Wenn sein Vater ein Flugzeug gehabt hätte, sagt mein Vater, wäre er jedes Wochenende mit ihm auf dem Flugplatz gewesen. Er hätte gebettelt, mitfliegen zu dürfen. Auf Knien!
Mein Vater hat ein Flugzeug, seit 19 Jahren. Ich bin noch nie darin mitgeflogen. Obwohl mein Vater mich immer und immer wieder gefragt hat. Aber ich habe Angst. Und deswegen immer und immer wieder Nein gesagt. Jahrelang war das ein schwieriges Thema zwischen uns, ich war wütend, weil er mein »Nein« nicht respektieren konnte, er gekränkt, weil ich sein größtes Hobby ignorierte, seine Leidenschaft, und seinen Traum vom Pilotsein: Er wollte mit zwanzig unbedingt an die Flugschule der Lufthansa in Bremen, aber mit zwanzig war man 1963 noch nicht volljährig, er hätte die Unterschrift seines Vaters gebraucht. Und der unterschrieb nicht. »Lern was Anständiges«, hat er gesagt, und mein Vater lernte Arzt.
Irgendwann hat mein Vater aufgehört, mich zu fragen. Enttäuscht ist er immer noch. Zum letzten Mal flog ich mit ihm, als ich neun oder zehn war, irgendwann in den Achtzigern, in einer viersitzigen Cessna, die seinem Fliegerverein gehörte. Wir waren vorher essen gewesen, ein Sonntagsausflug, und ich hatte nach langen Diskussionen durchgesetzt, dass ich eine Erwachsenenportion Schweinebraten mit Knödeln bekam, nicht den Kinderteller »Lucky Luke«. Im Flug wurde mir schlecht vor Angst und Luftlöchern, ich übergab mich und verteilte das hart Erstrittene auf den Rücksitzen. Neben mir saß meine ältere Schwester. Mein Vater warf ihr Taschentücher nach hinten, sie sollte damit sauber machen. Sie übergab sich ebenfalls.
Den Rest des Sonntags verbrachten wir Kinder Cola trinkend im Schatten auf dem Flugplatz, während mein Vater das Flugzeug putzte. Seitdem weigerte ich mich, mitzufliegen.
Obwohl ich eigentlich keine Flugangst habe, also: nicht generell. Wenn mich eine Boeing 767 nach London bringt, nach Marokko oder nach Amerika, ist das okay für mich. Da steckt neueste Technik drin. Das Flugzeug, das meinem Vater und fünf seiner Freunde gehört, ist ein Oldtimer. Eine Piper PA-18-150 Super Cub aus dem Jahr 1951, ein Zweisitzer, vorn einer, hinten einer, wie in den Heinz-Rühmann-Filmen, Quax, der Bruchpilot, mit Steuerknüppeln zwischen den Beinen. Seit 1951 hat die Wissenschaft enorm dazugelernt, was das Fliegen angeht, Menschen waren auf dem Mond und sind heil zurückgekommen, dafür wurden modernste Materialien entwickelt. Die Außenhaut der Piper besteht aus Leinen.
Wenn man da mit dem Finger hineindrückt, ist ein Loch im Flugzeug.
Natürlich sagt mein Vater, es kann nichts passieren, was soll er auch sonst sagen? Ich kann ihm stundenlang prominente Absturzopfer in Kleinflugzeugen aufzählen: Uli Hoeneß, Buddy Holly, John F. Kennedy Jr., Steve Fossett – er hört gar nicht zu. Mit Angst brauche ich meinem Vater nicht zu kommen, da schüttelt er einfach den Kopf und sagt stur, kein Mensch müsse Angst haben in seiner Piper, selbst wenn der Motor ausfiele, könnte er sie noch landen. Mir wäre lieber, er würde sagen, dass der Motor nie ausfällt. Erstaunlicherweise schließt er selbst jedes Mal mit seinem Leben ab, wenn er in eine Boeing steigt. Dann bestellt er Whiskey, damit er nicht dauernd daran denken muss, ob die Piloten im Cockpit gerade schon die Notlandung diskutieren. »In einem kleinen Flieger weißt du immer, was los ist. Wenn der Pilot entspannt ist, ist alles in Ordnung«, sagt er.
