»Ich bin authentisch«, sagte Hannelore Kraft im NRW-Wahlkampf. »Ich bin immer authentisch«, antwortete Sami Khedira auf die Frage, warum er auf dem Platz so cool wirke. »Für mich ist es wichtig, dass ich authentisch bleibe«, sagt der Golfprofi Martin Kaymer. »Seid authentisch«, raten Management-Trainer frisch beförderten Führungskräften und bekommen viel Geld dafür.
Könnte es sein, dass es reicht? Dass man anfängt, sich nach Lüge und Fälschung und Illusion zu sehnen, weil auf einmal jeder nur noch eines sein möchte: authentisch? Und weil man den Menschen, die von sich behaupten, es zu sein, alles Mögliche glaubt, nur genau das eben nicht? Eine Archivrecherche ergibt: Allein in der Woche, in der dieser Artikel geschrieben wurde, waren in der deutschen Presse 53 Dinge authentisch, darunter die Villa eines französischen Ehepaars, der Geschmack einer Tiefkühlpizza, das Verhältnis zweier Radiomoderatoren, Stefan Raab, die Dialoge eines neuen Romans, die Schauplätze im neuen Film von Dominik Graf und der Mainzer Fußballtrainer Thomas Tuchel.
Seit Jahren tobt eine Art Echtheitsterror in den Medien, so oft stößt man auf das »au«-Wort, und immer ist es positiv gemeint. Wer es nicht kennt oder aussprechen kann, sagt: »Ich bin ich« oder »Ich bin, wie ich bin« - als ob man nicht auch authentisch langweilig oder authentisch bescheuert sein könnte. Öfter als authentischen Menschen begegnet man eigentlich nur noch Markus Lanz oder Christine Neubauer. Wie es so weit kommen konnte, wurde längst von Philosophen, Psychologen und Soziologen analysiert: die Postmoderne; die Neunziger; die Spaßgesellschaft; die Multioptionalität. Unsere Verwirrung angesichts Tausender von Möglichkeiten, unser Leben und uns selbst zu gestalten, zu verbessern, zu modifizieren. Irgendwann konnten wir nicht mehr. Wir waren so überfordert, dass wir nicht mehr zwischen Schein und Sein, Original und Fake, uns selbst und dem, was wir sein wollten, unterscheiden konnten. Wir waren so erschöpft, dass wir anfingen, uns nach Echtheit zu sehnen. Oder zumindest danach, was uns als Echtheit angedreht wurde.
Und zusammen mit der Echtheit sehnten wir uns nach Einfachheit, Übersichtlichkeit und Bescheidenheit. Wir ließen unsere Gärten verwildern, kauften Einweckgläser bei Manufactum und antike Holzrahmen auf dem Flohmarkt, in die wir vergilbte Fotos unserer Urgroßeltern steckten. Wir kochten Marmelade ein, häckselten Ingwer vom Markt, buken Krustenbrot und hackten Holz für den neuen, äh, alten Kachelofen. Endlich fühlten wir uns wieder wie echte Menschen mit einem richtigen Leben. Wie in den Dokumentationen im Dritten Programm, wie früher eben, als es noch mehr Metzgereien als Waxing-Salons im Viertel gab. Und jetzt ist die Sache mit der »Authentizität« aus dem Ruder gelaufen: Design- und Einrichtungsfirmen haben sich darauf spezialisiert, neue Produkte für viel Geld zu verkaufen, die aussehen, als wären sie alt.
Art-Direktoren von Zeitschriften schwören auf den Effekt »inszenierter Authentizität«, was nichts anderes bedeutet, als dass bei Fotoshootings viele Stylisten dafür sorgen, dass die Fotos anschließend aussehen, als hätte kein einziger Stylist für irgendwas gesorgt. Kaum ein Schauspielerinterview oder Künstlerporträt, kaum eine Filmbesprechung kommt mehr ohne das Wort »authentisch« aus. Dazu passt, dass wir unsere Liebe für nationale Historiendramen entdeckt haben, die wiederum von unserer Sehnsucht nach Echtheit befeuert wird. Ein Kreislauf des Absurden, und fast immer mit dabei: Maria Furtwängler, Heino Ferch oder Veronica Ferres. Die aber können ihre Rollen gar nicht »authentisch« spielen, weil die Zuschauer dann für zwei Stunden vergessen würden, dass sie es mit einem Fernsehstar zu tun haben, was auf keinen Fall passieren darf, weil die Quote sonst in den Keller rutscht.
Bei Politikern ist es nicht anders: Die dürfen alles - nur nicht authentisch sein. Eine authentische Kanzlerin könnte sich keine zwei Wochen im Amt halten; sobald sie in die Öffentlichkeit tritt, muss sie eine Rolle spielen. Wenn überhaupt, dann ist Politik gespielte Authentizität - also ihr Gegenteil. Seien wir ehrlich. Wir sind der Sache mit der Echtheit auf den Leim gegangen. Sie ist eine Lüge. Und Adornos Diktum, dass es kein richtiges Leben im falschen gibt, eben doch mehr als ein Kalenderspruch.