Sein Werk, der größten Bibliothek der Menschheit ein Gesicht zu geben, beginnt Julius Deutschbauer an einem Freitag, dem 13. Eine Flasche Schnaps steht bereit. Er sitzt seiner ersten Leserin gegenüber, ein Tonband läuft, Deutschbauer fackelt nicht lange. »Welches Buch«, fragt er, »hast du noch nicht gelesen?«
Seneca bezifferte die Zahl der Schriftrollen, die mit der Großen Bibliothek von Alexandria verloren gingen, auf 40 000, die Sammlung der Akademie von Gundischapur soll ein Vielfaches umfasst haben. Die Bibliothek des Vatikans zählt mehr als zwei Millionen Bücher und Handschriften, die Deutsche Nationalbibliothek über 16 Millionen, die des US-Kongresses fast vierzig Millionen Bücher – und doch stehen sie im Schatten des größten Bücherschatzes der Menschheit: der Bibliothek der ungelesenen Bücher. »Bist du reich an ungelesenen Büchern?«, fragt Deutschbauer. »Ich denke schon, ja«, sagt die Leserin. »Doch – es gibt viele Bücher, die ich eigentlich gerne gelesen hätte und nicht gelesen habe.«
Dann heben Deutschbauer und die Leserin ihre Gläser. Sie trinken auf das Wohl des Autors, der das Buch schrieb, das sie an jenem Freitag im Juni 1997 als erstes in die Bibliothek der ungelesenen Bücher einstellen: Christoph Ransmayr. Auf dessen Werk Der Weg nach Surabaya folgen rasch weitere, die Leser doch nie lasen: ein Kochbuch, Kants Kritik der reinen Vernunft, Klassiker wie Bibel und Koran, Joyces Ulysses und Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Heute steht Deutschbauer – ein Künstler aus Wien – Hunderten von Büchern vor, jedes säuberlich mit dem Namen desjenigen beschriftet, der es nicht gelesen hat. Seine Bibliothek, als Kunstwerk angelegt, spielt mit einem großen Rätsel des Geschäfts mit Literatur: Wie viele gekaufte Bücher werden tatsächlich gelesen?
Der Buchhandel in Deutschland analysiert seine Kundschaft akribisch: eher Frauen als Männer, eher älter als jünger, eher reicher als ärmer. Das statistische Durchleuchten erstreckt sich bis zu prächtigen Kenngrößen wie der Kaufintensität, auf die Kommastelle genau ausgerechnet:Im Mittel kaufen Leserinnen und Leser im Jahr 12,3 Bücher – eine der wenigen Zahlen auf dem Buchmarkt, die steigen. Die Menge der Menschen, die Bücher kaufen, die Zeit, die sie lesend verbringen, die Zahl der Verlage, Buchhandlungen, Neuerscheinungen sinkt seit Jahren, zum Teil stark. Im Jahr 2010 kauften 35,9 Millionen Deutsche ein Buch oder mehr. Im Jahr 2019 waren es nur noch 28,8 Millionen, rund sieben Millionen weniger. So präzise diese Statistiken in ihrer Detailschärfe scheinen – der Börsenverein des Deutschen Buchhandels erhebt die Erstauflagen aus der Fossilienkunde (13 Titel im Jahr 2020) ebenso wie die Zahl der spirituellen Ratgeber aus Deutschland, die ins Koreanische übersetzt wurden (1 Titel) –, sie offenbaren nicht, wie viele der 12,3 gekauften Bücher pro Kopf wahrhaftig gelesen werden.
