Die Schlange kriecht, aber kriecht ohne Koffer. Schuppiges Monster, das sich träge und lautlos durch die Halle windet, deren klimatisierte Endlosigkeit, Staublosigkeit, Ortlosigkeit schmerzhaft ist. Wo sind wir? In Rio. New York. In Moskau? Peking? In Überall sind wir.
Dieses Überall hier ist Peking.
Erster Satz, schattenhaft. China.
Schwefliger Morgen über der Stadt ohne Ufer. Aus der Luft gesehen, war der erste Eindruck: gelblich. Gelbliches Licht, Schornsteine und Baracken, in geradlinigen Mustern gebaut. Über Nowosibirsk hatte es Tiroler Speck gegeben, schwarzes Brot dazu. Die meisten verschliefen den Speck. Über Ulan Bator: ein Frühstück, fast alle wach. Über Peking: die Kissenschlacht. Jedes Mal wenn sie landen, gibt es eine Kissenschlacht, hinten, in der Economy, als sei die Orchestertournee nichts als eine lustige Klassenfahrt. Jetzt ist es kurz vor acht, Gábor Tarkövi steht am Gepäckband, das seit fünfzig Minuten keinen Koffer bringt. Auf Koffer warten ist tote Zeit. Tarkövi hat die Hände in den Hosentaschen, müde im Frösteln.
Er sagt: »Das machen die mit Absicht. Lassen uns warten, sagen nicht, warum. Es gibt Armani, Gucci, guck mal, da drüben, aber es ist genau wie früher, im Kommunismus. Keiner sagt dir, warum du wo wartest.« Er schaut sich um, als hörte jemand zu, ein unsichtbares Ohr. »Ich bin nicht gern hier. Alles original Scheiße.«
Gábor Tarkövi, der Ungar, die Trompete. Die Trompete, die im dritten Satz von Gustav Mahlers 9. Symphonie, in diesem Höllenritt der Verzweiflung, der erlösenden Vision schon die Töne zuteilt. Rein und klar, direkt aus dem Himmel, so strahlend spielt dieser Mann, dass jeder Mensch versteht, worum es geht, auch wenn er den Namen Gustav Mahler noch nie gehört hat.
Gábor Tarkövi ist in der Nähe von Budapest geboren, groß geworden in der Diktatur. Für einen wie ihn kann Peking zum Problem werden. Denn überall wird er Kameras sehen, wird sie nachzählen, immer neun Kameras, das glaubst du nicht, montiert an den mächtigen Kandelabern auf dem Platz des Himmlischen Friedens, und diktatorische Lautsprecher. Die wird er bellen hören, auch wenn sie schweigen. Ihm kann ja hier gar nichts geschehen, aber ihm geschieht die eigene Geschichte, das reicht. Er steht am Band und wartet.
Die Berliner Philharmoniker, 128 müde Musiker aus 25 Nationen, ihr Chefdirigent Simon Rattle, dazu Orchesterwarte, der Intendant, die Pressesprecherin, der Arzt, omnipräsent mit seinem schwarzen Köfferchen, sie alle stehen am Gepäckband des Pekinger Flughafens und warten. Von Berlin-Tegel sind sie gekommen. Peking ist die erste Station der Asientournee des Orchesters. Fünf Städte werden sie in 19 Tagen besuchen, zehn Konzerte spielen, Mahlers 9. Symphonie, Anton Bruckners 9., Maurice Ravel und Toshio Hosokawa, den Japaner, der ein Hornkonzert für das Orchester komponiert hat.
Von Peking wird es nach Shanghai gehen, von da nach Seoul, nach Taipeh und am Ende, knapp drei Wochen später, nach Tokio.
Und während sie warten, kriechen Arbeiter in den Bauch des Lufthansa-Jumbos »Duisburg«, der gechartert ist, um das Orchester auf dieser Reise zu fliegen. Der Bauch war warm, den ganzen Flug über geheizt auf 23 Grad, 8500 Kilometer lang, damit die Instrumente nicht leiden, damit der Leim der Celli nicht aufquillt, der Kontrabässe und Bratschen. Ein Vermögen sind sie wert, diese 162 Kisten mit »gebrauchten Instrumenten«, wie es in den Frachtpapieren steht. Sie werden auf Paletten geladen und mit Lastwagen in die Konzertsäle Asiens gefahren, die sie füllen sollen mit dem Klang, für den das Orchester in der Welt das beste der Welt genannt wird.
Busse stehen vorm Flughafen bereit. Drinnen riecht es nach Desinfektionsmittel – so wie früher die Sitzpolster der Züge im Ostblock. Langsam, im Stau der Autos, stottern die Busse sich Richtung Innenstadt, zum Hotel. Gábor Tarkövi sitzt am Fenster, schaut ins Diesige, schaut auf den 918er-Bus, der dicht neben ihm fährt, der zurückfällt und wieder gleichzieht auf der mehrspurigen Bahn. Der Arbeiter zur Arbeit bringt, Männer mit Pergamentgesichtern, die dösen, die um Sekunden die Nacht verlängern, im Takt, den der Stau vorgibt.
