Im Eingang von Jane Birkins Haus in Paris stehen Koffer und vollgepackte Taschen, daneben liegt regungslos eine französische Bulldogge. Sie schnarcht. Es warten: Brigitte, Visagistin, Martin, der Mann für die Haare, und Kate Barry, Fotografin und Jane Birkins älteste Tochter. Sie war es auch, die vorschlug, Isabelle Huppert in Jane Birkins Haus zu fotografieren. Die Sängerin und Schauspielerin, einst Lebensgefährtin von Serge Gainsbourg, läuft hin und her, serviert grünen Tee. Dann verschwindet sie. Isabelle Huppert taucht eine Stunde später auf als verabredet. Eine Kontaktlinse hatte sich so hinter ihr Auge geschoben, dass sie zum Arzt musste. Sie sieht gestresst aus, trotz Pferdeschwanz, Sommerkleid, Flipflops. Die letzten dreieinhalb Monate war sie in Sydney und hat zusammen mit Cate Blanchett »The Maids« von Jean Genet am Theater gespielt. Erst gestern Vormittag ist sie in Paris gelandet. Isabelle Huppert – das ist die »Spitzenklöpplerin« und »Madame Bovary«, das ist die Bordellbesitzerin in »Heaven’s Gate«, die Engelmacherin in Chabrols »Eine Frauensache« und die Postbeamtin aus »Biester«, das ist »Die Klavierspielerin« und zuletzt auch die Tochter in Michael Hanekes »Liebe«. Eine Ausnahmeschauspielerin.
SZ-Magazin: In Ihrem neuen Film Die Nonne, nach einer Romanvorlage von Diderot, spielen Sie eine Oberin. Erinnern Sie sich an die Schuhe, die Sie in der Rolle tragen?
Isabelle Huppert: Nein, gar nicht. Warum?
Sie haben mal gesagt, eine Rolle fängt bei den Schuhen an.
Stimmt. Die Schuhe bestimmen den Gang, der Gang bestimmt die Körpersprache und die Körpersprache definiert die Figur. Vor allem, wenn die Schuhe besonders hoch oder ganz flach sind. Die Schuhe der Nonne haben einen kleinen Absatz gehabt, glaube ich, aber sie sind vergleichsweise unwichtig. Man nimmt sie gar nicht wahr unter der Ordenstracht. Das ist es, was die Nonne ausmacht: die Tracht. Auch ihr Gesicht ist fast bedeckt vom Schleier, man sieht nur Augen, Mund und Nase. In so einem schweren Habit fühlt man sich anders als im Bikini, das kann man sich vorstellen, oder?
Was hat Sie gereizt, die Rolle einer lüsternen Ordensschwester zu spielen?
Dass sie sich so verliebt, dass sie die Kontrolle über ihr Leben verliert. Es ist ja streng verboten, was sie fühlt. Dieser Konflikt ist in Diderots Roman sehr schön beschrieben. Und obwohl sie an dieser Leidenschaft stirbt, hat es eine gewisse Komik, wie sie sich verhält. Sie ist von ihren Gefühlen so überfordert, dass sie nicht klug reagiert, sondern seltsam. Der Regisseur hatte mir erst die Rolle der bösen Oberin angeboten, aber ich fand die Idee, die wollüstige zu spielen, viel amüsanter.
Filmkritiker rühmen Ihre Ausdruckskraft, aber eigentlich haben Sie fast immer den gleichen Blick. Der aber kann fast alles sagen.
Ich bin mir dessen nicht bewusst. Ich glaube auch weder, dass es das Einzige ist, was ich zu bieten habe, noch, dass ich die Einzige bin, die diese Mimik zu bieten hat.
Immerhin haben Sie mal gesagt, dass Sie Ihr Gesicht schon als Kind irritiert hat.
Ich fand mich blass und nicht markant. Wenn ich mich ansah, dachte ich, mein Gesicht ist irgendwie nicht definiert. Es hat keinen hohen Wiedererkennungswert.
Denken Sie das immer noch?
Nein, aber ich habe begriffen, dass es für eine Schauspielerin nützlich ist, weil man so viel draus machen kann.
Waren Sie unglücklich darüber?
Nein, warum sollte ich?
Weil junge Mädchen oft über ihr Aussehen unglücklich sind.
Für mich war mein Aussehen nie Grund genug, unglücklich zu sein.
Glauben Sie, dass man Schönheit erwerben kann?