Dabei fliegen bei den Airlines Piloten, die das beruflich tun, jung, dynamisch, uniformiert. Mein Vater ist 66. Noch älter als sein Flugzeug. Auch das macht mir Sorgen, selbst wenn er noch Skitouren auf Dreitausender geht, vor Kurzem den alljährlichen Gesundheits-Check beim Fliegerarzt bestanden hat und den Überprüfungsflug mit Fluglehrer. Und sein Flugzeug bei der jährlichen Technik-Inspektion keinerlei Mängel hatte.
Also werde ich heute mitfliegen. Ich habe für alle Fälle eine Valium eingesteckt und ich werde es hinter mich bringen. Meine einzige Aufgabe wird es sein, nicht ohnmächtig auf den Steuerknüppel vor mir zu fallen. Weil wir in diesem Fall abstürzen.
Wir treffen uns am Flugplatz im ober-bayerischen Ampfing. Der Unterschied zwischen Flugplatz und Flughafen ist die Idylle: Neben einer gelb-weiß-grünen Blumenwiese, die zugleich Start- und Landebahn ist, liegen ein paar Schafe im hohen Gras. Rentner-ehepaare betrachten interessiert die herumstehenden Kleinflugzeuge. Der Flugleiter – eine Art Skylotse, Geschäftsführer und Platzwart in einem – hört bei offener Tür Schlagerradio in seinem Häuschen.
Mein Vater wartet schon im Flieger, ich küsse meine Freundin ein vielleicht letztes Mal, laufe über die Blumenwiese zum Flugzeug und quäle mich auf den hinteren Sitz. Dicke Menschen müssen erst gar nicht darüber nachdenken, ob sie sich trauen, in so einem Flugzeug mitzufliegen – sie passen ganz einfach nicht hinein. Vier Gurte schnallen mich fest, rechts und links neben mir hört der Flugzeugrumpf wieder auf, und ich habe das Gefühl, in einem Go-Kart zu sitzen. Der Motor springt an, und irgendwie klingt das Dröhnen alt. Ich setzte die Kopfhörer mit Mikrofon auf, für die Verständigung mit dem Piloten. »Alles okay?«, knarzt die Stimme meines Vaters durch den Kopfhörer. »Ich habe keinen Fallschirm«, sage ich.
Wir holpern über das Gras in Startposition. Ich überlege, ob ich die Valium doch noch einwerfen soll, dann rasen wir an winkenden Menschen und trägen Schafen vorbei und mit einem Mal holpert es nicht mehr. Wir sind in der Luft. Wir schweben. Ganz glatt. Ich werde ruhig.
Aber nicht zu ruhig, weil ich weiß, dass mein Vater nicht aus seiner Haut kann. Er muss mich jetzt beeindrucken, wo er mich endlich hier oben hat. Also kippt er das Flugzeug, sodass ein Flügel auf die Häuser unter uns zeigt. »In dem Haus neben der Kirche bin ich aufgewachsen. Vom Nachbarhof hab ich die Hühner geklaut«, scheppert es aus meinem Kopfhörer. »Ich weiß«, brülle ich. Als Nächstes – die Piper fliegt wieder gerade – lässt er den Steuerknüppel los und hält die Arme über seinen Kopf. »Du fliegst!«, ruft er nach hinten. Ich kenne das, er spielt das »Jetzt musst du fliegen, sonst stürzen wir ab«-Spiel fast immer, wenn er jemanden mitnimmt, das war vor zwanzig Jahren schon so. Aber lustig war es noch nie. »Ich fliege nicht«, rufe ich ins Mikrofon, »ich will weiterleben!« Er hält die Arme nur noch höher.
Das Flugzeug bekommt leichte Seitenlage, weil ich den Knüppel nicht anfasse. Aber ich bleibe ruhig, erstaunlich. Also los. Vorsichtig lege ich meine Hände um den Knüppel, halte ihn gerade und schiebe ihn herum, fliege ein wenig nach oben und ein wenig nach unten. Dann übernimmt mein Vater wieder.
