Eine hohe Arbeitslosigkeit, eine an den Rand der Gesellschaft gedrängte Jugend, eine inkompetente Regierung – Viele mögen die Krawalle in Griechenland als ein Problem sehen, mit dem sie hier in Deutschland wenig zu tun haben. Aber die Spannungen, die sich in den vergangenen Tagen in Krawallen vor allem auf den Straßen Athens und Thessalonikis entladen haben, sind alles andere als exklusiv griechisch. Das zeigen demonstrative Solidaritätsbekundungen mit den griechischen Demonstranten in London, Madrid, Rom, Berlin, Kopenhagen und New York dieser Tage.
Wirtschaftskrisen haben junge Menschen auf der Suche nach einem Job immer schon besonders hart getroffen. Und nun steht die Weltwirtschaft vor der wahrscheinlich größten Rezession seit dem 2. Weltkrieg. Wenn also in den Straßen Athens „Kugeln für die Jugend, Geld für eure Banken“ skandiert wird, mag diese Botschaft einer vernünftigen Analyse nicht Stand halten, nachdenklich darf sie einen aber schon machen. Zugegeben: In Griechenland existiert seit langem eine radikale Linke. Griechische Studenten, Anarchisten und Künstler sehen sich seit Beginn des Siebziger Jahre als Speerspitze im Kampf gegen die Globalisierung. Gegen das Establishment zu sein, hat in Griechenland Tradition. Neu ist, dass sich breite Teile der Bevölkerung ihren Ansichten angeschlossen haben.
Griechenland - Wiege der Demokratie? Tourismusfolklore! Schwarzarbeit, Korruption und Vetternwirtschaft bestimmen den Alltag. Egal wo. Was die Demonstranten eint, ist keineswegs eine gemeinsame Idee, es ist die Wut auf das zur Verfügung stehende Politikpersonal, eine Wut, die in nahezu jedem griechischen Haus mit Händen zu greifen ist.
Auslöser für Wut und Protest war der Tod des 16-jährigen Alexandros Andreas Grigoropoulos. Die wahren Gründe aber liegen viel tiefer, in einer Misere, die seit langem im Land gärt.
Die Griechen haben es über Jahrzehnte hingenommen, dass zwei Familien (Familie Karamanlis auf Seite der Rechtskonservativen, Familie Papandreou auf Seiten der Sozialisten) in Gutsherrenmanier das Land regierten und sich ihre Pfründe sicherten. Dabei agierten die jeweiligen Familienoberhäupter aber derart schlampig, dass fast jährlich mehrere Skandale publik wurden. Vorläufiger Höhepunkt vor wenigen Wochen: Griechisch-orthodoxe Mönche des Klosters Vatopedi auf dem berühmten Berg Athos hatten mit einer Urkunde aus byzantinischen Zeiten Anspruch auf einen See und dessen Umgebung in einem Naturschutzgebiet in Thrakien erhoben. Experten bezweifelten die Echtheit des Papiers.
In einer für griechische Verhältnisse blitzschnell ausgehändigten Verfügung wurde der Anspruch dennoch von der Regierung anerkannt. Die äußerst geschäftstüchtigen Mönche tauschten die neu erworbenen Grundstücke sofort gegen erheblich wertvollere Staatsgrundstücke ein und verkauften einige davon gleich mal an eine Immobilienfirma auf Zypern weiter, die sie kurz zuvor selbst gegründet hatten.
Der Verlust für den griechischen Steuerzahler: rund 100 Millionen Euro. Gegen solche griechischen Amigos wirken deutsche Politiker, auch wenn sie Bonusmeilenflieger und Bundeswehrjetbenutzer sind, wie fromme Ministrantenanwärter.
Aber das war noch nicht alles: Als der Skandal aufflog, zog die Hälfte der griechischen Abgeordneten aus dem Parlament aus, um eine Abstimmung zu verhindern, in der gegen mehrere Kabinettsmitglieder Anklage wegen Korruption erhoben werden sollte. Zwei Minister der griechischen Regierung sind kurz darauf zwar zurückgetreten, wegen Korruption angeklagt wurde bisher niemand.
Beziehungen sind das Schmiermittel aller Geschäfte in Griechenland. Ein Beispiel: Wer krank ist und operiert werden muss, geht nicht ins nächstgelegene Krankenhaus. Er fragt zuerst Verwandte und Bekannte nach einem guten Arzt. Gut bedeutet, der Arzt versteht etwas von seiner Arbeit und der Briefumschlag, der unter der Hand in seiner Schublade verschwindet, ist nicht allzu dick. Das Spiel mit den Briefumschlägen nennt man „Stille Post“. Die Stille Post ist das Rückgrat des politischen Systems.
Die griechische Regierung unter Kostantinos Karamanlis, ohnehin nur mit einer hauchdünnen Mehrheit im Parlament ausgestattet, liegt auch deshalb am Boden. Die oppositionellen Sozialisten unter Georgios Papandreou fordern Neuwahlen. Kein Wunder: Sie führen in den aktuellen Umfragen deutlich und reiben sich schon die Hände. Bald sind sie wieder an der Reihe, ihre Klientel mit fragwürdigen Reformen ruhig zu stellen.
Zwar sind die Griechen gestandene Demokraten. Sie wissen, dass man weder Korruption noch Vetternwirtschaft vollständig verhindern kann. Das gehört zum System, das wird akzeptiert. Sie verstehen auch die Wut der Jugend über diese Zustände und leiden mit ihnen. Aber am meisten leiden die Griechen am inkompetenten und korrupten Personal, das für eine eventuelle Neuwahl zur Verfügung stünde. Das ist der wahre Grund ihrer Wut. Die Griechen sind ihrer Politiker überdrüssig. Für das Land der Demokratieerfinder ist das schlicht eine Bankrotterklärung.