Mit Facebook ist es wie mit den billigen T-Shirts, die man trägt, obwohl man weiß, dass die Bedingungen, unter denen sie zusammengenäht wurden, alles andere als einwandfrei sind. Oder so wie mit der Heimweg-Wurst im Stehen, bei der man ahnt, dass kein glückliches Schwein ihr Ursprung war, aber das lässt sich verdrängen für sieben, acht Bissen, weil das Gefühl, jetzt aber unbedingt diese Wurst zu wollen, größer und stärker war als die Zweifel. Der Klamottendeal war einfach zu gut. Das Smartphone kann so viel und ist so preiswert, was kommst du jetzt mit seltenen Erden aus Bürgerkriegsgebieten und Suizidraten in chinesischen Telefonfabriken. Facebook ist auch so: Man weiß, dass es Mist ist, aber es ist so schwer davon loszukommen.
Und mit Mist ist in diesem Fall gemeint: Facebook begegnet Menschen mit Verachtung. Die Firma hat Manipulationen zugelassen, die die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten mitverursacht haben. Darunter leiden jetzt Frauen, Minderheiten und wenig Verdienende in den USA; und Familien, die an der Grenze mit Tränengas beschossen werden. Facebook bietet eine Plattform für Fehlinformationen, Missbrauch, Gewalt, Hass und Stalking. Facebook ließ Schmutzkampagnen gegen seine Kritiker*innen führen. Und auch im Kleinen wird die so genannte »user experience« immer mieser: grauenvolle Farbhintergründe, dämliche Emoticons, umständliche Handhabung der Einstellungen, trashige Werbung, uralter Kram im »News Feed«.
Was ich daher weiß, weil ich Facebook benutze und auch weiter benutzen werde. Dass Facebook mich währenddessen auch benutzt, ist mir klar. Facebook bekommt Geld für meine Aufmerksamkeit. Ich liefere Facebook umsonst Inhalt, wie alle, die auf Facebook posten. Ohne Leute wie uns und mich wäre Facebook uninteressant für russische Trollarmeen und Schurken-Firmen wie Cambridge Analytica und die Nachfolger: Ich unterstütze, beliefere und finanziere, was ich ablehne.
Eigentlich geht das Facebook-Dilemma also noch weiter und tiefer als beim billigen T-Shirt, der Wurst oder dem Telefon. Im Gegensatz zu diesen eher austauschbaren Konsumgütern ist Facebook nämlich mit dem Versprechen von Menschlichkeit verbunden gewesen. Nicht nur schien es Menschen Sprachrohr und Plattform zu sein, deren Redefreiheit bisher unterdrückt wurde, die sich durch Facebook nun vernetzen und so zusammen aufbegehren konnte. Das war die eine, die heroische Facebook-Story, damals, als es den arabischen Frühling zu geben schien.
Je näher Menschen Facebook an sich und an ihr Leben herangelassen haben, desto mehr hat die Firma davon profitiert
Das andere Versprechen von Menschlichkeit ist eins, das Facebook in gewisser Weise wirklich erfüllt hat. Es war und ist das Versprechen von Nähe, und wie gesagt: Dieses Versprechen hat Facebook eingelöst. Leider. Weshalb es umso schwerer geworden ist, sich von Facebook zu lösen. Viel mehr als Twitter (wo es auch viele ethische Abgründe gibt) verbindet Facebook mich mit Menschen, die ich schon lange kenne, die ich wiedergefunden habe, von denen ich im wahren Leben zu weit entfernt bin. Ich habe Facebook-Gruppen mit Freund*innen, in denen wir unsere Treffen planen; es gibt eine »Raether-Gruppe«, in der ich mich mit Onkels und Tanten austausche, denen ich vor Facebook keine Postkarten geschrieben habe. Auf Facebook sehe ich, wie die Kinder meines ältesten Freundes neun Zeitzonen entfernt aufwachsen.
Auch diese positiven Facebook-Klischees sind bekannt, aber ich fürchte, wir machen uns zu wenig bewusst, dass gerade diese menschliche Nähe, die Facebook uns scheinbar schenkt, der eigentliche Kern seiner Menschenverachtung ist: Je näher Menschen Facebook an sich und an ihr Leben herangelassen haben, desto mehr hat die Firma davon profitiert. Und statt umso verantwortungsbewusster zu handeln, hat Facebook umso mehr Missbrauch, Fehlinformation, Datenraub zugelassen oder nicht verhindert. Weil die Firma unser menschliches Bedürfnis nach Nähe und das, was wir von ihrem Angebot wirklich haben, offenbar nicht achtet, sondern verachtet.
Man müsste nun also gehen. Aber es würde dann so umständlich oder gar unmöglich, das nächste Klassentreffen zu organisieren, wo das letzte doch so schön war. Wie lange würde es dauern, bis es auf einem anderen sozialen Medium allein durch die Masse an Bekannten so wunderbare Zusammentreffen gibt wie auf Facebook? Werde ich meinem Onkel wirklich eine Postkarte in die Reha schreiben, wenn ich ihm keine aufmunternden Worte mehr auf sein Facebook-Profil posten kann? Und so weiter. Davon, dass ich als Autor auf Facebook unverschämt meinen eigenen Kram anpreise, ganz zu schweigen.
Ich bleibe also da, mit diesem verdrängten schlechten Gefühl, Grundzustand des Konsums im 21. Jahrhundert. Facebook ist schlimm, aber: Ich bin Facebook, wir sind Facebook. Daraus befreien kann uns am Ende womöglich nur die Firma selbst. Mit einer gewissen Schadenfreude registriere ich die immer sinnloseren Features der Seite, die schrecklichen Animationen, den schwerfälligen Messenger, die trotz aller Daten so unnütze Werbung und die Nachrichten darüber, wie irrelevant Facebook für Menschen ist, die jünger sind als ich. Soweit ist es gekommen: Weil man Facebook so viel gegeben hat von sich selbst, kommt man von allein nicht mehr raus, und nur ein schleichender Niedergang der ganzen Plattform wird einen am Ende von Facebook befreien können.