Ich sehe zwar nur seinen Rücken, aber ich weiß, dass er sich freut, mich dabeizuhaben. Wir fliegen über den Inn und ich drücke seine Schultern. Umarmen kann ich ihn nicht, wegen des Gurts, und dass ich grinse, sieht er ja nicht. Durch das offene Fenster bläst der Wind, unter uns ziehen die Felder vorbei, Dörfer und ein paar Wälder. Ich finde es großartig. Und muss an den Text von Ironic denken, ein Song von Alanis Morissette. Darin geht es um einen Mann, der sich sein Leben lang nicht traut zu fliegen, und als er sich dann doch überwindet, ist er hellauf begeistert. Und stürzt ab. »And isn’t it ironic?«
Lesen Sie auf der nächsten Seite: Kurz vor der Landung liegt die Maschine plötzlich schräg in der Luft.
Auf einmal wird es still im Flugzeug. Kein Dröhnen. Der Motor läuft nicht mehr. Man hört es nicht nur, man spürt es auch, es fehlt die Kraft, die treibt. Gerade hat mein Vater über Sprechfunk mitgeteilt, dass er jetzt den Motor ausmachen wird. Zum Landen. »Damit du siehst, wie einfach das im Notfall wäre.« Mein Vater will mir also beweisen, dass er all die Jahre recht hatte. Vielleicht will er mich auch schockheilen, was weiß ich. Jedenfalls sind wir 2000 Fuß, etwa 600 Meter, über dem Boden und segeln. Mit einem Motorflugzeug. Ich kann es nicht glauben. Andererseits sieht es ihm ähnlich. Und wir gleiten immer noch so ruhig, dass die Angst nicht kommen mag.
»Wir fliegen eine lange Kurve, dann landen wir«, krächzt mein Vater in meinem Kopfhörer. Wir sinken, leise und stetig, und ein wenig nach rechts geneigt. Dann liegt die Landebahn plötzlich vor uns. Allerdings ein bisschen früh, wir sind noch zu hoch, viel zu hoch, das sehe sogar ich. Mein Puls steigt, was macht mein Vater denn da? Plötzlich fliegen wir schräg und immer schräger, als würden wir schlittern, ich erschrecke, es ruckelt, und das Flugzeug, mein Magen und ich fallen ziemlich schnell ziemlich weit nach unten. Jetzt spüre ich doch Panik und atme tief ein, aber dann sind wir schon wieder gerade, die Wiese ist direkt vor uns und mein Vater setzt auf. Ganz sanft.
Später wird mir mein Vater den seltsamen Landeanflug erklären: Wir waren tatsächlich zu hoch. Üblicherweise startet man in einer solchen Situation durch – mit Motor. Aber mein Vater wollte mir ja beweisen, dass es im Notfall auch ohne geht. Also hat er in den sogenannten Seitengleitflug gewechselt: Dabei stellt man das Flugzeug schräg in die Luft, erhöht so den Luftwiderstand und verliert so »drastisch an Höhe«, wie Wikipedia schreibt. »Wenn man das kann, ist es völlig ungefährlich. Das ist wie in einem Aufzug nach unten zu fahren«, wird mein Vater sagen, »man warnt nur meistens die Mitflieger, damit sie nicht erschrecken.« Meistens.
Jetzt, in der Piper, als wir auf den Hangar zurollen, bin ich mir nur sicher, dass er schon wusste, was er da tat. Er ist der Pilot. »Respekt, alter Mann«, melde ich nach vorn, und bin mir ziemlich sicher, dass er jetzt grinst. Weil er stolz ist. Kein schlechter Ort für Vater und Sohn, so ein Flugzeug.
Sie finden, unser Autor Bastian Obermayer hat mit seiner Panik am Schluss der Geschichte etwas übertrieben? Hat er nicht. Und wenn Sie genau wissen wollen, was eine Landung im Seitengleitflug bedeutet, dann schauen Sie sich doch dieses Video an.
Peter Rigaud (Fotos)