Die Welt ist aus den Fugen, auch die der Mode: In Mailand, in Paris sickern Unsicherheit und stellenweise Panik aus den Modehäusern. Jahrzehntelang gab es jede Menge Menschen, die ein Vermögen für einen Anzug oder ein Abendkleid ausgaben, Anfang 2009 hat sich dieses Selbstverständnis in Luft aufgelöst.
Krise und Glamour, das passt höchstens noch für ein paar Scheichs und russische Oligarchen zusammen. Gut möglich, dass es in einem Jahr einige der großen Couturiers gar nicht mehr gibt. Die Aussichten sind also ziemlich schlecht für die Branche und damit äußerst gut für Helen Storey, 49, aus London. Storey, Modeprofessorin, Künstlerin, Designerin, sitzt in der Cafeteria des College of Fashion in London. Ein Ort, der so unglamourös ist – alter Teppichboden, alter Wasserspender, alte Sessel – dass man das Motto, das am Eingang zu lesen ist, für einen Witz hält: »London College of Fashion – we fashion the future«. Aber karge Orte spornen den Geist an, und Helen Storey verströmt trotz mörtelfarbener Trekkinghose stille, überzeugende Eleganz. Und Ernsthaftigkeit.
Sie wirkt wie eine Frau, die so viel erlebt hat, dass sie jetzt, mit fast 50, genau weiß, was sie nicht will: Schönheit als Selbstzweck. Denn was ist schon Schönheit? »Ich finde den Inhalt von Petrischalen längst spannender als die Kleider auf den Laufstegen.« Spannend klingen dann auch die Dinge, von denen Helen Storey erzählt, am Ende glaubt man fast, man säße in der Knoff-Hoff-Show Joachim Bublath gegenüber und nicht einer Modeexpertin an einem Fashion-College: Plastikflaschen, die sich in Düngemittel verwandeln, Abendkleider, die sich in Luft auflösen, Jacken und Hosen, die die Luftverschmutzung reduzieren.
Denn natürlich hat Mode mit Oberfläche, Luxus und Illusion zu tun, aber eben auch mit Umweltverschmutzung, Magersucht, Sklavenarbeit. »Mode ist etwas Soziales«, sagt sie. Mode soll die Welt nicht zu einem schöneren, sondern zu einem besseren Ort machen. Das ist ihr Motto. Denn die gute Nachricht ist ja, dass die Menschen auch im 21. Jahrhundert nicht nackt durch die Städte laufen werden. Sie werden weiter Geld für Kleidung ausgeben, aber diese ziemlich wahrscheinlich nach anderen Kriterien auswählen.
Es ist wie bei den Autos, da stehen auch die großen auf dem Prüfstand. Und wäre Helen Storey Autodesignerin, sie wäre die Gründerin eines Start-up-Unternehmens, das am ersten Elektroauto arbeitet, das schnittig, sicher, schnell und wahnsinnig begehrenswert ist. Storey überlegt nicht, ob die Röcke in der nächsten Saison kürzer oder die Schuhe höher werden, sie denkt nicht in Frühjahrs- und Herbstkollektionen, sie fragt nicht nach Stilen und Trends, sondern nach Bedeutung und Dringlichkeit von Mode, überhaupt nach ihrem Sinn. »Wer im 21. Jahrhundert Mode entwirft, sollte sich fragen, warum er das macht, in einer Welt, die ihn eigentlich nicht braucht.«
Trotzdem empfindet sie keine Schadenfreude über die Krise der großen Modehäuser. »Die Situation hat auch etwas Positives: Wenn etwas zusammenbricht, kann man noch mal von vorn anfangen und es besser machen.« Zusammenbrechen, innehalten, umkehren, weitermachen, das hat Helen Storey schon einmal hinter sich: Sie hat bei Valentino in Rom gelernt, anschließend ihr eigenes, nach ihr benanntes Label gegründet, war Anfang der Neunziger eine der erfolgreichsten Modedesignerinnen in England. Allein in London hatte sie vier Läden, den größten in der Kings Road, gleich neben Galliano und Vivienne Westwood; Madonna, Cher und Michael Jackson kauften bei ihr Abendgarderobe.
Und dann war 1995 von einem Tag auf den anderen Schluss mit dem Traum vom eigenen Modeimperium. Storeys Mann, der für die Firmenfinanzen zuständig war, erkrankte an Krebs. Storey pflegte ihn gesund, entwarf weiter, kümmerte sich ums Geschäft. Zu viel auf einmal – sie ging pleite, und zwar doppelt, meldete Konkurs an und ließ sich scheiden. Irgendwann stand sie in der Schlange auf dem Arbeitsamt und gab Autogramme. Heute, mehr als zehn Jahre später, ist sie Professorin und hat drei Gastprofessuren, unter anderem in Material Chemistry, und will die Welt retten. »Trotzdem denke ich nicht weniger an mich als früher«, sagt sie, »ich denke nur weniger über mich nach.«
(Lesen Sie weiter auf der nächsten Seite über Storey`s "dissolving dress": ein selbstauflösendes Abendkleid.)
