Glenn Lewis: »Immer in Bewegung bleiben«
»Glenn Lewis ist der Mann von Mamas bester Freundin. Wir spielen Schach miteinander. Er ist ein großer Stratege, Königsgambit ist seine Lieblingseröffnung. Er kennt mich gut und er ist weise. Ich verliere immer. Glenn ist 73, aber neugierig und immer offen für neue Ideen. Er ist ein großartiger Gesprächspartner, mit dem ich über alle Belange meiner Arbeit sprechen kann, insbesondere die technischen Aspekte. Als Künstler schafft er ständig Neues, er stellt alle möglichen 3-D-gedruckten Objekte her und hat mir schon einen Filmtrockner für zu Hause gemacht – oder einen 35-Millimeter-Halter für meine Hasselblad-Kamera. Ratgeber ist er eher insofern, als er mir die Zuversicht vorlebt, dass vieles möglich ist. Er erinnert mich ständig daran, dass man nie zu alt ist, um neue Dinge zu lernen.«
Die Fotografin Jessica Madavo, 22, lebt in London.
Anissa Helou: »Mach es dir nicht bequem in der Routine«
»Anissa Helou ist stark, eigenwillig, inspirierend, freundlich, großzügig, aufgeschlossen, superlustig und selbstironisch. Ihr Nachname bedeutet ›süß‹, und auch wenn sie es nicht zugeben würde, sie ist es tatsächlich. Sie ist mir ein Vorbild darin, keine Angst vor Veränderungen zu haben und mich nicht zu wichtig zu nehmen. Ihr wertvollster Rat an mich lautete deswegen auch, nicht in Routine zu verfallen, in der es sich die meisten Menschen bequem machen. Anissa ist 70 und pendelt immer noch zwischen Beirut, London und Trapani auf Sizilien. Sie ist eine berühmte Köchin. Mein Lieblingsgericht: Kharouf mehshi, ein typisches libanesisches Festtagsgericht mit Lamm. Sie bringt mir das Kochen bei, ich ihr das Fotografieren.«
Bea De Giacomo, 40, lebt in Mailand und hat Anissa Helou bei der Arbeit kennengelernt: Sie sollte sie öfter porträtieren.
Stefanie Moshammers Vater: »Wenn dir etwas nicht gefällt, dann sag es selbstbewusst«
»Ich habe jahrelang meine Großeltern fotografiert, als Kunstprojekt. Aber mein Vater stand zum ersten Mal vor meiner Kamera. Ich war erstaunt, wie er sofort eine Körpersprache für die Bilder fand. Er hat die Mode direkt verstanden und kein Problem mit dem nackten Oberkörper – ich wollte seine Brusthaare zeigen, er hat so viele. Als Rentner ließ er sich tätowieren, trug Lederjacke und Jeans. Das Alter hat ihn zugleich softer gemacht. Er war früher sehr direkt, ohne lange zu überlegen. Wir sind beide starke Charaktere und oft aneinandergeraten. Als ich geboren wurde, war meine Mutter 21, er 40. Er hat drei Kinder mit drei Frauen, meine Halbschwester ist so alt wie meine Mutter. Interessant, wie immer wieder neue Kapitel beginnen mit den Eltern – bis man erwachsen ist und sich das Elternkonstrukt verändert. Was ich vor allem von meinem Vater gelernt habe: Wenn dir etwas nicht gefällt oder andere etwas von dir wollen, was du nicht möchtest, dann sag es selbstbewusst.«
Stefanie Moshammer, geboren 1988 in Wien, bezieht in ihre Arbeiten neben Fotografien auch textile Elemente und bewegte Bilder ein.
Christiane Spehr: »Habe keine Angst vor neuen Dingen im Leben – auch nicht mit 85!«
»Christiane Spehr hat für mich mit ihren 85 Jahren immer noch etwas Jugendliches, sogar Kindliches. Sie platzt vor Lebensfreude und kennt keine Angst. Und sie hat diese innere Unruhe nicht, die viele Menschen heutzutage haben. Für Christiane ist kein Berg zu hoch oder zu steil, sie klettert noch überall rauf, fährt durch die Sahara oder mit dem Jeep die Dünen runter. Sie fürchtet sich nicht vor Knochenbrüchen. Ich kenne Christiane seit meiner Geburt. Sie war eine gute Freundin meiner Großmutter, und obwohl meine Großmutter vor 15 Jahren starb, ist Christiane immer noch eine Freundin unserer Familie. Sie ist ein fester Bestandteil in unserem Leben. Ich habe von ihr gelernt, keine Angst vor neuen Dingen zu haben und dass man manchmal einfach machen muss, ohne lange zu überlegen.