»Welche Musik passt zu dieser Stadt?«, fragt Tarkövi. »Mahler nicht, Bruckner auch nicht. Angeblich hat jeder den Hals voll von den Chinesen, aber es geht gar nicht mehr ohne sie. Drei Chinesen mit dem Kontrabass – das ist doch ein total politisches Lied.«
Tarkövi lächelt. Er ist kein trauriger Mensch, ein Draufgänger eher. Es muss die Müdigkeit sein, die ihn drückt, die gelbliche Stadt und dass noch alles vor ihm liegt. Fünf klimatisierte Hotelzimmer, sechs Konzertsäle, zehn Mal die Anspannung am Abend, Tausende Kilometer Flug.
Das Orchester fährt seit Jahrzehnten nach Asien, zum dritten Mal ist es in China. China, so heißt es, ist der Markt der Zukunft, auch für die klassische Musik. Alle großen Marken sind hier vertreten und kämpfen um Boden in Chinas Sozialismus, der längst ein gieriger Kapitalismus ist. Die Berliner Philharmoniker sind eine große Marke. Man kann das natürlich an Zahlen zeigen, man kann das aber auch sehen.
An den Tränen von Kiyoko Sugiya in einem kleinen Café in Tokio. Oder an Jae-Won Oh in Seoul, der aussieht, als sei er mit den letzten Tönen von Mahlers 9. Symphonie selbst in einen Zustand des Erlöstseins gekommen.
Aber jetzt: Peking. Im »Grand Hyatt«, das nahe dem Platz des Himmlischen Friedens liegt, werden die Zimmer bezogen. Nicht lange, und man sieht auf den Fluren, wie Putzfrauen stehen bleiben, kurz nur, weil das fremd ist für sie: Aus jedem Zimmer dringen andere Töne, gedämpft durch stoffbezogene Wände und dicke Teppiche. Ein Horn, eine Klarinette, das Cello. Mit Ehrfurcht begegnen sie diesen Menschen, die das machen können, was in der Vorstellung vieler Chinesen Ausdruck westlichen Lebensstils ist: klassische Musik. In Asien ist jedes einzelne Orchestermitglied ein Star, die wenigsten benehmen sich so.
Der Chefdirigent schon gar nicht. Pressekonferenz im NCPA, dem National Centre for the Performing Arts, einem Kultur-Ufo gigantischen Ausmaßes, das der französische Architekt Paul Andreu im Zentrum Pekings gebaut hat. Sieben Fernsehkameras und zwei Dutzend Fotografen warten im Pressesaal auf Simon Rattle. »Die Berliner Philharmoniker hatten so viele bedeutende Dirigenten, und jeder hat das Orchester geprägt«, sagt ein Mann vom Musik-Journal, »welchen speziellen Stil haben Sie entwickelt?«
»Habt ihr den Pups gehört?«, fragt Dominik Wollenweber seine Kollegen.
Bei Philharmonikern, Fans und Medien gleichermaßen beliebt: Dirigent Simon Rattle.
Tja, welchen? Rattle überlegt kurz, sagt: »Man steht immer auf den Schultern bedeutender Menschen, und ich bin der Letzte, der sagen könnte, was ich geformt habe in den letzten Jahren. Sie haben ja Ohren, es zu hören.«
Olga Galperowitsch, eine kleine rundliche Ukrainerin, zuständig für die Sendung Treffpunkt Kultur bei China International Radio, sagt später: »Was für ein unkomplizierter Mensch der Simon Rattle doch ist, ich bin total überrascht. Die Chinesen haben gar kein Wort dafür, also für diese Unkompliziertheit, deshalb sagen alle nur: He’s so beautiful!«
Olga Galperowitsch wäre gern in eines der beiden Konzerte gegangen. Umgerechnet 400 Euro hätte sie bezahlen müssen. Auch für 500 Euro gab es noch Karten. Sie sagt: »Ist doch Wahnsinn, davon kann ich mir für Wochen was zu essen kaufen.«
Als die Musiker das Kultur-Ufo zum ersten Mal betreten, verlaufen sich einige in den unterirdischen Gängen des Gebäudes, geistern umher zwischen Frackkisten und Toilettenräumen, laufen schließlich dem Klang nach, dahin, wo Kollegen sich einspielen, da muss es zur Bühne gehen. 1700 Menschen arbeiten im Kultur-Ufo, tausend Vorstellungen in vier Sälen laufen im Jahr, alles unter einem Dach. Selbst auf den Toiletten hängen Flachbildschirme, die die wichtigsten Aufführungen des Hauses zeigen.
Vor vierzig Jahren musste, wer Beethoven oder Mozart spielte in diesem Land, noch fürchten, dass Maos Kulturkämpfer ihm womöglich die Finger brechen. Das Einzige, was hier an diese Zeit erinnert, was fast archaisch wirkt, sind die langen Bambuszangen, mit denen die Klofrauen den Abfall aus den Eimern angeln.
