Schon am frühen Morgen war ich auf der Piazza della Signoria, um das Eintreffen der Touristen zu beobachten. Es war ruhig. Ein Straßenkehrer fuhr auf seinem Wägelchen herum, ein Verkäufer lud eingeschweißte Souvenirs aus seinem Transporter. Die Touristen, die dann auftauchten, Reisegruppen aus Japan, China, Deutschland, Spanien, glichen einer Naturgewalt. Wie eine Flut ergossen sie sich über den Platz, stauten sich, schwappten hierhin und dorthin. Vor den Statuen machten sie Selfies. Eine Reisegruppe aus Arizona (an ihren Umhängebändern eindeutig zu identifizieren) steuerte auf Michelangelos David zu. Einer von ihnen zeigte auf die Statue vor dem Palazzo Vecchio und rief spöttisch: »Das ist also die berühmteste Statue der Welt, und sie lassen sie einfach im Freien stehen. Keine große Sache, nur der Taubendreck wird abgespritzt.«
Gemeint war: Italien ist ein rückständiges Land, das seine Kulturschätze nicht schützt. Fairerweise muss man sagen, dass der Mann nicht der Erste war, der diese Kritik äußerte. Luigi Barzini schrieb in seinem Standardwerk Die Italiener, dass dieses Land »den Touristen immer wieder die schöne Gelegenheit bietet, sich den Einheimischen überlegen fühlen zu können«. Mir geht das manchmal auch so. Die italienische Bürokratie, ob auf dem Postamt oder bei Straßenarbeiten, ist wirklich beeindruckend. Und der Statue, auf die der Amerikaner zeigte, hatte der Aufenthalt im Freien offensichtlich nicht gut getan. Der Marmor war verdreckt.
In einem entscheidenden Punkt hatte sich der Mann jedoch geirrt. Er zeigte nicht auf den echten David, sondern auf eine Kopie. Früher stand das Original an dieser Stelle, aber vor 143 Jahren wurde es in ein Museum geschafft, wo es nun absolut sicher und geschützt ist vor den Elementen.
Zumindest stellen wir uns das so vor. Wir bilden uns ein, Kunst könne vor den Zumutungen der Welt bewahrt werden. Wir hängen die Mona Lisa nicht in einem Schießstand auf, sondern stecken sie in eine Festung – mit Mauern, Einlasskontrolle, Laserkameras, Wachpersonal und kugelsicherem Glas. Wir haben Wissenschaftler, Fachliteratur, Plakate – eine ganze kollektive Mythologie, derzufolge das Werk ewig leben wird. Sicherheit ist jedoch eine Illusion und ewiges Leben eine Fiktion. Imperien gehen unter, Städte werden bombardiert, religiöse Fanatiker zerstören alte Tempel. Zerstörung geschieht auf unterschiedliche Weise und aus vielerlei Gründen, mal schnell, mal langsam – aber irgendwann tritt sie ein, und noch so viel Verehrung wird es nicht verhindern können.
Kaum jemand weiß das besser als die Florentiner. Die Melancholie der Vergänglichkeit ist ihnen vertraut. Florenz war das Zentrum der Renaissance – hier lebten Giganten wie Giotto, Brunelleschi, Donatello, Cellini und Leonardo, und die Zeugnisse dieser Epoche waren schon immer gefährdet. 1497 schickte der fanatische Mönch Savonarola seine Anhänger von Haus zu Haus, alle nichtsakralen Gemälde, Bücher, Kleidungsstücke, Musikinstrumente zu sammeln, die dann auf der zentralen Piazza zu einem riesigen Scheiterhaufen getürmt und angezündet wurden – das berüchtigte Feuer der Eitelkeiten. 1895 erschütterte ein so heftiges Erdbeben die Stadt, dass die Leute aus Angst vor Nachbeben auf der Straße schliefen. Das 20. Jahrhundert brachte die Nazis und die Autobomben der Mafia. In diesem November wird des fünfzigsten Jahrestages der großen Überschwemmung von 1966 gedacht, die praktisch die ganze Innenstadt verwüstete, Dutzende Menschenleben forderte und zahllose Meisterwerke vernichtete.
Heute scheint die ewige Zerstörungsmaschinerie noch unverfrorener vorzugehen. Ihr jüngstes und bislang spektakulärstes Objekt ist die menschliche Idealfigur, eines der berühmtesten Kunstwerke überhaupt – Michelangelos David.
Das Problem sind die Fußgelenke des David. Sie sind rissig. Die Italiener haben diese Schwäche schon im 19. Jahrhundert entdeckt, und die moderne Wissenschaft hat die Risse exakt dokumentiert, aber bis vor Kurzem konnte niemand genau sagen, wie instabil die Fußgelenke sind. Das änderte sich 2014, als ein Team italienischer Geowissenschaftler eine Untersuchung mit dem Titel Simulation des Bruchverhaltens von Michelangelos David anhand von Zentrifugalexperimenten mit kleinformatigen Kopien veröffentlichte. In der Studie wird dargestellt, dass man die Schwäche der Fußgelenke des David präzise ermitteln kann, indem man kleine Kopien der Statue in eine Zentrifuge packt und sie in verschiedenen Winkeln herumschleudert, um dergestalt unterschiedliche Formen realer Belastung zu simulieren. Das Ergebnis: Sobald der David eine Neigung von 15 Grad aufwies, gaben die Fußgelenke nach.