Zusammen waren wir mal auf Sardinien und haben einen Marmorsteinbruch besucht. Bei der Führung haben wir ein großes Marmorstück entdeckt, das abgebrochen war. Das Stück war riesig, so groß wie ein Oberschenkel. Christiane hat die Leute gefragt, ob wir das Stück haben können. Sie wollte es unbedingt mitnehmen, also haben mehrere Männer das dann in unser Auto geschleppt. Der kleine Mietwagen hing auf dem Boden, weil der Stein so schwer war. Zusammen haben wir das Stück aus dem Auto in den Hotelgarten geschleppt und unseren Namen druntergeklebt. Jetzt liegt das seit mehreren Jahren dort. Sie will das große Marmorstück immer noch nach Deutschland herbringen lassen. Es soll in meinem Garten stehen, sagt sie.
Christiane hat diese Lebensfreude und diese gewisse Einstellung, dass nichts unmöglich ist. Mit 80 mietete sie sich zum Beispiel ein Motorboot und sagte, dass sie fahren kann. Sie habe schließlich einen Segel- und Bootsführerschein. Gemeinsam fuhren wir dann in Höchstgeschwindigkeit im Kreis in einem Kanal. Sie ist außergewöhnlich, hat einen großartigen Humor und ein Gespür für Mode. Ihr Zuhause ist ein Museum mit verschiedensten Gegenständen, zum Beispiel Tuareg-Schwertern, die sie von ihrer Algerien-Reise mitgebracht hat. In ihrem Kleiderschrank findet man viele Vintage-Chanel-Kostüme.
Viele Jahre lang war Christiane Ärztin für Urologie und Chirurgin. Sie hat auch in afrikanischen Ländern gearbeitet und wurde für ihren Einsatz mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Ich muss mir eine Scheibe abschneiden von ihrem Selbstbewusstsein und ihrer Lebensfreude. Sie ist für mich eine Art Pippi Langstrumpf.«
Jelka von Langen kommt von dort, wo die Elbe in die Nordsee fließt. Sie arbeitet und lebt in Berlin.
Clémentine Schneidermanns Großmutter: »Mach die Menschen um dich herum nicht unglücklich«
»Meine Großmutter ist 90 Jahre alt. Sie ist gläubig und geht sehr regelmäßig in die Kirche. Im Fernsehen guckt sie gern Auktionen und verpasst keine Etappe der Tour de France. Sie wuchs in Nancy im Nordosten Frankreichs auf. Während des Zweiten Weltkrieges ging sie in den Süden, dort lernte sie meinen Großvater kennen, seitdem lebt sie in Nizza. Sie heirateten und bekamen drei Kinder. Meiner Großmutter war Familie immer sehr wichtig, ihre Werte sind ihr wichtig, aber mit Ratschlägen hat sie sich zurückgehalten. Überhaupt mischt sie sich nicht ein, sondern sagt ihre Meinung nur, wenn wir sie danach fragen. Ich mag diese Diskretion und ihre natürliche Eleganz, es sind für mich sehr anregende und schöne Eigenschaften. Wenn man das weiß, ist es natürlich ein kleines Wunder, dass sie diesen Fotos zugestimmt hat, das entspricht ihrer Zurückhaltung eigentlich gar nicht.«
Die Fotografin Clémentine Schneidermann, geboren 1991 in Paris, lebt in Frankreich und Wales.
Francesco Nazardos Vater: »Du musst etwas aus deinem Leben machen!«
»Mein Vater ist nicht immer der Erste, den ich um Rat bitte. Trotzdem kann ich ihn in jeder Situation um Rat fragen – sei es wegen der Zubereitung von Wildschwein oder wegen spezieller Modefragen. Durch ihn habe ich eine bestimmte Perspektive auf die Welt gewonnen, die für mich sehr wertvoll ist. Es ist schwierig zu beschreiben, aber ich denke, intellektuelle Neugier trifft es gut. Den besten Ratschlag bekam ich von meinem Vater, als ich 15 war. Ich war auf dem Weg in die Kleinkriminalität, völlig verloren, und fiel in der Schule durch. Statt sich aufzuregen, behandelte mich mein Vater wie einen Erwachsenen und fragte mich, was ich im Leben machen will. Er sagte, dass das alles sein kann, aber dass ich irgendwas aus meinem Leben machen muss. Das kam in dem Moment überraschend, aber genau richtig.«
Francesco Nazardo ist ein italienischer Fotograf. Er arbeitet in London und Mailand.