Wie sagte der General Manager des NCPA-Orchesters in seinem Büro? »Wir wollen uns gern New York und London angleichen.« Was das heißt? Peking soll einen Namen haben in der ersten Reihe der Kulturmetropolen der Welt. Der Besuch der Berliner Philharmoniker macht sich da natürlich gut.
Und was antwortete Martin Campbell-White, Chef der Agentur, die diese Tour mit geplant hat, auf die Frage nach den Gagen, die die Berliner auf so einer Reise bekommen? »Ich kann Ihnen versichern, dass es weltweit keine höheren Gagen gibt.«
Das Geld ist das eine. Die Sponsorenempfänge für Mister Kao, Mister Lin, Mister Tseng und Mister Chang. Das Business.
Das andere ist die Unsicherheit des Einzelnen, das Ringen um jeden Ton. Die Hingabe. Spielen, als ginge es um Leben und Tod, balancieren an den Rändern des Daseins. So soll es sein bei Mahler, bei Bruckner. Solche Musiker braucht das Orchester, denn das ist seine Tradition. Madeleine Carruzzo, die erste Frau, die ins Orchester kam, wird erzählen, wie Herbert von Karajans Ohr ihr und anderen Neuen auf fordernde Weise nachspürte, um herauszukriegen, ob sie genau das hat: die Bereitschaft, für die Musik an die Grenze zu gehen. Sie wird lächeln über sich, weil es pathetisch klingt, was sie erzählt. Dabei hatte sie Angst, damals. Jahre ist das her. Hingabe entzieht sich den Kategorien von Markt und Geld.
Der Saal im NCPA klingt kalt wie eine Eishalle, kalt und trocken. Man fragt sich, ob das auch an den Saaldamen liegt. An ihrer hochgeschlossenen grauen Kleidung, am verknoteten Haar. Kaum ein Lächeln im Gesicht, und sobald jemand sein Mobiltelefon herausholt, um ein Foto zu machen, was natürlich verboten ist, trifft ihn hart ein roter Laserstrahl. Jede der Damen hat so ein Laserschwert in der Hand, einen Pointer, und weil viele im Publikum ein Foto machen, huschen während des Konzerts rote Blitze durch den Raum. Ravel und Hosokawa vor der Pause, ein freundliches Klatschen für den japanischen Komponisten, danach Anton Bruckners 9. Symphonie. Am Tag darauf Mahler.
Als das Orchester 1979 mit Herbert von Karajan zum ersten Mal nach China kam, gab es noch gar keinen geeigneten Konzertsaal in Peking, auch kaum Autos auf der Straße, nur Fahrräder, erzählen diejenigen, die damals dabei waren. Sie spielten also in einer Sporthalle. Es war drei Jahre nach Maos Tod, die Menschen hatten keine Erfahrung mit klassischer Musik, redeten und aßen und rülpsten während des Konzertes, sodass Karajan drohte, in der Generalprobe schon, abzubrechen, die Halle räumen zu lassen.
Es ist nun alles sehr diszipliniert, auch der Laserdamen wegen, und doch gab es beim zweiten Konzert, ausgerechnet in die Stille des vierten Mahler-Satzes hinein, einen sich dehnenden flattrigen Pups, irgendwo im oberen Rang. Ein Pups kann zur Katastrophe werden. Einen Pups kann man nicht weglasern.
»Habt ihr den Pups gehört?«, fragt Dominik Wollenweber seine Kollegen nach dem Konzert. »Das war heute eigentlich unsere größte Leistung, dass wir da nicht losgebrüllt haben vor Lachen.«
Wenn du Schmerzen nicht aushalten kannst, bist du in diesem Hochleistungsmusikertum verkehrt.
Dominik Wollenweber will den asiatischen Studenten die Seele der Musik einhauchen.
Dominik Wollenweber, Oboe, das Englischhorn. Er sitzt in einem Café in der Nähe des Hotels. Gerade war er auf einem Markt, auf dem Männer in klebrigen Buden lebende Skorpione frittieren, immer drei zappelnde Tiere, wie Schaschlik aufgespießt an ihren Halskrägelchen, in der sämigen Farbe von Tapetenleim, und er hat das gekauft und gegessen, vor der laufenden Kamera seines Kollegen. Solche Bilder sind für Wollenweber von besonderem Wert, kann er sie doch seinen Kindern zeigen, zu Hause. Er hat fünf. Er hat »Entzug«, sagt er. »Plötzlich bist du raus aus dem täglichen Chaos der Familie und kommst dir total nutzlos vor. Wenn du anfängst, die Freiheit zu genießen, ist die Reise vorbei.«
Als er selber Kind war, hat er gestottert. Manchmal hat er kein Wort herausgebracht, und manchmal hört man sie noch, diese leichte Unsicherheit, wenn er nicht weich hineinrutscht in ein Wort. Er hat dann begonnen, Flöte zu spielen. »Als Therapie«, sagt er. »Da floss alles so schön.« Vierzehn war er, als er zur Oboe wechselte, dem Instrument, mit dem er aufgewachsen war, denn auch sein Vater war Oboist. »Im Grunde«, sagt Dominik Wollenweber, »lebe ich auch meine masochistische Ader aus, das Ehrgeizige, das Selbstquälerische. Wenn du Schmerzen nicht aushalten kannst, bist du in diesem Hochleistungsmusikertum verkehrt. Über die Grenze des Schmerzes hinauszugehen, dazu muss man bereit sein.« Er sagt: »Und ich war dann schon froh, dass ich auf einen Beruf zuging, in dem ich im Allgemeinen nicht reden muss.« Nun soll er reden. In der Musikhochschule in Peking, einem Hochhaus, in dem, wie einer der Dozenten dort nicht ohne Stolz sagt, in jedem Raum ein Steinway steht. Wir haben Power, heißt das, wir haben Geld. 1600 Studenten sind hier eingeschrieben, und jetzt, wo die Berliner Philharmoniker in der Stadt sind, muss es natürlich Meisterkurse geben. Einen davon soll Wollenweber halten.
