Helen Walsh, Schriftstellerin
Geboren 1977. Nach einer drogenschweren Jugend in Liverpool lebte Helen Walsh eine Weile abstinent - da war sie 28. Ihre Erinnerungen an diese Zeiten schrieb sie nieder: Ihr erster Roman Millie wurde ein großer Erfolg. Heute, zehn Jahre später, trinkt sie ab und zu wieder ein Glas Wein. Helen Walsh ist verheiratet und hat einen Sohn. Ihr neuer, dritter Roman heißt Ein mallorquinischer Sommer.
SZ-Magazin: Ist weibliches Verlangen ein Tabu?
Helen Walsh: Immer noch, ja. Es gibt viele große Autoren wie Philip Roth oder auch Vladimir Nabokov, die über alte Männer schreiben, die mit jungen Frauen schlafen. Die Geschichte wird selten andersherum erzählt. Und wenn, dann wird die Frau als schmutzig, pervers, als wirklich fucked up beschrieben.
Sie haben einen Roman geschrieben über Jenn, eine Frau in den Vierzigern, die mit Nathan, dem 17-jährigen Freund ihrer Stieftochter, eine Affäre beginnt. Soll das nun Ihr Plädoyer für weibliches Verlangen sein?
Ich wollte gegen unseren konditionierten Blick anschreiben und eine typische Männerrolle mit einer Frau besetzen. Das heißt nicht, dass ich Jenn mag. Sie hat mich als Figur fasziniert, aber ich konnte nicht mit ihr sympathisieren. Anderen ging es ähnlich: Als Ein mallorquinischer Sommer in England und den USA veröffentlicht wurde, bekam ich vor allem Briefe von Frauen. So wollen wir nicht repräsentiert werden, schrieben sie mir, das sei widerlich: Wie könne eine Mutter mit dem Freund ihrer Tochter schlafen? Meine Antwort ist: Weil sie nicht die Mutter ist! Sie würde es sonst wahrscheinlich nicht tun.
Sie riskiert trotzdem ziemlich viel für ein bisschen Sex.
Jenn sucht eigentlich mehr. Sie stellt sich vor, dass sie mit Nathan sensationelle Unterhaltungen führt. Ihre Strafe ist es, am Ende festzustellen, dass er gar nicht so clever ist. Dass sie sich was vorgemacht hat. Und ich glaube, das ist typisch Frau.
Ist Jenn schwach, weil sie ihrem Verlangen nachgibt?
Nein. Es kostet viel Kraft, sich dieses Verlangen einzugestehen und es dann sogar auszuleben. Ich finde die Frauen, die das tun, nicht schwach, sondern stark.
Vor elf Jahren schrieben Sie den Bestseller Millie, einen autobiografischen Roman. Er erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die sich Drogenexzessen und Sex mit Prostituierten hingibt.
Millie ist kein Roman. Das Buch habe ich herausgeschrien.
Auch Millie nimmt sich, was sie begehrt. Sie hat ihr erstes Mal mit 14 – mit einem Mann, der fast drei Mal so alt ist wie sie.
Ja, das ist autobiografisch. Der Mann war schon 37 und Vater. Ich wollte unbedingt mit ihm schlafen, und dazu musste ich ihn erst überreden. Ich habe ihn regelrecht verfolgt. Irgendwann gab er nach. Wir sahen uns drei oder vier Monate, dann machte er Schluss. Für mich war das in Ordnung.
Aber hätte er Sie nicht schützen müssen?
Doch, aber das wurde mir erst später klar, als ich ihm vor acht Jahren zufällig auf der Straße in Liverpool begegnete. Ich freute mich, ihn zu sehen, während er nervös war und sich offensichtlich schuldig fühlte. Ich wollte mit ihm reden, aber er lief einfach weg. Und ich kapierte, dass er sich immer bewusst gewesen war, dass ich ein Kind war. Dabei dachte ich, er nimmt mich als die Frau wahr, als die ich mich fühlte mit 14.
Warum sind die Frauen, über die Sie schreiben, immer Täterinnen?
Ich will unsere Rezeption von Frauenfiguren herausfordern. Mich ärgert, dass ein Charakter wie Humbert Humbert aus Lolita in Literaturseminaren als vielschichtig und charmant gelobt wird, obwohl er ein Monster ist. Ein geniales zwar, aber ein Monster!
Humbert Humbert heiratet eine Witwe und verführt ihre zwölfjährige Tochter. Nabokov nannte ihn einen »eitlen und grausamen Schuft«.
Ja, aber wir meinen seine Obsession zu verstehen und fühlen auf eine Art mit. Wäre Humbert eine Frau, würde sie nur als krank wahrgenommen, als pervers. Sex älterer Frauen wird als widerlich abgetan.