Der Kern des Problems ist eine kleine Unvollkommenheit in der Anlage der Statue. Der Schwerpunkt des Sockels stimmt nicht mit dem Schwerpunkt der Figur überein, denn der David steht nicht absolut senkrecht auf dem Sockel. Seine Anlage weist, wie es in der Studie heißt, eine »exzentrische Belastung« auf. Dadurch wird zusätzlicher Druck auf die schwächste Partie der Figur ausgeübt, die Fußgelenke. Solang der David gerade steht, ist die exzentrische Belastung tolerierbar, doch der Spielraum ist gering. Wenn sich der Sockel nur ein wenig neigt, nimmt der Druck auf die Fußgelenke dramatisch zu.
Nun hatte der David schon lange, bevor er in sein schützendes Museum kam, eine leichte Neigung aufgewiesen. Niemand weiß genau, warum. Mehr als 300 Jahre stand er an der Stelle, wo heute die verdreckte Kopie steht. Laut Legende wurde die Neigung im Jahr 1511 durch einen Donnerknall während eines schweren Gewitters verursacht, aber vermutlich war es eher das Resultat einer leichten Bodenerschütterung, wie sie in dieser Region regelmäßig vorkommt – vergleichbar der Kraft, die die Neigung des Turms von Pisa verursacht, oder auch der Energie, der Venedig unablässig ausgesetzt ist.
Mehrere hundert Jahre stand der David in einem Neigungswinkel von ein paar Grad. Das klingt nicht nach sehr viel, aber wenn man es mit sechs Tonnen Gewicht zu tun hat, die jahrhundertelang in jeder Sekunde eines jeden Tages ihre Wirkung ausüben, ist es viel. Ganz allmählich haben sich feine Haarrisse im Marmor gebildet. Dem rechten Bein, dem Standbein, geht es deutlich schlechter als dem linken. Je mehr sich die Statue neigt, desto weiter wird sich der Druck auf das Bein nach oben verschieben, bis der Marmor im kritischen Moment kurz unterhalb des Knies bricht.
Das große Problem sind Erschütterungen – der Straßenverkehr, der Bau eines nahegelegenen Tunnels für Hochgeschwindigkeitszüge, vor allem aber Erdbeben. Florenz liegt in der Nähe mehrerer aktiver Bruchlinien, und immer wieder gibt es seismische Erschütterungen. Im Dezember 2014 erschütterte eine Serie von 250 leichten Beben die Umgebung von Florenz, im August und Oktober 2016 bebte die Erde in Mittelitalien, mehr als 300 Menschen starben, die Ausläufer waren bis Florenz zu spüren.
Sooft sich die Erde bewegt, verstärkt sich die Neigung der Statue. Fünf Grad, sechs Grad, sieben, acht, neun. Die Schwerkraft wirkt nicht nur auf den Kopf des David ein, sondern auch auf den Rücken, sie drückt ihn nach vorn. Bei zehn Grad und mehr erreichen die beschädigten Fußgelenke den maximalen Belastungswinkel. Die vorhandenen Haarrisse werden immer größer – ein Erdbeben im Erdbeben –, sodass Beine und Fußgelenke unter dem Gewicht der Statue schließlich nachgeben: Der David bricht zusammen. Als Erstes landet sein linker Ellbogen auf dem Boden, der Arm, der die Schleuder hält. Er bricht entlang der bereits vorhandenen Risse, alten Narben von einem Malheur im 16. Jahrhundert. Dann wird der restliche Marmor zu Boden fallen – eine simple Frage der Physik: Kraft, Widerstand, die Sprödigkeit von Kalkkristallen, die Reibung von mikroskopisch kleinen Körnern. Michelangelos David wird explodieren.
Als ich den David zum ersten Mal mit eigenen Augen sah, ging mir nur ein Wort durch den Sinn – »perfekt«. Ich war zwanzig Jahre alt, müde, ungewaschen, auf meiner ersten Reise, mehr oder weniger ahnungslos. Er war wie eine Revolution – unmittelbar, heftig, ergreifend, wahr.
Diese erste Begegnung mit dem David war die stärkste Erfahrung, die ich je bei einem Kunstwerk erlebt habe. Die Figur ist riesig – 5,17 Meter hoch, dreimal größer als ein realer Mensch. Ich hatte mir den David immer als lebensgroße Figur vorgestellt. Tatsächlich etwas ganz anderes vorzufinden, kam mir wie ein Denkfehler vor, so als träfe man vor dem Taj Mahal ein und sähe, dass er in der Realität walnussgroß ist.
Monumental stand er da in seiner klassischen Pose: rechter Fuß flach, linker Fuß leicht gehoben, die Schultern straff, der linke Arm mit der Steinschleuder nach oben angewinkelt, die kräftige rechte Hand seitlich herunterhängend, der Kopf energisch zur Seite gewandt, einer strahlenden Zukunft entgegen. Er war ein Mensch und auch wieder nicht – er war weißer Stein, aber der Stein sah lebendig aus, wie Fleisch, mit Muskeln und Adern und Äderchen, fein und deutlich hervortretend, und alles verband sich mühelos zu einem großen Ganzen.
Ich empfand so etwas wie eine Offenbarung, das Versprechen, dass ich frei war von den Zwängen meiner Kindheit und Jugend – Autobahnabfahrten, Büroparks, Münzwaschmaschinen, Instabilität, Wandel, toten Hunden, Scheidung. Wenn es eine solche Vollkommenheit auf der Welt gab, dachte ich plötzlich, dann war vieles andere möglich: ein vollkomenes Leben, in dem man vollkommene Dinge schuf und eine ideale Daseinsform fand. Warum sich mit weniger zufriedengeben?
Die Entstehung des David begann 1464 mit einem Fehler, sogar mit mehreren Fehlern. Genau genommen mit so vielen Fehlern, dass das ganze Projekt von vornherein zum Scheitern verurteilt schien. Über den Ursprung und den Umfang dieser Fehler wird seit Jahrhunderten diskutiert, aber fest steht, dass Michelangelo für keinen dieser Fehler verantwortlich war, denn da war er noch nicht auf der Welt. Der Rohblock wurde elf Jahre vor der Geburt des Meisters aus dem Berg gehauen.