In Raum 1304 warten Studenten, für die Wollenweber ein Star ist. Er sieht nicht aus, als genieße er das. Xie Yihin ist 18 Jahre alt, schüchtern wirkt er, und verhalten klingt auch, was er aus seinem Instrument an Tönen herausholt. Bach will er spielen, er war noch nie in Europa. »Spiel, als würdest du achtzig Kilo mehr wiegen«, sagt Wollenweber, »mit deinem ganzen Körper, sonst wird man gar keine Notiz von dir nehmen.« Xie Yihin ist sehr dünn, aber er versucht es. »Wir gehören doch zu denen, die die Menschen zum Weinen bringen«, sagt Wollenweber. Er nimmt das Instrument des Schülers und spielt. Spielt, dass man weinen möchte. Xie Yihin staunt, was da aus seinem Instrument herauskommt. Es geht um die Seele der Musik. Doch wie haucht man einem Schüler in Peking die Seele der Musik ein?
Shanghai, allmählich in Tempo II (Walzer) übergehen.
Aber Shanghai hat nicht diese Schwere. So kosmopolitisch ist die Stadt, ein Wimmelbild, das immer schon Menschen geschluckt und sich an dem, was sie mitbrachten, bereichert hat. Hier fühlt man sich nicht ausgesetzt wie in Peking. Flughafen, Pudong. Tote Zeit am Gepäckband. Martin Stegner, Bratsche, steht da mit seinem Rucksack, in Turnschuhen und Strickjacke und redet plötzlich über Gustav Mahler. Er sagt, er liebe Mahlers Lieder viel mehr als seine Symphonien, »wo er allen Mist auf die Menschheit gekippt hat«.
Martin Stegner ist seit 1996 im Orchester. »Ein Haifischbecken sind wir«, sagt er und lacht, »aber das hält das Niveau.« Wenn etwas schlecht klingt, »denke ich natürlich immer gleich, es liegt an mir. Ich muss ja mit zwölf Leuten absolut synchron spielen. Ich beziehe den Applaus auch nicht auf mich.«
Sein Koffer kommt, aber Stegner bleibt stehen. Er sagt, dass er sich manchmal Das Parfum anschaut, den Film, weil er das verstehen kann: dass jemand sein Leben lang auf der Suche ist nach dem Duft, dem alle hinterherlaufen. Der Koffer fährt zum zweiten Mal vorbei. So wie Jean-Baptiste Grenouille nach dem Duft, sagt Stegner, so sei er immer auf der Suche nach dem Ton. Den Ton treffen, »der die Menschen zu Tränen rührt, das möchte ich einmal im Leben schaffen«. Er zieht den Koffer vom Band. »Emmanuel kann das«, sagt Martin Stegner und schaut rüber zu seinem Kollegen Emmanuel Pahud, Querflöte, dessen Koffer noch keine Runde gedreht hat. Dabei kann er genau das doch auch, diesen Ton treffen, der mittenrein geht. Er, Stegner.
In Shanghai wollen alle zum Fake-Markt. »Hancity Fashion & Accessories Plaza« ist vom »Marriott«-Hotelturm zu Fuß in zehn Minuten zu erreichen. Mit Martin Stegner durch die Etagen zu laufen ist urkomisch, weil er die buntesten Dschungelhemden, die steifsten Jacken anprobiert und am Ende fast nichts kauft. Jede internationale Marke ist hier gefälscht zu haben, jeder Verkäufer versucht dich hineinzuziehen in seinen Verschlag, deckenhohe Regale werden angestoßen wie Geheimtüren, damit man vordringt zu noch mehr Taschen, noch mehr Schuhen und noch mehr Uhren. Stegner lässt sich ziehen, schaut. »Das Gute ist«, sagt er, »uns können sie nicht nachmachen, ich meine, unser Orchester, deshalb können wir hier ja noch auftreten.«
Sie treten auf im Grand Theatre, einem luftig wirkenden Palast an der Huang-Pi-Straße. Und weil das Konzert live auf den Jahrhundertplatz übertragen wird, ist man natürlich dort, mitten im brüllenden Konsum, im irrsinnigen Gewühl von Menschen, die sich hetzen lassen vom Stakkato der Reklameblitze, in der feuchten Luft, die mit dem Fluss kommt, dem Huangpu mit seinen schlafenden Schiffen, dessen Trägheit das einzig Bremsende in dieser Stadt zu sein scheint.
