SZ-Magazin: Seit etwa zwei Jahren zerstört der Islamische Staat systematisch Museen und antike Stätten in Irak und Syrien und stellt Videos davon ins Internet. Was ging in Ihnen vor, als Sie zum ersten Mal ein solches Video sahen?
Morehshin Allahyari: Ich konnte gar nicht glauben, dass so etwas wirklich passiert. Eines der ersten Videos zeigte das Museum in Mosul. Später stellte sich heraus, dass nicht alle Statuen, die darin zerstört wurden, Originale waren. Das machte es weniger schmerzhaft. Aber trotzdem, es war schlimm.
Warum tut es vielen Menschen fast körperlich weh zu sehen, wie Terroristen auf Statuen mit dem Vorschlaghammer einhauen?
Weil diese Kunstwerke die Geschichte und Kultur von 3000 Jahren Zivilisation repräsentieren. Diese Artefakte haben einen enormen kulturellen und religiösen Wert für ganz viele Menschen. Das gilt nicht nur für den Nahen Osten. Hier wurde Weltkultur zerstört. Man sieht in den Videos auch, wie die Terroristen eine Show abziehen, wie sie Kultur verhöhnen, wie sie die Vergangenheit umdeuten wollen – das nimmt einen mit.
Und Sie fassten den Plan, die Originalstatuen zu rekonstruieren.
Genau, ich hatte die Idee, digitale Technik, genauer den 3D-Drucker zu nutzen, um verschwundene oder zerstörte Dinge nachzubauen und zu archivieren.
Sie arbeiten seit 2012 mit dem 3D-Drucker.
Ja, für mein damaliges Projekt »Dark matter« (auf Deutsch: dunkle Materie, Anm. der Red.) habe ich Gegenstände mit dem 3D-Drucker nachgebaut, die im Iran verboten oder nicht gern gesehen sind: Satellitenschüsseln, Dildos, Simpson-Figuren. Später weitete ich diesen Gedanken auf andere restriktive Länder wie China, Nordkorea und Saudi-Arabien aus. Mir geht es darum, Wege finden, um Objekte zu schützen. Und gleichzeitig will ich mich gegen politische Vorherrschaft zur Wehr setzen.
3D-Drucker werden immer öfter zur Herstellung von Gegenständen genutzt. Es werden Zahnspangen und Autoersatzteile gebaut, aber auch Exponate in Museen dupliziert oder einzelne Bauteile für die Sagrada Familia in Barcelona erstellt.
Mit dem 3D-Drucker hat eine neue Ära hat begonnen, manche sprechen von einer vierten industriellen Revolution. Früher war es so: Wenn Menschen Gegenstände zerstört haben, ist mit ihnen oft auch die Erinnerung daran verschwunden, es blieben, wenn überhaupt, nur 2D-Abbildungen übrig. Mit dieser neuen Technik haben wir die Möglichkeit, Dinge physisch auferstehen zu lassen. Ich kann sie als Künstlerin ausstellen und so der Öffentlichkeit zugänglich machen.
Wie sind Sie bei Ihrem IS-Projekt genau vorgegangen?
Die größte Herausforderung bestand darin, alle Informationen über die Artefakte zu sammeln, ihre Größe, ihre gestalterischen Details. Ich musste dafür mit sehr vielen Menschen auf der ganzen Welt in Kontakt treten, mit Historikern, Archäologen, Mitarbeitern vom British Museum in London. Ich habe viele Texte und Dokumente zusammengesammelt, es war wie ein riesiges Puzzle. Das Mosul Museum zum Beispiel hatte keinen Katalog seiner Exponate.
Warum nicht?
Sie hatten einfach nie einen! Verrückt! Ich habe mit einem irakischen Spezialisten über die Exponate der Weltkulturerbestätte Hatra gesprochen. Er sagte, es gebe kleinere Broschüren, die die Artefakte aber bloß auflisteten. Er konnte mir zumindest mit einer sehr umfassenden Datei und hochauflösenden Fotos der Statuen helfen.