Der erste Fehler war der Stein selbst. Die Marmorschneider von Carrara sind bis heute quasi ein eigenes Volk, mit eigenem Dialekt, eigenen Strukturen und Berufshierarchien. Michelangelo war vertraut mit dieser Welt, er kannte sich aus, aber der Bildhauer, der den Block auswählte, Agostino di Duccio, hatte keine Erfahrung auf diesem Gebiet. Er war von einer der mächtigsten Florentiner Gruppen, der Wollweberzunft, beauftragt worden, eine Monumentalstatue des biblischen David anzufertigen. Sie sollte hoch oben im Domchor stehen, als Zeichen der Stärke, als künstlerisches Aushängeschild und als Warnung an alle Feinde der Stadt.
Doch Agostino war überfordert, er hatte nie mit einem so riesigen Marmorblock gearbeitet – niemand hatte das bislang. Der Block, für den er sich entschied, war groß, aber mangelhaft. Marmor soll schließlich durch seine Perfektion wirken: ein reiner weißer Block, aus dem Berg geschlagen, ein irrsinnig teures Unterfangen. Aber dieser Block hatte winzige Löcher und wies Äderchen auf.
Auch für die Steinhauer war es eine ungewöhnliche Herausforderung. Der Block war gut fünf Meter hoch und etwa zwölf Tonnen schwer. In den tausend Jahren zuvor war noch nie ein so massiver Marmorblock gehauen worden. Weil Marmor der Sorte Statuario vor allem in höheren Berglagen vorkommt, dauerte es Monate, bis das Ding unten im Tal war. Der Transport von Carrara nach Florenz – 120 Kilometer, zwei Stunden mit dem Auto – dauerte noch einmal zwei Jahre. Unzählige Männer waren an der Aktion beteiligt, Ochsen, Segelschiffe, Lastkähne, es gab widriges Wetter, monatelange Verzögerungen. Einmal fiel der gigantische Steinblock in einen sumpfigen Graben und musste mühsam wieder herausgeholt werden. Ein Wissenschaftler vermutet, dass die Risse in den Fußgelenken auf diesen Unfall zurückgehen.
Als der Block schließlich in Florenz eintraf, wurde er wie ein Wunder begrüßt. Vermutlich sahen die Leute nur die Größe, nicht die Unvollkommenheiten. Der Block wurde im Garten hinter dem Dom abgestellt, eine gigantische weiße Erscheinung in einer kleinen braunen Stadt. Von überallher kamen die Menschen, um das Wunder zu bestaunen.
Vertreter der Stadtregierung nahmen den Marmorblock in Augenschein. Sie waren entsetzt. Er war nicht nur eine schlechte Wahl, sondern auch stümperhaft bearbeitet. Agostino hatte den Block, wie üblich, im Steinbruch grob für die geplante Statue zurechtgehauen und auf diese Weise seinen ersten Fehler noch verschlimmert. Der ohnehin schmale Block war nun noch schmaler, und in der Mitte klaffte ein unübersehbares Loch. Wie sollte man jemals eine vernünftige menschliche Figur daraus machen? Manche Leute hielten die Sache für aussichtslos und gaben die Investition schon verloren.
Agostino wurde geschasst, die Arbeit eingestellt. Mehr als dreißig Jahre lang stand der Block hinter dem Dom, im Freien, ungeschützt vor Regen und Hagel und den Vögeln. Irgendwann gehörte er zum Inventar der Stadt. Ringsum war alles im Wandel, die Menschen und die Bauwerke, Regierungen kamen und gingen, aber der monumentale Block blieb. Bei den Florentinern hieß er bald halb respektvoll, halb spöttisch »der Gigant«.
Fast zwanzig Jahre vergingen bis zu meinem zweiten Florenz-Besuch. Ich war ein Erwachsener, knapp vierzig, fühlte mich aber in vielerlei Hinsicht älter. Das Haar, einst heldenhaft voll wie beim David, war deutlich dünner geworden. Morgens beim Aufstehen taten mir die Gelenke weh, besonders die Fußgelenke. Ein Arzt hatte sie kürzlich untersucht und Arthritis diagnostiziert, sie seien, hatte er gesagt, zwanzig Jahre älter als der übrige Körper.
Mein jugendliches Streben nach Vollkommenheit war, nun ja, nicht furchtbar erfolgreich gewesen. Ich war ein sonderbarer Mensch geworden, alles andere als ein Ideal. Mein Leben war eine Ansammlung von Ungeschicklichkeiten, Entfremdungen, gegenseitigen Enttäuschungen, aufgegebenen Projekten. Man sollte im Leben nicht nach Vollkommenheit streben. Es ist eine kindliche Fantasie, eine Karikatur – dieser Wunsch, nicht bloß gut zu sein, nicht bloß Erfolg zu haben, sondern makellos zu sein, alles zu überwinden, auch die eigenen Grenzen. Das ist eher neurotisch als heroisch, und man muss kein Psychologe sein, um die hässliche Kehrseite zu bemerken: Kontrollwahn, pseudofaschistische Reinheit, Selbstzerstörung. Wer Perfektion sucht, ist immer unzufrieden mit sich und der Welt. Und bald will man einfach weglaufen, verschwinden, woanders sein, nicht mehr existieren.