Es liegt in der Natur des Lesens, dass sich unsere Zwiesprache mit Buchstaben schwer durch Zahlen fassen lässt. Lesen ist ein außerordentlich intimer Akt der Vorstellungskraft, der über das bloße Entschlüsseln von Bedeutung hinausreicht. Sein Zauber setzt früh ein. Ein Kind, das Maurice Sendaks Bilderbuch Wo die wilden Kerle wohnen vorgelesen bekommt, füllt die berühmten Worte »Und jetzt machen wir Krach!« in seiner Fantasie mit eigenen Klängen, die allein ihm gehorchen – und spürt gleichzeitig, in etwas einzustimmen, etwas Größeres. Solche Erfahrungen steigern sich im Lebenslauf eines Lesenden. Bücher können Portale sein, Leuchtfeuer, Fluchtpunkte, bis sie – spätestens im Alter – Ausweis einer Gemeinschaft werden, aus den Gedanken vieler Autorinnen und Autoren gespeist. Ein Buch – egal, ob es Wolfgang Herrndorfs Tschick in der Pubertät ist oder Joan Didions Das Jahr magischen Denkens nach dem Tod eines geliebten Menschen – ist immer auch eine Echokammer, in der das eigene Empfinden auf Widerhall trifft. Beim Lesen ist der Mensch allein, aber nicht einsam. Beim Lesen verliert er sich, ganz bei sich.
Die Statistik nähert sich diesem Wunder auf Umwegen. Sie fragt in der Marktforschung selten, wie genau gelesen wird. Sie fragt, wie viele Bücher ein Mensch kauft, wie oft er in seiner Freizeit nach einem Buch greift, wie häufig er Bücher liest – mehrmals pro Woche? Alle paar Monate? Nie? Auf diese Art tritt eine Kluft zu Tage: Die Zahl der Menschen, die mehrmals wöchentlich ein Buch lesen, ist in Deutschland ziemlich beständig, zwischen 17 und 18 Millionen.
Knapp 29 Millionen kaufen Bücher, 18 Millionen lesen Bücher – was geschieht mit den Millionen Büchern dazwischen? Dienen sie Tsundoku? So heißt in Japan die Gewohnheit, Bücher zu kaufen, um sie neben dem Bett zu stapeln, natürlich mit der Absicht ihrer Auslese. Sind sie in Gänze ungelesen, die Bücher dieser Lücke? Angelesen, aber aufgegeben? Gilt eine nach der Hälfte abgebrochene Lektüre als gelesen? Muss ein Buch eigentlich Zeile für Zeile gelesen sein, Wort für Wort?
William Gibson eröffnet sein Buch Neuromancer von 1984 mit einem Gleichnis: »Der Himmel über dem Hafen hatte die Farbe eines Fernsehers, der auf einen toten Kanal geschaltet war.« Neuromancer ist der erste Teil einer Trilogie, die eine Zukunft ausmalt, in der alles und jeder digital ist, Gibson schöpft dafür Worte wie »Cyberspace«. Den dritten Teil holte die Zukunft dann ein: Mona Lisa Overdrive war das erste käufliche Buch, das vollständig elektronisch lesbar war, am Bildschirm. Damit bot sich der Statistik die Möglichkeit, Bücher – und sogar das Lesen selbst – berechenbar zu machen.
In digitaler Form sind Bücher in der Lage, die alte Rangordnung umzukehren: Während wir lesen, lesen sie uns
In digitaler Form sind Bücher durch die dafür notwendigen Lesegeräte in der Lage, die alte Rangordnung umzukehren: Während wir sie lesen, lesen sie uns. Nur viel genauer. Der Mensch da, vor dem Bildschirm, wie schnell liest er? Wie häufig, zu welcher Uhrzeit, wie regelmäßig? Wann bricht sein Lesen ab? Gerade das Lesegerät des größten Buchhändlers der Welt gilt als berüchtigte Überwachungsmaschine. Die Journalistin Adrianne Jeffries forderte 2020 alle Daten an, die Amazon mithilfe seines Lesegeräts Kindle über sie gesammelt hatte. Die Liste, die zwei Jahre zurückreichte, war länger als das wertvollste Buch der Druckgeschichte, Gutenbergs Bibel: Sie umfasste mehr als 90 000 Zeilen an Daten. Amazon hatte jede einzelne Berührung des Lesegeräts aufgezeichnet.