Man braucht dazu eine gute Visagistin wie Brigitte.
Mehr nicht?
Die Schönheit einer Schauspielerin liegt nicht in ihr selbst. Die Schönheit einer Schauspielerin ist keine objektive Schönheit. Sie hängt vom Licht ab, vom Blick des Regisseurs, des Kameramanns. Und eine Schauspielerin ist sich dessen sehr bewusst: wie abhängig sie von all diesen Faktoren ist. Sie wird ungeduldig, möchte geschminkt werden, bevor die Sonne in den Garten wandert.
Immer wieder betrachtet Isabelle Huppert sich kritisch im Spiegel, findet den Lidschatten auf dem Oberlid nicht ausgeprägt genug. Sie nimmt Brigitte den Augenbrauenstift aus der Hand.
Jane Birkin kommt zurück. Bonjour, Küsschen, wie geht’s? Hast du einen grünen Tee bekommen? Möchtest du etwas essen?« Birkin hat einen kleinen Versorgertick, liegt wahrscheinlich an ihren drei Töchtern und den vielen Enkeln. Um Enkelkinder drehen sich dann auch Birkins Fragen: Wie alt Isabelle Hupperts Enkel ist? Und ob es Lolita war, Hupperts Tochter, die sie zur Großmutter gemacht hat? »Ja«, sagt Huppert spröde, »es war Lolita.« – »Siehst du, es sind die Mädchen, die einen jung zur Großmutter machen«, sagt Birkin. »Die Jungen warten, bis man
alt ist.«
In der Küche sieht es chaotisch aus: Blümchentapeten, Fotos von Ex-Ehemännern, Töchtern, Enkelkindern. Der Hund kommt und streicht um Hupperts Beine. Sie erschrickt, zieht die Beine angewidert hoch und sagt: »Ich hasse es, wenn Hunde mich am Bein lecken.« Drei Leute werfen sich auf das schwere Tier und versuchen es wegzuziehen. »Dora, Darling«, flüstert Birkin dem Hund ins Ohr. Dann erklärt sie: »Sie hat Krebs, ist nicht mehr ganz bei sich.« – Huppert sieht froh aus, als Jane Birkin und ihre Leute den Hund ins Auto wuchten und abreisen. Sie zieht ein Tuch über die frisch frisierten Haare und spaziert, mit einem Mal sehr gut gelaunt, die Straße hinunter, um sich fotografieren zu lassen.
Werden Sie gerne fotografiert?
Schon ziemlich, ja. Sonst sollte ich ja vielleicht den Beruf wechseln.
Es gibt viele Schauspieler, die nicht gern fotografiert werden.
Ich mag es. Ich muss allerdings mit dem Fotografen gut zurechtkommen. Das ist wie mit einem Regisseur. Der Regisseur ist für mich das wichtigste Kriterium, ob ich einen Film zusage oder nicht. Wichtiger als das Drehbuch. Es ist ein Riesenunterschied, ob Sie ein gutes Drehbuch einem guten Regisseur oder einem mittelmäßigen Regisseur geben.
Das Kino ist ein Mysterium.
Wann ist eine Arbeit für Sie gelungen?
Wenn es mit dem Regisseur funktioniert hat.
Wie zeigt sich das im fertigen Film?
Um zu sehen, wie ein Film geworden ist, muss man ihn mehrmals sehen. Wenn man ihn zum ersten Mal sieht, ist man total unobjektiv. Man achtet nur auf sich.
Ist das nur Neugier oder schon Eitelkeit? Wie wichtig ist Ihnen die Wirkung auf andere?
Die Zuschauer sind total abstrakt für mich. Man denkt nicht daran, wem etwas gefallen könnte. Man denkt nur an das, was einem selbst gefällt. Das Kino ist ja nicht einfach eine Rolle oder eine Geschichte, da kommt viel mehr zusammen. Das Kino ist ein Mysterium.
Worin besteht dieses Mysterium?
Es ist wie im Theater: An einem Abend ist es magisch, am nächsten nicht. Man kann das nicht immer selbst steuern. Es kommt auch vor, dass man selbst den Eindruck hat, sehr gut gewesen zu sein, aber man war gar nicht gut. Wenn man tief eintaucht in die Gefühle einer Rolle, heißt das nicht, dass man diese Gefühle auch automatisch beim Zuschauer auslöst. Gefühl ist ja nicht gleich Sentimentalität. Etwas kann ganz trocken gespielt sein und große Gefühle beim Zuschauer auslösen. Wenn es zu weich gespielt wird, zu sentimental, kann das unangenehm sein. Mir jedenfalls.