In den Jahren vor meiner zweiten Florenzreise hatte ich oft wochenlang Angstzustände erlebt, mit eiskalten Händen saß ich an meinem Schreibtisch und hätte so gern geweint. Meine Frau machte sich große Sorgen, sie fürchtete, ich könne einen Herzinfarkt erleiden. Schließlich bekam ich Tabletten verschrieben, die eine Art neurologisches Ungleichgewicht stabilisieren sollten. Es hat funktioniert, mehr oder weniger. Aber die Exzentrizität macht mir noch immer zu schaffen – die unwahrscheinliche Spannung zwischen den Bildern in meinem Kopf und der alltäglichen Realität.
Und so kehrte ich mit arthritischen Fußgelenken und gebrochenem Blick zurück nach Florenz und dem David. Die Stadt schien unverändert. Noch immer warteten die Menschenmassen stundenlang in der Gluthitze vor dem Museum, um eingelassen zu werden. Der David stand genau dort, wo ich ihn beim vorigen Mal gesehen hatte. Ich erlebte die gleiche Offenbarung: diese überwältigende Größe, diese Grandiosität. Noch immer dominierte er den Raum, noch immer schimmerte seine unfassbar subtile Muskulatur im Licht. Er sah sogar besser aus denn je, denn in der Zwischenzeit hatte man ihn gereinigt, Millimeter um Millimeter, für viel Geld und nicht ohne Kontroverse – Schmutz und Staub von 500 Jahren einfach entfernt. Der Marmor schien zu strahlen. Wieder meldete sich in meinem Kopf das Wort »perfekt«.
Doch es passte nicht mehr. Die feinen Risse in den Fußgelenken und Beinen des David konnte ich nicht sehen, aber ich wusste: Sie waren da. Ich wusste auch andere Dinge: dass etwa sein Marmorgesicht übersät war mit Löchern, die die Restauratoren gefüllt hatten, dass ihm ein Stückchen Marmor an einem unteren Augenlid fehlte, dass er den rechten kleinen Zeh mehrmals verloren hatte und dass 1991 ein Verrückter mit einem Hammer auf den linken Fuß eingedroschen hatte. Die meisten dieser Blessuren waren im Laufe der Jahrhunderte behoben worden, aber die Narben konnte man sehen.
1501 beschloss die Stadtregierung inmitten politischer Unruhen, den Giganten zu rehabilitieren. Aber würde ihn jemand retten können? Wie zu hören war, sollte Leonardo damit beauftragt werden, der genialste Künstler in Florenz (und Europa). Aber der Mann war ein Intellektueller, knapp fünfzig, der für Bildhauerei nur Verachtung übrig hatte, dieses stumpfsinnige Bearbeiten von Stein. Am Ende ging der Auftrag an einen weniger berühmten Florentiner, den 26-jährigen Michelangelo Buonarroti, einen Exzentriker, der sich in Rom mit seiner Pietà für den Petersdom, einem Werk von erstaunlicher Würde, Reife und Vollkommenheit, einen Namen gemacht hatte. Michelangelo eilte nach Florenz, um den Auftrag auszuführen.
Zuerst musste der Gigant in eine aufrechte Position gebracht werden. Das allein war schon eine ziemliche Leistung. Wieder kam ganz Florenz, um zuzuschauen. Der Block hatte 35 Jahre dagestanden, was etwa der Lebenserwartung eines Menschen der damaligen Zeit entsprach, und war in einem wirklich schlechten Zustand. Marmor wird am besten unmittelbar nach der Gewinnung bearbeitet. Je länger der Rohblock im Freien herumsteht, desto brüchiger wird er. Der Gigant war nun völlig »gargekocht«, wie man in Carrara sagte, von der Sonne ausgedörrt. Manche fanden, er sei nicht mehr zu ret- ten. Andere wollten zusätzliche Marmorstücke ansetzen. Es sei unmöglich, sagten sie, aus dem verbliebenen unförmigen Klotz eine akzeptable menschliche Figur zu gewinnen. Genau das sollte zu Michelangelos ewigem Ruhm beitragen: dass er nicht nur den ruinierten Block rettete, sondern auch ein Meisterwerk daraus schuf. Der zeitgenössische Kunsthistoriker Giorgio Vasari schrieb: »Und gewiss war es ein Wunder von Michelangelo, einen, der bereits zu den Toten gezählt wurde, wieder zum Leben zu erwecken.«
Das Wunder brauchte seine Zeit. Michelangelo erklärte zunächst, dass er unbeobachtet an dem David arbeiten wolle. Also baute man einen Bretterverschlag rings um den Giganten. Monatelang ackerte Michelangelo in dieser Hütte, den Blicken der Öffentlichkeit entzogen, mit den feinsten Meißeln, um jeden Zentimeter Marmor zu retten. Er war ein Experte, er wusste, wie mit diesem Block umzugehen war, er wusste alles über die Körnung und die Mängel und die Möglichkeiten. Ganz allmählich entstand der David, wie A. Victor Coonin in seiner vor zwei Jahren erschienenen David-Biografie (From Marble to Flesh) schreibt, »so wie ein Mensch langsam sichtbar wird, wenn aus einer Badewanne das Wasser abfließt«.
Als der Schuppen im Sommer 1503 schließlich für das Publikum geöffnet wurde, muss der David wie ein Wunder gewirkt haben. Aus dem verdreckten, alten, gargekochten Marmorblock war ein seidenglatter, riesengroßer nackter Jüngling geworden, eingefangen im Moment heldenhafter Aktion. Michelangelo hatte sich von den ungewöhnlichen Dimensionen des Blocks nicht einschüchtern lassen, sondern sie genutzt, um eine einzigartige Figur zu schaffen. Die geringe Breite des Blocks ergab den schlanken Körper (und keinen muskelbepackten Superman) mit großem Kopf und kräftigen Händen. Michelangelo gab der Figur eine grotesk gefurchte Stirn (die eher an einen Neandertaler als einen heutigen Menschen erinnert), weil er wusste, dass aus der Untersicht »realistischere« Elemente nicht zu erkennen wären. Der David – irreal und doch real, stilisiert, aber natürlich – sollte zum Inbegriff der Stadt werden.
