Ich mag entgegenkommende Menschen. Vor allem beim Joggen. Tatsächlich gehe ich auch laufen, damit ich die Frauen und Männer betrachten kann, die meinen Weg kreuzen. Die Highlights gestern: eine schlanke Dame, die gleichzeitig so straff aussah, als hätte man sie von innen heraus ausgestopft; sie trug weiße Trainingsschuhe, hellblaue Kniestrümpfe, dunkelblaue Hotpants und ein weißes, enges Tanktop. Im Trab folgte ein Herr, der das Grau seiner Schuhe und das Grau seines Muscle-Shirts offenbar auf das Grau seiner Haare abgestimmt hatte. Später hechelte eine Frau an mir vorbei, deren Laufstil an den Schwimmstil eines Hundes erinnerte. Aber auch das sah irgendwie gut aus. Denn die Frau trug einen dieser Lauf-Miniröcke, mit dem sie auch auf einer Vernissage eine gute Figur gemacht hätte.
Wir gehen nicht mehr laufen, sondern schaulaufen, wir gehen nicht mehr nur ins Fitnessstudio, sondern betreiben einen Mordsaufwand, ehe wir eine Hantel überhaupt ansehen. Menschen bedecken sich mit Markenlabeln und behängen sich mit Hightech-Messgeräten. Darüber wird sich gern lustig gemacht. Nicht von mir. Ich finde es gut, wenn meine Mitmenschen Geld für Dinge ausgeben, die ihnen Spaß machen. Ich finde es gut, wenn sie gut aussehen wollen. Ich finde nur schade, dass alle bloß beim Sport gut aussehen wollen.
Meine Kollegen, männlich wie weiblich, erscheinen jeden Morgen wieder im gleichen Einheitslook zur Arbeit, eine fade Kombination aus alter Jeans, verwaschenem T-Shirt und XXL-Cardigan. Die Fifty Shades of Grey or Blue der Alltagsklamotte: schmucklos, lustlos, trostlos. Körperlos. Offenbar besteht das Ziel darin, mit den schmuddelig-blassen Farben von Linoleumboden und Büroteppich zu verschmelzen. Niemand will sich zeigen. Niemand will mit krassen Farben und engen Schnitten die Aufmerksamkeit auf seinen Körper lenken.
Kaum noch jemand würde sich trauen, mit einer ausgeleierten Jogginghose aus dickem Frottee zu McFit zu gehen. Stattdessen traut man sich damit jetzt in die Arbeit – oder, selbst erlebt, zu einem Date. Was geht da eigentlich schief?
Selbstverständlich ist es eitel, sich zum Sport adrett anzuziehen. Im weiten T-Shirt würde man ja die gleiche Rundenzeit um den See schaffen. Ohnehin gehen viele nicht aus Freude an der Bewegung laufen, sondern aus Hoffnung auf einen guten Hintern. Aber beim Sport haben wir eine Erklärung dafür, dass wir uns so teuer und sorgfältig gekleidet haben. Warum dieser zwölffarbige Windbreaker? Hält warm. Warum die irren Schulmädchen-Kniestrümpfe? Gut für die Wadendurchblutung. Das ist die wichtigste Funktion der Funktionskleidung: Sie liefert die Ausrede dafür, dass wir sie tragen.
Wer dagegen im Kostüm ins Büro schwebt oder im teuren Anzug seinen Auftritt im Restaurant hat, gibt preis, dass er das aus einem einzigen Grund macht: Er will
gefallen. Anderen und sich selbst. Er will angeschaut werden. Wir leben aber in einer Zeit, in der jeder nur sich selbst sehen und ganz authentisch sein soll. Wer viel Zeit vor dem Spiegel verbringt, wer sich für andere verwandelt und diese Arbeit noch nicht einmal verheimlicht, wirkt lächerlich.
Aber was ist eigentlich noch mal so schlimm an der Eitelkeit? Der Duden listet viele Synonyme für den Begriff auf: Geckenhaftigkeit, Selbstgefälligkeit, Affigkeit. Ich schlage hier ein neues Synonym vor: Höflichkeit. Das Leben ist traurig und hässlich genug. Arbeit bereitet oft auch Langeweile und Frust. Umso wichtiger ist es, dass man uns ab und zu verzaubert und entzückt. Dass ab und zu ein schöner Mensch in schöner Kleidung an einem vorbeiläuft oder am Esstisch gegenübersitzt.
Also bitte, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Freundinnen und Freunde, seid ein bisschen höflicher. Lernt vom Laufband fürs Leben und zieht euch auch einmal für den Kneipenabend so sorgfältig an wie fürs Fitnessstudio: Bunte Farben sehen nicht nur auf dem Trimm-dich-Pfad gut aus. Wer sich zum Kicken in ein Arjen-Robben-Trikot zwängt, wird auch mal den sanften Druck einer Krawatte ertragen. Es ist schön, euch zu sehen. Aber ich wünsche mir auch, ich könnte euch mal wieder hinterhersehen.
Illustration: Akira Sorimachi