Nikki MacLarrons Großmutter Agnes: »Sie hat diese Vorstellungskraft, die alles zu einem Spiel werden lässt«
»Meine schottische Großmutter Agnes hat viel auf mich aufgepasst, als ich ein Kind war. Mit ihr unterwegs zu sein war wie in eine magische Welt einzutauchen. Wir gingen auf Küstenpfaden und am Strand spazieren, sammelten Muscheln und kleine Glasscherben, die vom Meerwasser weichgeschliffen worden waren. Sie dachte sich Geschichten aus, wir tranken Tee aus einer Thermoskanne und aßen Kekse. Sie hatte ihre Malsachen dabei und Wassermalfarben für mich. Viele Jahre hat sie sich um ihre Kinder und Enkel gekümmert, ihr Mann arbeitete auf einer Bohrinsel in der Nordsee. Die Malerei war der Teil ihres Lebens, der nur ihr gehörte. Dass man so etwas braucht, etwas, das nur einem selbst gehört und einem Halt gibt, habe ich von ihr gelernt. Und den Blick für Details. Wo auch immer ich hingehe, schaue ich mir immer noch Muscheln und Steine an.«
Die Fotografin Nikki McClarron, 34, lebt in London. Ihre 86-jährige Großmutter Agnes fotografierte sie in deren südenglischer Heimatstadt Torquay.
Robbie Lawrences Freundin Cathy: »Sie zeigte mir Techniken, die bei Angstzuständen in besonderen Situationen wie Prüfungen helfen«
»Auf den Fotos sieht man meinen Vater Alistair, 68, und Cathy, 75, eine sehr gute Freundin der Familie. Mein Vater ist Professor für Verhaltensbiologie, Cathy arbeitet als buddhistische Psychotherapeutin. Unsere Eltern haben uns Kinder immer ermutigt, über unsere Gefühle zu sprechen; der Küchentisch zu Hause war demokratisch und voller Humor. Cathy hat sehr viel Erfahrung, sie ist eine freundliche und nachdenkliche Person. Den ersten Rat meines Vaters, an den ich mich erinnern kann, gab er mir, als wir in Neuseeland lebten – ich war ungefähr fünf Jahre alt. Weder er noch ich schafften es, Ninja Turtles zu zeichnen. Ich wurde ungeduldig. Er sagte: ›Manchmal im Leben musst du eben deine eigenen Schildkröten zeichnen.‹«
Robbie Lawrence ist 34 und lebt in London. Er arbeitet als Fotograf.
Willem van Zoetendaal: »Entweder etwas ist fantastisch oder es ist Müll«
Foto: Paul Kooiker / Mini
»Willem van Zoetendaal war der beste Galerist, den man sich wünschen kann. Ein fantastischer Mentor. Ich habe so viel von ihm gelernt! Er ist Jahrgang 1950, eigentlich Grafikdesigner. Von 2000 bis 2014 hat er in Amsterdam eine Galerie für zeitgenössische Fotografie betrieben und Fotobücher herausgebracht – darunter elf Bände mit meinen Arbeiten. Mich beeindruckt sein Alles-oder-nichts-Prinzip. Er hat so eine klare und kritische Sicht auf die Kunst: Entweder etwas ist fantastisch oder es ist Müll. Diese ausgeprägte Haltung bewundere ich. Sein Rat, der mir für immer im Kopf bleibt, lautet: Der erste Eindruck eines Fotos wird durch Zeit, Ort und Kontext beeinflusst – und der beste Weg, diese Elemente als Künstler zu kontrollieren, ist, Bücher zu machen. Ohne ihn wären meine Fotobücher nie im Leben entstanden. Inzwischen hat er seine Galerie in ein Atelier umgewandelt, um eigene Kunstprojekte und Installationen zu entwickeln. Ich werde ihm immer dankbar sein.«
Paul Kooiker, 58, bewegt sich an der Schnittstelle zwischen Mode und Kunst. Er lebt in Amsterdam.
Luisa Delle Piane: »Sie erklärte mir, wie man über den Tellerrand hinausschaut und dennoch den eigenen Gefühlen folgt«
Foto: Dario Catellani / CLM
»Wenn ich an einem neuen Projekt arbeite und Anregung brauche, gehe ich gern durch die Galerie von Luisa Delle Piane. Sie war eine der Pionierinnen im Viertel Paolo Sarpi in der Mailänder Chinatown. Die Stücke und die Kuration hinterlassen bei mir immer etwas. Das Gespräch mit Luisa rundet es ab. Manchmal beginnt es mit Smalltalk, dann aber endet sie ganz mühelos mit etwas unglaublich Inspirierendem. Etwas, das Luisa mir erklärte, war, wie man über den Tellerrand hinausschaut und dennoch den eigenen Gefühlen folgt.«
Dario Catellani, 39, lebt in Mailand. Als Fotograf konzentriert er sich vor allem auf die Arbeit mit Mode.