Über die Frage des Standorts kam es zu Streit. Die Figur war so kraftvoll, so beeindruckend, dass es unvorteilhaft erschien (vielleicht auch technisch unmöglich war), sie wie ursprünglich geplant an der Fassade des Domchors unterzubringen. Am Ende wurde beschlossen, sie auf der Piazza della Signoria aufzustellen, für jedermann sichtbar. Zu diesem Zweck wurde ein besonderes Transportmittel konstruiert: ein riesiges Holzgerüst, in dem der David, mit Seilen gesichert und leise schaukelnd, auf eingefetteten Balken durch die Stadt gerollt werden konnte. Nachts musste er von bewaffneten Wächtern vor steinewerfenden Jugendlichen beschützt werden.
Am Ende einer viertägigen Reise wurde er feierlich auf dem Platz installiert. Die nächsten 369 Jahre stand er dort, in denen er von Donnerschlägen erschüttert, von Fuhrwerken angerempelt, von Vögeln beschmutzt wurde. 1527 versuchte ein Mob, das Rathaus zu stürmen, andere warfen, um die öffentliche Ordnung wiederherzustellen, schwere Gegenstände aus den Fenstern – Steine, Fliesen, Möbelstücke. Eine Sitzbank traf den David und brach ihm den linken Arm.
Michelangelo kehrte 1505 wieder nach Rom zurück, wo er die Sixtinische Kapelle ausmalte, die Kuppel des Petersdoms entwarf, seinerzeit das größte Bauwerk der Welt, und schließlich starb er, steinreich und berühmt, im Alter von 88 Jahren.
Unterdessen ging der allmähliche Alterungsprozess des Giganten weiter. Der gebrochene Arm wurde repariert, aber die Statue blieb im Freien stehen, Regen, Eis, Hagel, Wind und Vandalen ausgesetzt. Der David begann, erkennbar Schaden zu nehmen. Im 19. Jahrhundert machten Restauratoren die Sache nur noch schlimmer – sie verwendeten Wachs, wodurch sich der Marmor verfärbte, und Säure, die sich in die Oberfläche fraß. Bald musste der restaurierte David abermals restauriert werden. Durch eine schadhafte Regenrinne tropfte ständig Wasser auf die Statue. Besorgte Bürger setzten sich dafür ein, die Figur in einem geschlossenen Gebäude unterzubringen. Man steckte den David in ein schützendes Holzgehäuse. Und so schloss sich der Kreis: Er wurde in einem Bretterverschlag erschaffen, in einem Käfig versteckt. Und schließlich brachten ihn seine Beschützer auf Eisenbahnschienen, aufwendig quer durch die Stadt gelegt, in einen eigenen Saal in der Accademia. Aber der Saal war noch nicht fertig, weshalb der David jahrelang in seinem Holzkäfig ausharren musste, sodass sich Kolonien von Mikroorganismen bildeten, als wäre er ein riesiger Käse.
Mehr als eine Million Besucher kommen jährlich in die Accademia, und alle haben nur ein Ziel: die Rotunde mit dem David. Ich war im Sommer 2015 zum dritten Mal dort und sah den Leuten zu, die den David betrachteten.
Kein Lüftchen bewegte sich im Raum. Die Touristen fächelten sich mit Stadtplänen Luft zu, Fremdenführer führten ihre Gruppen wie Bataillone in die Schlacht. Eine Frau hielt an einer Säule ein Nickerchen. Ein Paar, das neben mir saß, unterhielt sich lebhaft auf Niederländisch – das Einzige, was mir bekannt vorkam, war das englische Wort »Sixpack«.
Und alle fotografierten wie verrückt. In der Accademia gilt schon lange ein Fotografierverbot, das sich mit der Verbreitung von Handykameras aber nicht mehr aufrechterhalten lässt. Das Smartphone hat gesiegt. Touristen stehen vor dem dreidimensionalen David und holen sich eine zweidimensionale Version auf ihre Touchscreens. Ich habe sehr viele Leute beim Schießen von Selfies beobachtet: das Gerangel um den besten Standort, das plötzlich festgefrorene Lächeln, das rasche Davoneilen. (Die Aktion hatte immer etwas Verstohlenes, als wäre es etwas Kriminelles.) Und der Kopf der Selfie-Fotografen war auf dem Bildschirm meistens doppelt so groß wie der des David.
Das beliebteste Fotoobjekt waren seine Genitalien. Die Leute waren ganz versessen darauf. Ich beobachtete einen typischen Amerikaner (Tommy-Hilfiger-Shirt, Oakley-Sonnenbrille, BMW-Baseballmütze), der von seiner Frau dabei fotografiert wurde, wie er die Hand scheinbar um den Hodensack des David legt – und dann fotografierte er seine Frau bei der gleichen Geste. Ein seriös wirkender Mann fokussierte sein iPhone äußerst konzentriert auf die Vorhaut des David.
Am anderen Ende des Raums fand ich den Saalwächter. Er saß auf einem Klappstuhl, das Kinn in die Hand gestützt, ein Muster an desinteressierter Gelassenheit. Er schien den Raum im Blick zu haben, ohne hinzuschauen zu müssen. Wenn er sprach, bewegte sich sein Schnurrbart über einem Mund, in dem ein paar Zähne fehlten. Er war gebürtiger Florentiner. Er erzählte von verrückten Touristen (weinend, in Badeschlappen) und von der großen Überschwemmung 1966, bei der sein Elternhaus bis zum zweiten Stockwerk unter Wasser stand.