Langsam sammelt sich das Straßenpublikum vor dem großen Bildschirm, an dessen Rand auch Wu Yaoliang nach einem weißen Plastestuhl sucht. Wu ist Rentner. Ein kleiner Mann im offenen grauen Mantel, der sommerlich wirkt. Ein Thermometer, acht Stockwerke eines Wolkenkratzers hoch, zeigt 16 Grad. Eine Stunde ist er mit der U-Bahn gefahren, um die Berliner Philharmoniker zu erleben. Er kennt sie nur aus dem Radio. Von Anton Bruckner hat er noch nie etwas gehört. Gustav Mahler? Doch, doch, Mahler, ja. Er sagt: »Ich kenne mich mit Musik gar nicht so gut aus, wissen Sie, aber so wie diese Deutschen spielen, das gibt es nur einmal auf der Welt, da trag ich doch das Glück nach Hause.« Er lächelt. Wie meinen Sie das?
»Zu Hause«, erzählt er, »habe ich ein Klavier.« Gebraucht gekauft für 10 000 Yuan, japanisches Fabrikat. Manchmal spiele er so vor sich hin, Unterricht habe er nie gehabt. Er sagt: »Aber wenn ich mich morgen ransetze, dann wird es anders klingen. Das ist das Glück.«
»Wann kommt Simon Rattle?«, kreischen sehr junge Frauen.
Autogrammstunde: Die Berliner Philharmoniker sind in Asien Popstars.
»Für so einen Satz lohnt sich die ganze Reise«, sagt Martin Stegner, wenn man ihm von dem Alten auf dem Jahrhundertplatz erzählt, wie er dastand, in seinem Mantel. Stegner steht kurz nach dem Konzert vorm Hotel, da, wo die Taxis vorfahren. »Wann kommt Simon Rattle?«, kreischen sehr junge Frauen, als sie Stegner sehen, und: »Sie sind doch auch ein Philharmoniker?« Die Frauen haben Programmhefte dabei, Fotoapparate. Stegner muss mit drei Chinesinnen posieren, muss Autogramme geben, in seiner melierten Strickjacke.
Manfred Preis, Bassklarinette, hat die Zimmernummer 5218, und beim Frühstück erzählt er, dass in der 5219 ein Jazztrompeter wohnt, ein toller Typ müsse das sein, herrlich dreckiger Ton. Wahnsinn! Hat den noch jemand gehört?
Na, klopf doch mal, und schau, wer es ist, sagt ein Kollege.
Also klopft er. Und Gábor Tarkövi öffnet die Tür. »Mensch, Gábor, du bist das?«, ruft Manfred Preis. »Du kannst so spielen? Ich kenne doch immer nur diesen strahlenden Orchesterton von dir.«
Dann liegen die beiden Männer sich lachend in den Armen. »Ich würde verblöden, wenn ich immer nur Klassik spielen müsste«, sagt Tarkövi, »vorn steht der Inspirator, der sagt: Spiel laut. Spiel leise. Nicht zu hoch, nicht zu tief. Nicht zu früh, nicht zu spät.«
Sie verabreden sich für den Nachmittag. Ein Zimmerkonzert. Auf den Betten liegen die Noten. Tarkövi hat eine kleine Anlage dabei, Jamey Aebersold, der amerikanische Jazzsaxofonist, kann also Bass, Klavier und Schlagzeug dazu liefern, aus der Konserve, und so wird die 5219 des wolkenhohen »Marriott«-Turmes in Shanghai für eine Stunde zum Jazzkeller. Es hat was von Austoben und Loslassen, wie sie beide da spielen, sich hineinsteigern ins Improvisieren, in die Freiheit, wie sie sich anfeuern, mit den Augen nur. Orchestermusiker sind letztlich Diener, die »buckeln« müssen, hatte Dominik Wollenweber gesagt, hier aber sind sie ihre eigenen Herren.
Zweiter Satz, noch etwas frischer. Südkorea.
Es sind tausend Kilometer von Shanghai nach Seoul, ein Flug übers Gelbe Meer. Die Crew der »Duisburg«, zwanzig Frauen und Männer, die die Tournee begleiten, serviert Rindfleischpastrami, einen Käseteller und Champagner natürlich, gleich wenn die Musiker die Maschine betreten. Wer wo sitzen darf, das entscheidet Nikolaus Römisch, Cello. Er hat das Amt des Reiseleiters. Grob gesagt, geht es nach Alter. Die Jungen fliegen Economy, die Älteren Business und Erste Klasse. Das Essen aber ist für alle gleich, und alle dürfen ins Cockpit, um den Piloten zuzuschauen, Fotos zu machen für die Kinder zu Hause.