Dann ist es Kitsch für Sie?
Es geht im Kino um die Wahrheit. Nichts als die Wahrheit. Nur sie erweckt einen Film zum Leben. Beim Theater ist es anders. Wenn man eine Tragödie spielt und in Versen spricht, schiebt sich die Sprache vor die Wahrhaftigkeit. Aber im Kino ist man echt.
Sie spielen oft unterdrückte Frauen. Frauen, die eine sehr komplizierte Psyche haben. Zufall?
Es sind die interessanteren Rollen. Komplexe Personen. Und es ist das, was mir angeboten wird. Das Kino ist zurzeit vielleicht etwas düsterer. Es gab Zeiten, in denen waren die großen Rollen leichter.
Sind Sie selbst kompliziert?
Jeder ist kompliziert. Denken Sie nicht?
Was sich auch durch Ihre Filme zieht: die Frage, dominant zu sein oder dominiert zu werden.
Das ist eine der großen Fragen überhaupt. Ich habe für mich den Ort gefunden, wo ich beides leben kann. Als Schauspielerin muss man sich ein bisschen dominieren lassen, von einer Person: vom Regisseur. Gleichzeitig kann man dominant sein. Eine ideale Konstellation.
Wie viel Isabelle Huppert steckt in Ihren Rollen?
Ich wäre ein ziemlich unglückliches Wesen, wenn ich so wäre wie meine Rollen. Es ist bizarr: Bei all dem Geheimnisvollen, das das Spielen hat, ist es auch sehr mechanisch. Diderot beschreibt das sehr gut in seinem Text Paradoxe sur le comédien. Ihm fällt auf, dass in jedem Schauspieler dieser Kontrast steckt: eine extreme Sensibilität und eine extreme Kälte. Man braucht diese Kälte, diese Distanz, denn man ist ja nicht, was man spielt.
Würden Sie sich als Feministin bezeichnen?
In Filmen bin ich meistens eine. Das heißt: Ich nehme gern Rollen an, in denen ich nicht einem Mann hinterherlaufe. Rollen von Frauen, die sich behaupten wollen. Vielleicht ist das mein Beitrag zum Feminismus.
Es wird heißer. Brigitte, die Visagistin, reicht ein Spray herum, das man sich zur Erfrischung ins Gesicht sprüht. Der Ventilator wirbelt schwüle Luft durch den Raum. Isabelle Huppert wirft ein langärmeliges Kleid nach dem anderen über, posiert für die Fotos. Mit jedem Klicken wird ihr Gesicht entspannter und schöner. Am Ende dieses Tages ächzen alle, nur sie wirkt ausgeruht wie nach dem Mittagsschlaf. Sie hat noch Zeit für ein paar letzte Worte und setzt sich auf die Stufen der breiten Treppe, die vom verlassenen Haus in den verlassenen Garten führt.
Den deutschen Frauen gelten die Französinnen oft als Vorbild: Sie bekommen drei Kinder und arbeiten, ohne dafür angegriffen zu werden.
Das ist normal hier. Ich habe von deutschen Frauen gehört, dass es nicht nur eine Frage der Unterbringung ist. Weil es heißt: Wenn man drei Kinder hat, bleibt man zu Hause und erzieht sie, sonst hätte man sie ja nicht bekommen müssen. Ist das so?
Ein bisschen schon. Es wird besser.
Bei uns ist es selbstverständlich, dass man arbeitet. Und je mehr Kinder, desto notwendiger ist es doch zu arbeiten. Wie soll man sonst für sie aufkommen? Außerdem sind Kinder nur eine gewisse Zeit da im Leben einer Mutter, dann ist es vorbei mit dem Umsorgen. Der Beruf bleibt. Es muss hart sein, die Kinder gehen zu lassen, wenn man keine Aufgabe hat.
Sie haben noch ein Kind zum Umsorgen, oder?
Ja, mein jüngster Sohn ist 15. Die anderen beiden sind groß. Aber es macht auch Spaß, wieder selbstständiger zu sein. Wenn ich arbeite, bin ich ja oft wochenlang ohne Familie. Das gefällt mir. Allein verreisen würde ich allerdings nicht. Die Arbeit ist ein gutes Alibi, irgendwo allein zu sein.
Fotos: Kate Barry; Styling: Almut Vogel