Ich fragte ihn, ob er nach all den Jahren noch etwas für den David empfinde. Er verneinte. »Wenn man zwanzig Jahre jeden Tag Schokolade isst«, sagte er, »hat man es irgendwann über.« Überall begegnet man dem David. Es gibt Lesezeichen, Mousepads, T-Shirts, Poster, Uhren, Schlüsselanhänger, Becher, Kugelschreiber, Souvenirteller, Tortenheber, Schneekugeln, Zuckerlöffel, USB-Sticks und Weihnachtsschmuck. Es gibt Lederwarengeschäfte und Pizzerien und Parkhäuser, die seinen Namen tragen. Touristen können Schürzen kaufen, in denen sie aussehen, als hätte sie seinen Körper, den schlanken, muskulösen Torso, den kleinen Penis.
Und die vielen Statuetten, eine gigantische Armee von Miniatur-Davids, die in Schaufenstern stehen und auf all den berühmten Plätzen feilgeboten werden. Unweit der Accademia stieß ich auf einen Laden, der sich »David Shop« nannte. Noch nie hatte ich so viele Davids an einem Ort gesehen. Der kleinste war so groß wie mein kleiner Finger, der größte etwas größer als eine durchschnittliche Italienerin. Ich kaufte eine Puzzle-Postkarte mit dem Penis, der eine Sonnenbrille trug und »Ciao!« sagte.
Gleich neben dem Dom erstand ich einen exorbitant teuren David mit Wackelkopf. Er wackelte an zahllosen anderen Versionen seiner selbst vorbei. Von Weitem sahen diese Kopien halbwegs akzeptabel aus, aber aus der Nähe waren die meisten unglaublich schlecht. Ein Schaufenster-David war fast mannshoch und kostete mehr als 200 Dollar. Das Gesicht sah aus wie das eines mageren, glupschäugigen Kobolds. Die Muskeln waren schief und krumm, die Füße lang und knochig wie bei einer alten Hexe im Märchen. Es war eher eine Parodie als eine Hommage.
Im Shop der Accademia kaufte ich einen Aufkleber, auf dem einfach nur »David Mania« stand – ein Tribut nicht an den realen David, sondern an unsere grenzenlose Begeisterung für ihn.
Und wenn ich genug hatte von Florenz und den Menschenmassen, überwältigt vom Kitsch, der Hitze, den Straßenhändlern, der allgegenwärtigen Pseudorenaissance, wanderte ich hinüber auf die andere Seite des Arno, zu einem schlichten gelben Haus mit einem Schreibwarengeschäft im Erdgeschoss. Eine Gedenktafel an der Fassade, so weit oben, dass man sie kaum bemerkte, wies darauf hin, dass Fjodor Dostojewski, der große russische Schriftsteller, einst in diesem Haus wohnte. Hier arbeitete er an seinem Roman Der Idiot, den ich gerade zum zweiten Mal las. Dostojewski war gewissermaßen der Anti-David – hässlich, kleinwüchsig, bärtig, unsicher, nervös, krank, wütend, ein Prophet von Groll und Selbstzerstörung. Ich fand ihn unglaublich inspirierend. Er sprach mich an, inmitten dieses ganzen Kitsches und der Touristenmassen, über meine alte schlichte David-Interpretation hinweg. Er verwies auf etwas Komplexeres, Umfassenderes, Dauerhafteres.
Dostojewski, der 1868 mit seiner Frau nach Florenz gereist war, verachtete die Stadt mit einem bisweilen grotesken Hass, den nur jemand wie er für einen so schönen Ort aufbringen konnte. Er klagte über die Feuchtigkeit, den Regen, die Menschenmassen, die Hitze. Er bemühte sich nicht, Italienisch zu lernen, hockte lieber in seiner Stube und rang mit seinem Roman. Er blieb fast ein Jahr, nur weil er so arm war – praktisch sein ganzes Geld hatte er an den Roulettetischen Europas verspielt.
Wenn ich den David betrachtete, dachte ich an Dostojewski, und wenn ich Dostojewski las, dachte ich an den David. Der Idiot und der David stehen sich diametral gegenüber, haben aber doch viel miteinander zu tun. Der Idiot war Dostojewskis Versuch, einen idealen Menschen zu schaffen, einen modernen Christus – einen »vollkommen schönen Menschen«, wie er sagte. Allerdings musste er dieses vollkommene Buch unter demütigend unvollkommenen Verhältnissen schreiben: fern der Heimat, in großer Armut, voller Schmerz (seine junge Tochter war wenige Monate zuvor gestorben) und von epileptischen Anfällen geplagt. In der engen Wohnung über dem Schreibwarengeschäft kämpfte er mit seinem widerspenstigen Roman. Es wimmelt darin von erregten Menschenmengen, die aus dem Nichts in irgendwelche Räume hereingestürmt kommen. Die Handlung ist seltsam, schlingernd, unausgewogen. Der Held gilt allen als Narr, und wo immer er auftaucht, sorgt er für Schwierigkeiten. Thematisch und stilistisch ist Der Idiot eine grandiose Auseinandersetzung mit der Unmöglichkeit menschlicher Vollkommenheit. Diesmal, in Florenz, versetzte mich die Lektüre in eine innere Unruhe.
Im Gegensatz zu Michelangelo kam Dostojewski in der offiziellen Selbstdarstellung der Stadt nicht vor – keine Postkarten mit seinem Porträt, kein Dostojewski-Museum. Das machte ihn umso mehr zu einem Refugium – ein kleines Geheimnis, das ich für mich behielt.