Und mit deren Hilfe haben Sie die Werke rekonstruiert. Aber wie macht man aus einem zweidimensionalen Bild eine dreidimensionale Figur?
Wenn man 20 bis 25 gute Fotos aus verschiedenen Blickwinkeln hat, kann eine Software diese zu einem digitalen 360-Grad-Modell zusammensetzen. Dieses Modell setzt der 3D-Drucker dann um. Schicht für Schicht wird aus Werkstoff, in meinem Fall Kunstharz, eine Figur erzeugt. Nicht im Maßstab 1:1, das geht mit dem 3D-Drucker auch gar nicht, sondern als verkleinertes Modell. Die Figuren haben eine Höhe von 20 bis 30 Zentimetern.
Welche Statue wollten Sie als erste wieder zum Leben erwecken?
König Uthal.
Ein Stammesfürst aus dem 7. Jahrhundert, angeblich ein Gefährte des Propheten Mohammed. Die Zerstörung der Figur war im Video aus dem Mosul Museum deutlich zu sehen.
Die Objekte, die in Mosul zerstört wurden, gelten als die historisch wertvollsten. Alle Historiker und Archäologen, mit denen ich sprach, erwähnten immer wieder Uthal.
Als hätte er einen besonders hohen emotionalen Wert für sie?
Genau! Ich mochte die Statue aber auch persönlich am liebsten. Wie er die eine Hand erhoben hat und die andere den Schwertknauf hält – das sieht wunderschön aus.
»Ich war nervös, als die erste Figur aus dem Drucker kam«
Um die Bedeutung der Statuen zu erfassen und eine Auswahl treffen zu können, mussten Sie sich in den historischen Hintergrund der Statuen einzuarbeiten. Wie schwierig war das?
Ich wusste selbst nicht, worauf ich mich da einlasse. Ein bisschen was über das Assyrische Reich und Stätten wie Hatra hatte ich in der Schule und an der Universität in Iran gelernt. Trotzdem betrat ich eine fremde Welt. Ein Historiker sagte mir: Um Informationen zu finden, musst du an dieses Projekt wie eine Historikerin herangehen, nicht wie eine Künstlerin, du musst lernen, historische Quellen zu lesen.
Technisch dagegen sind Sie sehr bewandert.
In San Francisco, wo ich lebe und ein Künstlerstipendium habe, ist die 3D-Drucktechnik mit Harz sehr verbreitet. Das Gute an Harz ist, dass es ein sehr hochwertiges und haltbares Material ist. Ich wollte kein einfaches Plastik verwenden, das leicht zerstört werden kann. Meine Figuren sind sehr massiv – fast, als wären sie aus Stein.
Und sie sind transparent, warum das?
Weil man erkennen sollte, dass darin eine Speicherkarte eingefügt ist. Darauf habe ich alle Informationen über die Figur gespeichert. Ich wollte eine Art Zeitkapsel schaffen, die vielleicht erst in 30, 40, 50 Jahren geöffnet wird. Die Karte ist versiegelt, man kann sie nur mit einem Messer oder einem anderen spitzen Objekt öffnen. Man muss das Artefakt aber nicht zerstören, um daran zu gelangen.
Wie war das, als König Uthal schließlich aus dem 3D-Drucker kam?
Ich war sehr nervös. Das Kunstharz, für das ich mich entschieden hatte, ist ziemlich teuer, und ich wusste nicht, ob der Druck gelingen würde. Aber als ich den überschüssigen Werkstoff entfernt habe und die Figur sah, wusste ich, dass ich etwas Wertvolles geschaffen habe.
Der Schlachtzug des IS ging weiter. Seit die Terroristen die Wüstenstadt Palmyra, Weltkulturerbe seit 1980, im Mai erobert hatten, sprengten sie zunächst die Tempel, im August die Triumphbögen, im September wurde Palmyra dann fast ganz zerstört. Walid al Asaad, bis vor Kurzem der Chef-Archäologe von Palmyra, sagte, die Stadt war »so etwas wie die Geisel des IS«. Vor kurzem wurde Palmyra von der syrischen Armee befreit.