Aber haben Sie das nicht auch mal gedacht? Millie lassen Sie sagen, dass Ehen zerbrechen, weil die Frau ab vierzig so eklig zwischen den Beinen schmecke.
Millie wurde zwischen Männern sozialisiert. Ihr Umfeld bestand aus Typen, die das so sahen. Und Millie benimmt sich wie sie. Sie demütigt Frauen. Missbraucht sie. Aber je älter ich werde, desto mehr denke ich: Wir sind nicht wie Humbert. Vielleicht gibt es doch einen Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Sexualität, auch wenn ich mein halbes Leben dagegen argumentiert habe.
Was hat Ihren Blick verändert?
Ich wurde Mutter.
Seitdem glauben Sie an den Geschlechterunterschied?
Vorher hatte ich nie einen Nachteil gehabt, obwohl ich in einer weißen Gegend aufwuchs, die ziemlich rassistisch war. Ich erinnere mich, wie mein Vater zu mir sagte, da war ich zwölf oder 13, das Leben würde hart für mich sein. Erstens weil ich dunkelhäutig und zweitens weil ich eine Frau sei. Ich dachte damals: Niemals.
Wer sollte Recht behalten?
Ich fühlte mich nie im Nachteil. Bis ich schwanger wurde. Ich hatte den Auftrag einer Fernsehfirma bekommen, ein Drama über Liverpool zu schreiben. Der Typ vom Fernsehen sagte nur: Schreiben Sie mir etwas Großartiges. Sechs Monate später traf ich ihn wieder, diesmal hochschwanger. Er sah mich und sagte: Oh nein, nein, wir wollen keine schwangere Helen Walsh. Wir wollen jemanden, der uns authentische Szenen schreibt, und Sie werden jetzt mütterlich, verstehen Sie? Er lachte dabei. Das Projekt war gestorben.
Wie haben Sie reagiert?
Mein Blick auf den Feminismus hat sich verändert. Ich habe angefangen, mich mit Frauen zu solidarisieren, und wurde po-litischer. Heute verfolge ich die prekäre Situation von Alleinerziehenden, beobachte, wie sie in der Gesellschaft wahrgenommen werden. Und ich interessiere mich für die Lage der Frauen im Iran und Irak. Auch für ihre Rechte sollten wir kämpfen, damit sie nicht mehr vergewaltigt und öffentlich gesteinigt werden.
Die Frauen in Ihren Romanen sind eher antifeministisch. Für sie spielt Pornografie eine wichtige Rolle. Es scheint fast, als versicherten sie sich auf diese Weise ihrer Autonomie.
Millie mag Pornografie, das stimmt. Ich wollte, dass sie einen antifeministischen Blick hat. Ich wollte zeigen, dass Frauen genauso schmutzig und zerstörerisch sein können wie Männer. Aber es ging mir auch darum zu erzählen, wie stark Pornografie unsere Sexualität beeinflusst. Meine ersten sexuellen Erfahrungen fühlten sich total falsch an. Warum, verstand ich erst später, als ich Pornomagazine las: Die Typen hatten sich den Sex aus den Pornos abgeschaut und dachten, so geht’s.
Spielten auch Drogen eine Rolle? Sie haben mit 13 angefangen, Ecstasy zu nehmen, dann Koks. Sie sind durch die Pubs gezogen, waren tagelang drauf.
Das stimmt. Auf meinen Trips kam ich an wirklich dunkle Orte. Ich bin in Welten abgetaucht, von deren Existenz ich nichts wusste. Zwischen 18 und zwanzig habe ich sehr viel gekokst und dabei entdeckt, wie komplex sexuelles Verlangen sein kann.
Mit 28 haben Sie behauptet, Sie fühlten sich wie mit fünfzig. Und heute?
Ich war müde. Ich habe so viel erlebt zwischen meinem 13. und 25. Lebensjahr, dass ich mich ausgebrannt fühlte und lieber mit Vierzig- oder Fünfzigjährigen zusammen war, weil ich mir zwischen Gleichaltrigen alt vorkam. Das hat sich heute relativiert.
Ihre Protagonistin Jenn ist verheiratet. Ist sie eigentlich glücklich?
Ihre Beziehung hat etwas von einer arrangierten Ehe. Jenn ist 29, als sie ihren Mann Greg kennenlernt. Er bietet ihr ein besseres Leben, ein schönes Haus in einer guten Gegend. Und darauf lässt sie sich ein. Der junge Nathan aber weckt ein Verlangen in ihr, von dem sie dachte, dass sie ohne es leben könnte. Ich glaube, dass sich viele Frauen in ihr wiedererkennen, die diese Art von Kompromiss leben.