»Wir sind doch wahnsinnig privilegiert«, sagt Simon Rattle. »Manche mögen sich entwurzelt fühlen auf so einer Reise, kann schon sein, aber ich danke Gott, dass es Skype gibt, und alles, was wir hier in Asien erleben, das geht doch ein in unser Spiel, das ist ein solcher Reichtum. Jeder Geruch, jedes Geräusch, alles geht ein.«
Seoul ist laut, aber auf den ersten Blick nur eine Wüste aus Beton. Die kleinen Cafés sind voll mit jungen Menschen. Hier ist das Leben, fünfzig Kilometer weiter ist Nordkorea, die Bedrohung, Raketentests, Hunger. Ein Land wie ein schwarzer Fleck. Wenn man auf dem Fernsehturm steht, liegt die Stadt da, ausgebreitet wie ein lichtgewebter Teppich. Man könnte bis zur Grenze sehen, wenn es klar wäre.
Mahlers 9. Symphonie spielen sie im Kulturzentrum von Seoul. Nach dem Konzert fällt einem ein Mann auf, der wie abwesend durch die Halle läuft, sodass man kaum wagt, ihn anzusprechen, schon gar nicht mit einer Frage, die einem banal erscheint angesichts der Entrücktheit, die sich auf seinem Gesicht ausgebreitet hat wie ein schimmernder Puder. Verzeihen Sie die Frage, aber wie hat es Ihnen gefallen?
Jae-Won Oh, ein Arzt, erschrickt fast und sagt dann, dass er dankbar sei, wie die Leute die Stille am Ende des vierten Satzes so gut ertragen konnten. Dass sie nicht gleich geklatscht haben. Es endet im Nichts. »Ich liebe die Tiefe dieser Musik«, sagt er, »und ich nehme sie mit in meinem Herzen, da bewegt sie sich wie ein schöner Vogel.«
Wenn am Anfang etwas schiefgeht, dann hat das eine Wirkung, wie wenn ein Kartenhaus zusammenfällt.
Public-Listening: Die Konzerte der Philharmoniker werden in vielen Städten auf Leinwänden übertragen.
Die Tiefe. Madeleine Carruzzo, Geige, sagt: »Die Musik muss von innen beleuchtet sein, sonst ist sie fade.« Als Dirigent könne man das nicht lernen, wie Musik von innen beleuchtet werde. Ein Dirigent müsse das ausstrahlen mit seiner ganzen Persönlichkeit. »Jede seiner Schwingungen überträgt sich auf die Musiker«, sagt sie, »jede Verkrampfung auch, das ist das Problem.« Sie sitzt in ihrem Zimmer, hat Tee gekocht, sie sagt, sie liebe die Einsamkeit ihrer Hotelzimmer auf solchen Reisen. Sie war die erste Frau, die ins Orchester kam. Im September 1982 fing sie an, mit 26, eine Exotin in der Welt der Männer. Das Durchschnittsalter der Musiker war damals 57 Jahre. Nach der ersten Probe, staunend über die Junge an der Geige, kam Herbert von Karajan zu ihr und sagte: »Wie haben Sie das geschafft?«
Am Abend des Ostersonntags 1983, das Orchester war zu den Festspielen in Salzburg, setzte Karajan plötzlich, wie auch bei anderen Neuen im Orchester, ein Vorspiel an. Er wollte Madeleine Carruzzo noch einmal testen, allein. Tags darauf schon sollte es sein. Carruzzo sagt, dass Karajan einerseits dem Orchester habe zeigen wollen: Ich bin der Chef. Andererseits habe ihn genau das ausgezeichnet, diese unbedingte Forderung, nur Menschen ins Orchester zu holen, die bereit sind, Kopf und Kragen für die Musik zu riskieren, eben »über die Schmerzgrenze hinaus«.
Also hat sie gespielt. Erst Brahms, dann aus der Ouvertüre des Fliegenden Holländer. Karajan blätterte sich durch die Partitur, dirigierte sie, gab ihr zigmal den Einsatz. »Ich hatte den Eindruck, mein Kopf ist in einem anderen Raum«, sagt Carruzzo. Diese Spannung.
Jetzt sind 18 Frauen im Orchester. Das Durchschnittsalter aller Musiker ist 38. Mit Simon Rattle haben sie sich einen der demokratischsten Dirigenten überhaupt gewählt, auch einen der umtriebigsten. Einen, den man duzt und dessen Tür immer offen ist, einer, der lernen will und motivieren kann. Das hat auch Vorteile.
Dritter Satz, mit großer Empfindung. Taiwan.
Und wann, Herr Rattle, ist für Sie ein Konzert gelungen?
Simon Rattle sitzt vorn, in der First Class, 81 K, gleich hinterm Cockpit, auf dem Flug nach Taipeh, und sagt: »Man kann die Frage kaum beantworten, denn es geht um ein Gefühl: Wenn wir fühlen, wir haben an diesem Abend alle zusammen alles gegeben, dann ist es gelungen. Und ich muss den Raum dafür schaffen.«
Aber wenn es nicht gelingt?