Walter Benn Michaels: »Die größten Gedanken mit kleineren, poetischen und wunderschönen Dingen beginnen«
Foto: Daniel Shea / Webber
»Ich bin oft unsicher bei meiner Arbeit, verliere mich selbst und weiß nicht, wie ich weitermachen soll. Aber wenn ich nur zehn Minuten lang mit Walter spreche, reißt mich das aus meiner Grübelei, und ich habe sofort neue Ideen oder zumindest Richtungen, in die ich denken kann. Ich glaube, das liegt auch daran, dass ich immer wieder beobachte, wie Walter selbst die größten Gedanken mit kleineren, poetischen und wunderschönen Dingen beginnen lässt. Das regt mich sehr für meine eigenen Projekte an. Das Gleiche gilt für Walters außergewöhnliche Gabe, kleine Details und große Bilder in eine besondere Spannung zueinander zu setzen. Das passt zu unserem gemeinsamen Wunsch, aus Einzelteilen etwas Ganzes zu erschaffen. Außerdem lacht Walter viel, vielleicht ist das das Wichtigste. Und ich bewundere ihn für seinen Kunstgeschmack, er hat tolle Werke an seinen Wänden hängen.«
Der Fotograf Daniel Shea, Jahrgang 1985, lebt und arbeitet in New York.
Marinella Bertone: »Ihr Wissen fasziniert mich«
Foto: Claudia Ferri
»Ich kenne Marinella Bertone, seit ich klein bin, sie ist die Mutter eines Kindheitsfreundes aus Pescara in den Abruzzen. Da kommen wir alle her, nun leben wir in Mailand und sehen uns oft. Marinella ist Expertin für alternative Medizin: japanische, chinesische, indische, Homöopathie, Pflanzenkuren. Früher arbeitete sie in einer Klinik, nun führt sie ein Zentrum für die sogenannte medicina integrata, ganzheitliche Medizin. Sie hat mir damit eine ganz neue Welt geöffnet. Damit das klar ist: Ich vertraue der Schulmedizin. Meine Mutter hatte Krebs, ohne konventionelle Methoden hätte sie 30 Jahre weniger gelebt. Aber ich wehre mich gegen den unnötigen Gebrauch von Medikamenten, oft neigt man ja dazu, einfach mal etwas zu nehmen. Ich frage Marinella immer um Rat, wenn ich ein Problem habe, sie ist 72, sie hat viel erlebt. Das macht sie für mich nicht zu einer Weisen oder einem Guru oder so – überhaupt ist mir noch nie jemand mit besonderen energetischen Kräften begegnet. Das Foto wollten wir eigentlich im Garten machen, doch es war viel zu heiß, Marinella erträgt die Hitze nicht. So haben ihre Schwiegertochter und ich Laub, Efeu und Blumen gesammelt und einen Kopfschmuck daraus geflochten, für eine Aufnahme drinnen. Natur – das verbinde ich mit ihr.«
Claudia Ferri ist Fotografin. Sie hat lange in Rom gelebt, vor acht Jahren zog sie nach Mailand. Ferri macht hauptsächlich Porträtfotos.
Kerry J Deans Schwiegervater Neil: »Dieser Fototag mit ihm war viel schwieriger, als ich es mir vorgestellt hatte«
Foto: Kerry J Dean / Manifest Agency
»Mein Schwiegervater Neil ist 75 und völlig dement. Hier steht er in Port Meadow, das ist ein hübscher Park in Oxford. Ich wollte ihn dort fotografieren, weil wir da vor einem Jahr schon mal waren, er, mein Mann, mein Sohn, ein wunderschöner Ausflug. Da ging es Neil noch viel besser. Früher war er so ein selbstbewusster, charmanter, eigensinniger Mann. Er hat mehrere Wohltätigkeitsorganisationen geleitet, darunter die Obdachlosenhilfe Shelter und das Centre for British Teachers. Ich habe an ihm immer bewundert, wie viel Verständnis er für mich hatte, für die Aufgaben einer Mutter. Bei Männern seiner Generation hat man ja oft das Gefühl, das nehmen sie vielleicht nicht so richtig wahr. Neil war da ganz anders. Und hat mir all die Jahre viel Kraft gegeben. Jetzt aber musste ich auf ihn aufpassen, als hätte ich wieder ein Kleinkind. Alles, was ich mir an diesem Tag im Park aufregend vorgestellt hatte, war im Grunde eine Überforderung für ihn. Der Weg dorthin, die Kleidung, die ganze Situation – er hatte wirklich zu kämpfen. Und wenn man sieht, wie ein einst so kraftvoller Mann verfällt, ach, es ist traurig. Dabei hat Neil immer noch so etwas Besonderes in seinen Augen. Es scheint zu zeigen, wer er eigentlich ist.«
Kerry J Dean lebt in Sussex und nennt sich selbst in erster Linie Mutter und Fotografin.
Protokolle: Beyza Arslan-Tenha, Marc Baumann, Susan Djahangard, Max Fellmann, Gabriela Herpell, Oliver Meiler, Sara Peschke, Lars Reichardt, Lina Schönach, Dorothea Wagner