Fünf Jahre ist es her – Storey las gerade ein Buch mit dem Titel Quantenmechanik für Dummies, als sie im Radio ein Interview mit dem Molekularchemiker Tony Ryan aus Sheffield hörte. Der erzählte, dass zwei Atome über Kilometer hinweg miteinander in Beziehung treten können. Storey ließ die Sache nicht los: Wenn zwei Atome eine Beziehung zueinander haben können, warum können nicht auch zwei Gegenstände miteinander kommunizieren, vielleicht sogar eine Verpackung und ihr Inhalt?
Sie rief Tony Ryan an und stellte nur diese eine Frage: »Mister Ryan, ist es möglich, dass eine Plastikflasche, die leer ist, merkt, dass sie leer ist, und sich in Luft auflöst?« Sie hatte Angst, Ryan würde laut loslachen, aber Ryan lachte nicht. Er sagte nur: »Miss Storey, diese Idee klingt vielleicht nach Alice in Wonderland, aber sie ist viel realistischer, als Sie glauben. Kommen Sie nach Sheffield.«
Seitdem arbeiten die beiden zusammen: Sie, aus der Welt der Mode, schwört auf Bikram-Yoga, er, der Chemiker, könnte ohne Rugby nicht leben. Gemeinsam tüftelten sie dann wirklich eine Plastikflasche aus, die sich in Wasser auflöst und zu einem Gel gerinnt, das als Dünger eingesetzt werden kann. Der Prototyp liegt derzeit zur Ansicht bei einem großen Unternehmen, das nicht genannt werden will.
Dann entwickelten sie in dreijähriger Arbeit das »dissolving dress«, das sich selbst auflösende Kleid: Ein Abendkleid, genäht aus hauchdünnem, stoffähnlichem Plastik, löst sich auf, sobald es mit Wasser in Berührung kommt. Der Stoff ähnelt dem Material, in das Geschirrspültabletten eingearbeitet werden, damit die Hände nicht mit dem Bleichmittel in Berührung kommen: eine komplizierte Polymerstruktur, die mit Wasser reagiert.
»Oh, ich habe Ihnen was mitgebracht«, sagt Storey, kramt aus ihrer Handtasche einen Plastikfetzen und schnippt ihn in ihr Wasserglas. »Sehen Sie, wie er reagiert«, ruft sie, »er tanzt, als wäre er lebendig, gleich bilden sich erste Farbschlieren, und nach ein paar Minuten ist er verschwunden.« Storey und Ryan zeigten ihre Erfindung in großen Einkaufszentren, wo Models in Wasser-behälter stiegen und Menschen – natürlich hingerissen – dabei zusehen konnten, wie sich die Kleider von den Körpern lösten. Nick Knight, einer der renommiertesten Modefotografen, drehte einen Film darüber (www.showstudio.com/wonderland).
»Natürlich will keine Frau, dass ihr Kleid verschwindet, sobald sie schwitzt«, sagt Storey. Die Aktion war nur ein Symbol, eine Metapher auf die Konsumgesellschaft, die aber das Tor zu praktischeren Entwürfen, zur Industrie und zu Sponsoren weit aufgestoßen hat. »Die Menschen glotzten auf die Models, aber das war nur unser Schaufenster, dahinter stehen ernste Absichten.«
Zurzeit arbeiten Storey und Ryan an einem Stoff, der die Luft reinigt, indem er Stickstoff aus ihr herausfiltert, sie nennen es »catalytic clothing«. Die Idee: Jeder Mensch trägt ungefähr 2,5 Kilogramm Stoff mit sich herum. Betrachtet man diese Stoffmenge unter dem Mikroskop, also auf Molekularebene, ergeben die einzelnen Fasern eine Fläche von der Größe eines Fußballfeldes.
Man kann sich vorstellen, was passiert, wenn in London oder Peking hunderttausend Menschen mit luftreinigenden Fußballfeldern durch die Gegend laufen. »In fünf Jahren werden sich Menschen solche Kleider kaufen«, sagt sie. Die Frage wird sein, wer diese Kleider dann im Sortiment hat: Gucci? Prada? Oder Firmen, deren Namen wir heute noch gar nicht kennen? Die es vielleicht noch gar nicht gibt?
Helen Storey scheint die Richtige zu sein, um einer Glamourindustrie, die nicht weiß, ob es einen Weg für sie gibt, und wenn, wohin er führt, ein neues, ein zeitgemäßes Outfit zu verpassen.
(Fotos: Alice Dellal for Wonderland, courtesy of SHOWstudio; Wonderland)