Leben Sie einen Kompromiss?
Ich vermisse nichts. Sobald man Kinder hat, wird die Beziehung natürlich komplexer. Sollte einer untreu werden, stünde viel mehr auf dem Spiel. Deshalb gehe ich nicht fremd. Wenn ich ausflippen möchte, schreibe ich. Ich denke, weibliches Verlangen ist genauso stark wie männliches, nur erwartet die Gesellschaft von uns, dass wir es beherrschen. Und in meinen Romanen lasse ich dieses Verlangen frei, meine Frauen sind eins mit ihrem Körper und ihrer Sinnlichkeit.
Früher hatten Sie vor allem Beziehungen mit Frauen. Warum wollen Sie trotzdem nicht als bisexuell bezeichnet werden?
Ich mag das Wort nicht. Die Silbe bi entzweit. Ich hatte lange nur Beziehungen mit Frauen, bin deswegen aber ich weder lesbisch noch hetero. Ich entscheide mich nicht für ein Geschlecht, sondern für eine Person. Nur weil ich mit einem Mann verheiratet bin, macht mich das nicht zu einer heterosexuellen Frau.
Sind Sie einverstanden damit, eine Frau zu sein?
Ja. Aber als Kind wäre ich gern ein Junge gewesen. Ich war ein Wildfang, hatte kurze Haare, und meine Eltern gaben mir einen Jungsnamen, ich bat sie darum.
Wie haben Ihre Eltern Sie genannt?
Andy. Sie fanden das auch nicht komisch, sie haben es einfach so hingenommen. Es war dann mein Lehrer, der anrief und sagte, er mache sich Sorgen. Ich müsse bald auf eine Mädchenschule wechseln, und da wäre es gut, wenn ich gelernt hätte, mit Mädchen zu spielen. Also habe ich meine Haare wachsen lassen und neue Klamotten gekauft. Die Umstellung war hart. Und noch heute, wenn ich auf den Schulhof meines Sohnes Leo komme und Mütter in Grüppchen stehen sehe… Da bekomme ich Angst.
Angst vor den anderen Frauen?
Ja. Deshalb wurde mein Sohn immer von seinem Vater in die Schule gebracht. Er ging auch mit ihm auf den Spielplatz, weil mich die herumstehenden Mütter nervös gemacht haben. Aber dann wurde Leo nicht zu den Geburtstagsfeiern eingeladen, und ich dachte: Du bist eine schlechte, selbstsüchtige Mutter. Streng dich an, geh, rede mit ihnen. Und das habe ich gemacht. Sie waren wirklich nett. Aber ich fühle mich immer noch als Außenseiterin.
Warum?
Ich weiß nicht. Ich gehörte nie zu einer Clique von Mädchen. Und ich kann zu anderen Müttern nicht ehrlich sein, weil ich immer darüber nachdenke, wie das, was ich sage, auf meinen Sohn zurückfällt.
Das klingt jetzt schon ein bisschen paranoid.
Ich weiß. Letztes Jahr war ich sogar auf Antidepressiva, weil ich mir permanent Sorgen gemacht habe. Wenn ich einen Krankenwagen hörte, wollte ich in die Schule laufen und nach meinem Sohn schauen. Ich war unruhig und verlor ganze Büschel von Haaren. Also verschrieb mir ein Arzt diese Tabletten, und mir ging es sofort besser. Ich entspannte mich, mein Sohn auch, wir hatten eine ganz andere Atmosphäre zu Hause. Nach einem Jahr rief mein Agent aus London an und fragte, wie es um das neue Buch steht. Ich hatte nichts geschrieben außer ein paar Sätzen, nichts von Bedeutung.
Und dann mussten Sie sich entscheiden, ob Sie lieber eine ruhige Mutter oder eine gute Schriftstellerin sein möchten?
Fiel mir nicht leicht. Ich setzte die Pillen schließlich ab und begann zügig zu schreiben. Natürlich wurde ich wieder unruhiger. Aber mein Sohn ist acht Jahre alt, er kennt meine Stimmungen und fragt mich manchmal: Bist du ängstlich, Mama?
Sorgen Sie sich, Ihr Sohn könnte Sie nach Millie fragen?
Ich weiß, eines Tages wird er lesen, dass ich Sex mit Frauen hatte, und wir werden darüber reden. Ich bin heute zurückhaltender. Das ist kein Opfer, sondern ein Bedürfnis. Ich will meinen Sohn nicht beschämen. Der einzige Ort, wo ich wirklich ganz ich selbst bin, ist das Schreiben.
Foto: Jenny Lewis/Camera Press/Picture Press