Eines Nachmittags betrat ich einen Teil der Accademia, den die meisten Besucher wohl nie sehen, und wanderte durch ein Labyrinth von Treppen und Korridoren, bis ich vor einem kleinen Büro in der hintersten Ecke des Gebäudes stand. Hier arbeitete Angelo Tartuferi, der Museumsdirektor, der offizielle Hüter des David. An den Wänden hingen alte Gemälde. Tartuferi trug ein grünes Umbro-Polohemd und wirkte entspannt, lebhaft, unkompliziert. Er sprach elegant dahinströmende italienische Sätze, die er gelegentlich durch schallendes Gelächter unterstrich.
Wir sprachen über die Risse in den Fußgelenken des David, ein Thema, mit dem Tartuferi bestens vertraut ist. Ich fragte ihn nach der erschreckenden Studie der Geophysiker. Er verdrehte die Augen. Für ihn war das nur Wichtigtuerei. Wir wissen seit mehr als hundert Jahren von diesen Rissen, sagte er, und es wird nicht schlimmer. Der David steht völlig gerade, er ist eines der am aufmerksamsten beobachteten Kunstwerke der Welt. Nicht nur die Risse werden dokumentiert, auch jeder Fleck, jede Verfärbung des Marmors, sämtliche jemals ausgeführten Reparaturen, sogar die Form, die die herabfallenden Staubpartikel auf dem Boden bilden. Besucher werden hinter dem David einen wenig eleganten Plastikkasten bemerken, dessen Sensoren alle wichtigen Daten registrierten: Temperatur, Erschütterungen, Neigungswinkel. Das Ding heißt »Smartbrick. Neu. Schnell. Leicht. Smart.«
Tartuferi räumte jedoch ein, dass ein Erdbeben nach wie vor seine größte Sorge sei. Manchmal habe er Albträume. Diese ganzen Hightech-Sensoren können uns nur warnen, sind aber kein Schutz. Und wenn es stimmt, dass die Risse nicht schlimmer geworden sind – besser werden sie auch nicht. Es gibt bereits eine relative einfache Lösung: Die Risse können wir nicht wegzaubern, aber wir können den Druck verringern, der sie so gefährlich macht. Es gibt spezielle erdbebensichere Sockel, die so konstruiert sind, dass sich das Objekt eventuellen Bodenerschütterungen anpasst. Die Technik ähnelt derjenigen, wie sie von Architekten in San Francisco eingesetzt wird. Sie sind nicht furchtbar aufwendig und, wenn man die potenziellen Konsequenzen von Untätigkeit bedenkt, auch nicht furchtbar teuer: etwa 250 000 Euro, laut Tartuferi ein Bruchteil dessen, was das Museum in einem Jahr an dem David verdient.
Nach dem Erdbeben 2014 in der Region Florenz, als die internationalen Medien besorgt von einer möglichen Zerstörung des David sprachen, gab der italienische Kulturminister bekannt, dass man die Statue binnen eines Jahres auf einen erdbebensicheren Sockel stellen werde. Doch ein Jahr verging, und nichts passierte. Als ich im Sommer 2015 in Florenz eintraf, sechs Monate nach der Zusage des Ministers, rechnete ich damit, dass die Arbeiten an dem Sockel in vollem Gang wären. Doch es waren nur die üblichen Touristen da. Der David stand unverändert dort, gefährdet wie eh und je.
Ich fragte Tartuferi, was aus dem erdbebensicheren Sockel geworden sei. Es handle sich, sagte er, nur um eine verwaltungstechnische Verzögerung. Theoretisch konnte der Sockel jederzeit eingebaut werden. Die italienische Regierung habe ihm jedoch untersagt, die Arbeit durchführen zu lassen. Das Ministerium plane eine umfassende Neustrukturierung der italienischen Museen, und in diesem Zusammenhang sollten die berühmtesten (mithin lukrativsten) Florentiner Museen neue Direktoren bekommen – »Supermanager«, wie einige von ihnen bald hießen. Tartuferi war also Direktor auf Abruf, und ein so prestigeträchtiges Projekt wie die Rettung des David wollte ihm die Regierung nicht mehr anvertrauen. Der italienische Staat, der im Gefolge der Wirtschaftskrise selbst kollabiert war, wollte derjenige sein, der den David heldenhaft vor dem Kollaps bewahrt.
Das Problem war, dass niemand genau sagen konnte, wann die Amtsübergabe stattfinden und der neue Sockel installiert würde, wenn überhaupt. Tartuferi wollte die Sache seinem Nachfolger überlassen. Der würde sich, sagte er, zuallererst mit dieser Aufgabe beschäftigen müssen.
Tartuferi war nicht der Einzige, der mir eine solche Geschichte erzählte. Ich verabredete mich mit Contessa Simonetta Brandolini d’Adda, einer der einflussreichsten Persönlichkeiten in der Florentiner Kunstszene. Vor 18 Jahren hatte sie die gemeinnützige Organisation »Freunde von Florenz« gegründet, die die Restaurierung vieler gefährdeter Kunstwerke in der Stadt finanziert und beaufsichtigt, ob Skulpturen auf der Piazza della Signoria, Botticelli-Gemälde in den Uffizien oder Fresken in einer beliebten Kirche. Diese Organisation füllt eine große Lücke in Italien, denn für Erhalt und Pflege des Kulturerbes stehen immer weniger staatliche Mittel zu Verfügung. 2004 sammelten die »Freunde von Florenz« mehr als 600 000 Euro für die Restaurierung und Reinigung des David, und sie finanzieren weiter die regelmäßige Beobachtung der Statue.
Gern würden die »Freunde von Florenz« das Geld für den erdbebensicheren Sockel des David sammeln. Aber die italienische Regierung hat wiederholt erklärt, das sei Aufgabe des Staates. Die Contessa, eine unaufgeregte und nüchterne Frau, war erkennbar frustriert, als sie mir davon berichtete.