Zahlen und Buchstaben teilen jedoch ein entscheidendes Merkmal: Schiere Masse sagt wenig darüber, wie aussagekräftig sie sind. Auch Zahlen wollen gelesen werden. Wie schwierig – und wie lustig – das in Sachen Bücher sein kann, beweist eine Spielerei des US-Mathematikers Jordan Ellenberg. Er beschloss 2014, ein für alle Mal auszurechnen, welche der am meisten gekauften Bücher am wenigsten gelesen werden. Dazu zog er Daten heran, die Amazon damals öffentlich preisgab: Um Lust auf sein Lesegerät zu wecken, zeigte das Unternehmen zu E-Books an, welche fünf Stellen Leserinnen und Leser im Text am häufigsten angemerkt hatten. Ellenberg mutmaßte: Wenn viele Menschen ein Buch bis zum Ende lesen, werden sich diese Markierungen über seine gesamte Länge verteilen. Schafft aber niemand mehr als ein paar Seiten, häufen sich die fünf Stellen am Anfang des Buches. Ellenberg stellte auf die Schnelle eine Formel auf: Er berechnete den Mittelwert der markierten Seitenzahlen und teilte ihn durch die Gesamtzahl der Buchseiten. Je höher das Ergebnis – Ellenberg stellte es in Prozent dar –, für desto wahrscheinlicher hielt er es, dass die meisten Leserinnen und Leser das Buch in der Tat gelesen hatten.
Ellenberg erprobte diese Faustformel am sperrigsten Bestseller, der ihm in den Sinn kam – Stephen Hawkings Eine kurze Geschichte der Zeit. Und tatsächlich, das Ergebnis war niedrig, sehr niedrig: 6,6 Prozent. Dagegen errechnete er für Donna Tartts Roman Der Distelfink – eines der Bücher, das die Redaktion des SZ-Magazins auf den folgenden Seiten für ein Leben des Lesens empfiehlt – den stolzen Lesewert von 98,5 Prozent. Ellenberg taufte seine Methode zu Ehren aller ungelesenen Autorinnen und Autoren den »Hawking-Index«.
Er hat nie ein Hehl daraus gemacht, dass der Hawking-Index eine Spielerei war, eine spöttische Verbeugung vor dem Fetisch des gelesenen Buches. Die Daten, mit denen Ellenbergs Faustformel rechnet, lassen sich nämlich auch anders lesen: Vielleicht waren Leser im Lauf der Kurzen Geschichte der Zeit derart gefesselt, dass sie nicht mehr daran dachten, Stellen zu markieren. Vielleicht streichen sie nie Sätze in Büchern an, in elektronischen schon gar nicht. Vielleicht lesen sie ihren Stephen Hawking lieber auf Papier.
Aber vielleicht lieben sie das Lesen auch einfach auf die schöne Art der Menschen, die Julius Deutschbauer die Bibliothek der ungelesenen Bücher zusammentragen halfen. Der Künstler führt zu jedem Buch ein Interview mit der Person, die es nicht gelesen hat. Er fragt darin, auf welche Gesellschaft sie in diesem Buch wohl träfe, wie die Leute darin sprächen, welche Kleider sie trügen – er verlegt die Vorstellungskraft des Lesens vor das Lesen. So entstehen wundervolle Mutmaßungen über die Weltliteratur, ein Kanon im Konjunktiv, aus dem auch spricht, wie schön es sein kann, ein Buch gerade noch nicht gelesen zu haben.
Als Deutschbauer seine erste Leserin fragt, was ungelesene Bücher für sie bedeuten, antwortet sie, es gebe natürlich ungelesene Bücher, »von denen ich genau weiß: Die lese ich mein Leben nie mehr«. Aber alle anderen seien »eine Art Option im Leben – man kann sich immer noch darauf freuen«.