»Also manchmal geht es einfach nicht, auch wenn du alles tust. Wenn zum Beispiel am Anfang etwas schiefgeht, dann hat das eine Wirkung, wie wenn ein Kartenhaus zusammenfällt, und jeder denkt: O mein Gott, wir müssen das Konzert retten. Es kann passieren, dass die Musik den Raum verlässt, und du bist total aufgeschmissen und zu kraftlos, sie zurückzuholen. Das kann passieren. Und wir können nichts wiederholen. Es ist dann vorbei.«
In Taipeh gelingt alles. Und auf Taipeh haben sie sich am meisten gefreut. In Taiwan werden die Berliner nicht nur verehrt, sie werden geliebt für das, was sie können. 2006 haben sie das zu spüren bekommen, als sie nach ihrem Konzert von Zehntausenden bejubelt wurden, die die Musik live beim Public Viewing hinter der Nationalen Konzerthalle gehört hatten. Diesmal, wegen des Regens, werden die Konzerte in vier Städte der Insel übertragen – und in die überdachte Taipeh Arena, die 12 192 Menschen aufnimmt. Fast 30 000 Menschen, die an einem Abend Gustav Mahler hören, 30 000, die am anderen Abend Bruckners Musik aufsaugen wie ein Schwamm das Wasser.
Von Regen zu sprechen ist untertrieben. Es schüttet aus milchigem Himmel. Wenn es aufhört, hüllt Nebel die Hochhäuser ein, und Dunst quillt durch die Straßen, mischt sich mit dem Duft von Räucherwerk aus dunklen, ebenerdigen Wohnzimmertempeln, in denen Tische sich biegen unter der Last der Opfergaben: Mehl und Kekse, Reis, Bananen, Fett und Papaya.
Kauf eine Kerze, und gib sie Xiahai, dem Stadtgott, oder Matsu, dass sie dich schützen, oder besänftige die Geister der Ahnen. Geh in den Longshan-Tempel, geh auf die Knie, und wirf die roten Halbmonde aus Holz, so werden die Geister dir sagen: Tu dies, jenes aber lass sein.
128 Musiker in Taipeh. Alles, was sie sehen, riechen, so hat Simon Rattle gesagt, geht ein in die Musik. Die Stadt überfordert die Sinne fast. In Taiwan werden unzählige Götter und Geister verehrt. Daoisten, Buddhisten, Muslime, Christen und Juden dürfen frei ihren Glauben leben, so schreibt es die Verfassung fest.
Gustav Mahler in Taipeh wird zum Wunder. Warum hier? Vielleicht drei Minuten des ersten Satzes sind gespielt, dann: Der Auftakt einer Viertelnote, wie ein langer Seufzer nach sehr tiefem Einatmen. Er löst plötzlich die Begrenzung der Zeit auf, und jeder Ausdruck nimmt sich von nun an wie von selbst die Zeit, die er braucht. Wehmutsvolles Todeslied. Simon Rattle gelingt es, loszulassen und Raum zu geben und: ES spielt. Durch alle vier Sätze hindurch spielen sie, als balancierten sie auf schmalem Grat, immer kurz vor dem Sturz ins Bodenlose.
Janne Saksala: Kontrabass, Haare so lang wie ein finnischer Märchentroll.
Alles, was sie auf der Reise riechen und sehen, so hatte Simon Rattle gesagt, wird eingehen in ihre Musik - vielleicht auch die Erinnerung an dieses Bild: Alexander von Puttkamer mit Tuba, gespiegelt im Foyer des Konzertsaals in Peking.
Man schaut aufs Orchester, sieht in die Gesichter. Es muss gefährlich sein, da jetzt zu sitzen, denkt man, in dieser Energie, die fast erschütternd ist. Bäume stürzen um, Brücken krachen in Ströme, Fröhlichkeit kippt in den Wahnsinn. Und dann das Schluss-Adagio, das ins Nichts geht, das die Auflösung aller irdischen Bindungen so zärtlich vorwegnimmt, dass der Tod einem nichts anhaben kann. Stille.
Dass dieses Wunder nicht nur im Konzertsaal, sondern auch in der Arena geschieht, liegt nicht nur an der Qualität der Übertragung, sondern daran, dass die Menschen hier offenbar fähig sind zu großer Konzentration. 12 192, auch Kinder, hören 90 Minuten lang Mahlers 9. Symphonie. Niemand redet, knistert, isst oder trinkt oder hustet.
Eskortiert von der Polizei wird ein Bus mit den Musikern gleich nach Ende des Konzerts in die Arena gefahren. Und da feiern sie ihre Helden mit Sprechchören, rufen: »Bravo, bravo, wir lieben euch! Taipeh liebt euch!« Später, im Bus zum Hotel, sagt Dominik Wollenweber: »Ich weiß auch nicht, was die hier haben mit uns, aber irgendwie zehre ich von solchen Momenten.«
Martin Stegner sagt: »Ist doch verrückt, wir spielen oft vor Leuten, die das Konzert kaputt husten und aus Statusgründen hingehen. Leben aber musst du vom Feedback derer, die du normalerweise gar nicht siehst.«
Vierter Satz, großer Ton, molto adagio. Japan.