Zerstörung kann vielerlei Formen annehmen, nicht nur plötzlichen Einsturz und allmähliche Beeinträchtigung durch Witterungseinflüsse. Es gibt auch Tod durch Nichtstun, durch Vernachlässigung. Es gibt Tod durch Verehrung, durch Allgegenwart, durch subtile Demütigung seitens der Souvenirbranche. Auch die Superberühmtheit des David erschien mir wie eine exzentrische Belastung – die Spannung zwischen der realen Statue (dem einzigartigen Original) und dem allgegenwärtigen Bild. Gegenüber den Kopien und Imitationen ist das Original in hoffnungsloser Unterzahl. Wir kennen den David so gut und wissen das auch so gut, dass wir ihn gar nicht mehr sehen.
Insgeheim fand ich die Vorstellung eines zusammenbrechenden David sogar reizvoll, aber natürlich habe ich den Museumsdirektoren oder der Contessa oder sonst jemandem in Florenz nie davon erzählt. Es war ein kindischer, perverser, bilderstürmerischer Zug, ein dunkler Troll, der unter der ansonsten mehr oder weniger stabilen Brücke meines Bewusstseins hauste.
Das erinnerte mich wieder an Dostojewski, den Anti-David. Mein Troll hätte gut eine seiner Figuren sein können, etwa der griesgrämige Erzähler in den Aufzeichnungen aus dem Kellerloch. Die eigentliche Kraft der Romane Dostojewskis liegt aber darin, dass sie, trotz des ganzen Elends, in dem die Figuren leben, letztlich nicht düster sind. Sie sind tröstlich, inspirierend, ermutigend. Der Mensch ist zwanghaft, irrational und kleinlich, gewiss, aber auch selbstlos, intelligent und idealistisch. Bei Dostojewski begegnen wir einer radikalen Haltung, die mir als vollkommenere Vision von Vollkommenheit erscheint, weil sie der ganzen Welt gilt.
Ich begann, den David nicht als klassischen Helden zu sehen, sondern als Dostojewski’sche Figur. Er war, wie der Idiot, ein idealer Mensch, für den es keinen Platz auf der Welt gab – missverstanden, attackiert von Menschenmengen, Objekt unwürdiger Spielchen. Unser Verhältnis zu ihm ist weiß Gott verrückt: die Selfie-Obsession, die Untätigkeit der italienischen Bürokratie, die David-Manie. Aber wie eine Figur im Idiot sagt: »Um Vollkommenheit zu erlangen, muss man vor allem imstande sein, viele Dinge nicht zu verstehen.«
Auf meinen Streifzügen durch Florenz habe ich so viele grauenhafte David-Kopien gesehen, so plump, so grottenschlecht und so zahlreich, dass sie in der Masse schon wieder eindrucksvoll waren – als perfekter Tribut an Michelangelos Genie und an die holprige Geschichte der Statue.
Bei mir zu Hause stehen ein paar auf dem Kamin, ein grüner, der Wackelkopf, ein weißer, der wie ein Kobold aussieht. Ein anderer, ein kleiner Schlüsselanhänger, fiel kürzlich herunter und zerbrach – der Kopf sauber abgetrennt. Seine Bestandteile liegen jetzt bei den anderen.
Einen Monat nach unserem Gespräch musste Angelo Tartuferi seinen Posten als Direktor der Accademia räumen. Von dem erdbebensicheren Sockel war natürlich weit und breit nichts zu sehen. Als Nachfolgerin hatte man die deutsche Kunsthistorikerin Cecilie Hollberg ernannt. Wir trafen uns im Juni in einer eleganten Hotelbar mit Blick auf den Arno. Ich hatte eine distanzierte und förmliche Person erwartet, doch Hollberg war locker, unprätenziös und liebenswürdig, und mit ihrem leisen Humor füllte sie jede Gesprächslücke. Dass ausgerechnet sie die berühmteste Statue der Welt behüten sollte, schien sie sehr zu amüsieren. Sie sprach von dem David scherzhaft als ihrem Mann. Wir tranken Spritz und plauderten angeregt.
Ich erkundigte mich nach den Fußgelenken ihres Gatten. Hatte es seit ihrem Amtsantritt Fortschritte mit dem erdbebensicheren Sockel gegeben? Sechs Monate waren seitdem vergangen und anderthalb Jahre nach dem Versprechen ihres Vorgängers, den David auf ein zuverlässigeres Fundament zu stellen.
Es hatte sich nichts getan. Hollberg wirkte erstaunlich ruhig. Ein Erdbeben sei schließlich ein hypothetisches Ereignis, und sie habe viele andere, dringlichere Probleme übernommen. Es gebe Löcher im Dach, durch die es hineinregne. Fliegende Händler belästigten die Touristen, die vor dem Museum auf Einlass warten. Im völlig verstopften Zentrum von Florenz müsse Platz für einen Museumsanbau gefunden werden.
Nach ihrem Dienstantritt, sagte Hollberg, seien alle möglichen Leute aufgetaucht, um ihr zu erklären, wie der David zu retten sei. Jeder habe sich als Experte betrachtet, jeder schien etwas verkaufen zu wollen. Aber sie wolle sich Zeit lassen, alle Optionen prüfen. Irgendwann werde sie nach Los Angeles fliegen, um die Fachleute vom Getty Center zu befragen, wie sie ihre Statuen schützen.
Bis dahin, sagte sie, werde bei einem größeren Erdbeben, das Florenz erwische, jedes Museum Zerstörungen hinnehmen müssen, nicht nur die Accademia. Ich fand das keineswegs beruhigend.
Fotos: Andrea Frazzetta