sein soll. In München denken sie: Ach, diese Landeier. Auf dem Land denken sie: Ach, diese Städter. Und beide haben ein bisschen recht, aber vor allem unrecht, weil sie Klischees im Kopf haben, die sie mit der Wahrheit verwechseln. Auch deswegen herrscht in unserem Land eine Gereiztheit, die von verantwortungslosen Politikern befeuert wird, und irgendwann rollen halt Traktoren nach Berlin, und die AfD steht bei 22 Prozent.
Weil ich beide Planeten ziemlich gut kenne, habe ich mir vorgenommen, zur Versöhnung zwischen Stadt und Land beizutragen. Nicht im großen Stil – nein, obwohl es im Trend liegt, werde ich keine neue Partei gründen –, eher im Kleinen, indem ich den einen von den anderen erzähle, damit endlich alle begreifen, dass Menschen auf einem Lastenfahrrad und einem Traktor, in Sneakers und Gummistiefeln, mit Tofu und einem Steak auf dem Teller grandios und unerträglich sein können. Und weil Versöhnung meistens mit Interesse anfängt, damit, dass man sich zusammensetzt und miteinander spricht, möchte ich passend dazu ein Getränk empfehlen, das nicht nur die Zunge lockert, sondern die Seele aufreißt, denn die wollen wir beherzt auf den Tisch knallen, damit sie vom jeweils anderen liebgewonnen oder wenigstens respektiert werden kann.
Der Blutwurz ist ein Kräuterschnaps, den im Bayerischen Wald jeder und in München kein Mensch kennt, zumindest habe ich ihn noch nie auf einer Karte entdeckt, was natürlich auch damit zu tun haben kann, dass ich in den falschen Bars sitze. Mit der Namensfindung wurde eher keine Werbeagentur beauftragt: Der Schnaps wird aus der Wurzel einer Gebirgspflanze hergestellt, die – ja, genau: Blutwurz heißt (und gerade neben Schwarzem Holunder zur Arzneipflanze des Jahres 2024 gekürt wurde). Der Schnaps hat eine rötliche Farbe, ist ziemlich stark (ca. 50 Prozent) und lässt sich hervorragend flambieren. Er schmeckt, zumindest bilde ich mir das ein, nicht nur nach den Kräutern und Beeren des Bayerischen Waldes, sondern auch nach den Menschen dort. Definitiv ein charaktervolles Getränk, das sich nicht auf den ersten Schluck offenbart, eher herb, kantig, krautig als süß und geschmeidig. Man könnte auch sagen: das Gegenteil von Aperol Spritz.
Man muss den Blutwurz nicht ins Herz schließen, man kann ihn auch scheiße finden, aber bevor man ihn ablehnt, kann man ihn doch kennenlernen, und selbst wenn man danach nie wieder einen trinken will, kann man ihn in Ruhe lassen. Ach, eigentlich wäre alles so einfach.