Das soll nicht zynisch klingen, aber ich wusste, als ich mit diesem Projekt anfing, dass es zu mehr Zerstörungen kommen wird. Inzwischen sind es so viele, dass es unmöglich geworden ist, alle Kunstschätze nachzubilden. Was mich ein wenig tröstet, ist, dass die wissenschaftliche Gemeinde gerade zusammenrückt. Ich wurde in den letzten Monaten von sehr vielen kontaktiert, da gibt es viel Austausch auf der ganzen Welt. Aber es ist schon seltsam, dass ich in meiner Arbeit abhängig bin von der Zerstörung der Terroristen.
Wie wollen Sie Tempel und Triumphbögen nachbilden?
Fürs Erste bleibe ich bei den Figuren, weil sie mir emotional näher sind. Aber wer weiß: Vor vier Monaten wussten wir von der Hälfte der jetzigen Zerstörung noch gar nichts. Im zweiten Schwung meines IS-Projekts widme ich mich jetzt weiblichen Statuen, weil innerhalb dieser Kunstzerstörung auch ein wichtiger feministischer Aspekt steckt. Gerade will ich die Gorgone und eine Frauenfigur namens Simi rekonstruieren, insgesamt werden es vier oder fünf Figuren sein.
Wie informieren Sie sich eigentlich über die Zerstörung durch den IS? Die Situation vor Ort ist ja chaotisch.
Ich verfolge intensiv die Nachrichten. Außerdem erfahre ich von den neuesten Zerstörungen, weil ich mit all diesen Leuten in Kontakt bin, insgesamt 40 bis 50. Für mich ist es unglaublich wichtig, den direkten Zugang zu diesen Leuten zu haben, um auch das emotionale Ausmaß der Zerstörung zu verstehen. Natürlich sind alle verzweifelt angesichts der Zerstörungen in Palmyra. Denn machen wir uns nichts vor: Die Originale, das ganze Ensemble, haben wir für immer verloren.
Empfinden Sie es als Ehre, von der wissenschaftlichen Gemeinde so ernst genommen zu werden?
Total. Diese Unterstützung ist ganz wichtig für mich. Und das ist tausendmal mehr wert als die vielen Technologiefirmen hier im Silicon Valley, die sich gerade für mich und mein Projekt interessieren. Die würden sich da jetzt gerne dranhängen und sich auch engagieren, aber aus einem übergriffigen, fast schon kolonialistischen Antrieb heraus, wie ich finde. Da hätte ich aber das Gefühl, vor einen Karren gespannt zu werden.
Ist Ihre Arbeit ein Weg für Sie, Ihrem Heimatland wieder näher zu sein?
Absolut. Meine Beziehung zu Iran ist ja sehr virtuell, weil ich so weit weg lebe. Meine Familie und meine Freunde wohnen immer noch dort. Ich habe eine starke emotionale Verbindung zu dem Land.
Sie haben mal gesagt, als Kind im Iran sei das Internet Ihr Fenster zur Welt gewesen.
Meine Mutter war eine Flugbegleiterin. Ich hatte als Kind also verhältnismäßig oft die Möglichkeit zu reisen. Aber auch das Internet verbinde ich mit dem Reisen, weil es einem eine Art virtuelles Reisen ermöglicht. Ich erinnere mich gut daran, dass ich als Kind Stunden damit verbracht habe, ins Internet zu kommen – dauernd wurde die Verbindung getrennt. Aber ich hatte sehr viel Ausdauer. Beim Chatten habe ich viele Menschen aus der ganzen Welt kennengelernt und mit ihnen über Bücher und Musik gesprochen. Heute ist es immer noch nicht einfach, im Iran zu surfen. Das Internet ist sehr langsam, und es bricht oft weg.
Haben Sie mal überlegt, sich die Zerstörung vor Ort anzusehen?
Das würde ich gern, so würde mein Verhältnis zu den Figuren real. Aber es ist zu gefährlich. Ich glaube, dass ich mit meiner Arbeit hier nützlicher bin als dort, wo ich womöglich getötet würde.