Es heißt, Tokio sei dunkler geworden, aber wenn man oben steht und schaut, in der Bar des »Park Hyatt«, 52. Etage, auf das Meer der nervösen Lichter, da wo Scarlett Johansson und Bill Murray sich Lost in Translation fanden, wenn man da steht, in der Nacht, mit Janne Saksala, Kontrabass, Haare so lang wie ein finnischer Märchentroll, dann denkt man: Heller geht’s doch nun wirklich nicht. Dann denkt man an die tägliche Börsenpredigt: Die Märkte in Asien tendieren so und so, schwächer oder stärker, heller oder dunkler tendieren sie. Aha. Das hier also, was unter einem so rumzuckt, das müssen sie sein, die Märkte in Asien.
Janne Saksala liebt diese Bar, weil er den Film liebt, und er will hier fotografieren, weil das sein Hobby ist. Er bestellt Caipirinha. »Im Grunde ist das Gratiswerbung für Deutschland, wenn wir reisen«, sagt er in den Rauch seiner Zigarette hinein, »gerade hier in Japan, wo so viele Orchester abgesagt haben nach Fukushima. Aber Musik darf eigentlich nichts mit Business zu tun haben.«
Viele haben abgesagt, und den Dank dafür, dass sie trotz allem angereist sind, bekommen die Berliner in Japan überall zu spüren, im Hotel, beim Signieren nach den Konzerten in der Suntory-Halle, und in Sendai, wo das Philharmonische Bläserquintett vor Kindern spielt, deren Eltern die Flutwelle mit sich riss.
Die Stadt ist dunkler geworden, sagen diejenigen, die Tokio kennen, wie es vor dem Unglück von Fukushima war, vor dem Tsunami. Und tatsächlich ist es so, dass die Regierung die Unternehmen aufgefordert hat, 15 Prozent Strom einzusparen. Aber sie sparen das Doppelte. Es ist ja trotzdem hell. Kurz vor der Landung hatte Martin Hoffmann, der Intendant, eine Durchsage gemacht: Tee solle man nicht trinken, Algen und Pilze meiden, sonst alles unbedenklich, nur nördlich von Tokio gebe es erhöhte Radioaktivität. Fukushima ist 240 Kilometer entfernt.
In der Suntory-Halle spielen sie drei Abende, und hier wird Toshio Hosokawa für sein Hornkonzert natürlich bejubelt. An der Garderobentür des Solisten Stefan Dohr steht »Stefan Dohl«, und jemand hat dann versucht, mit einem Bleistift das »l« noch in ein »r« zu verwandeln. Die Karten jedenfalls waren im Nu verkauft.
Kiyoko Sugiya, eine schmale Frau um die fünfzig, hat zwei Stunden am Telefon in der Warteschleife gehangen, erzählt sie, und als endlich jemand abnahm, denken Sie nur, da war ausverkauft. Kiyoko Sugiya steht im »ancafé«, einer Konditorei, winziger Raum voller Torten, im Stadtteil Okusawa. Dominik Wollenweber, das Englischhorn, der die Schwester der Besitzerin kennt, war gefragt worden, ob er nicht dort spielen könne. Ein oder zwei Musiker, ein kleines Konzert. Honorare könne man nicht zahlen, dafür Kuchen als Lohn, der beste in Tokio. Und so stehen sie da: Wollenweber und Manfred Preis. Sie spielen Johann Sebastian Bach. Wollenweber, der zwei Meter vier misst, stößt an die Lampe des gekalkten Raumes. Der Ton, der zu groß ist, stößt gegen die Wände, weicht aus auf die Straße, wo auch noch Menschen stehen, zwanzig vielleicht. In Anzügen kommen sie, mit Krawatten, die Frauen in feinen Kostümen. Stehen da, aufrecht, mit tonlosem Weinen. Als bräche er hier alles wieder auf, dieser Deutsche aus Thüringen, dieser Bach, in seiner Klarheit.
»Ich hatte so eine wahnsinnige Angst bei dem Beben«, sagt Jo Komatsu und hält sich an seiner Aktentasche fest. Er ist selbst Klarinettist. »In den Wochen danach war ich nicht fähig, Musik zu machen. Nichts ist gut, nichts geheilt, aber wir leben einfach so weiter.«
Die Schlange kriecht ohne Koffer, aber weil Berlin-Tegel baukastenklein ist, kommt das Gepäck so schnell, wie es in Peking, selbst bei gutem Willen, nie hätte kommen können. 128 Philharmoniker und Simon Rattle stehen am Band und warten.
Der letzte Abend, Mahler in Tokio, war entrückend. Bei der Abschlussparty, nach dem Konzert, hat Rattle sich bei den Musikern bedankt. »Manchmal stehe ich vorn und kann nicht glauben, was ich da höre.« Das hat er gesagt.
Die Koffer kommen, sind schwerer als auf dem Hinflug.
Dominik Wollenweber hat ein gut handhabbares Schweißgerät für Küchenfolien gekauft, Manfred Preis eine kleine solarbetriebene Gebetsmühle. Martin Stegner fand eine Hülle für sein iPad, Simon Rattle Magnete für den Kühlschrank seiner Schwiegermutter. Daniele Damiano, Fagott, wuchtet eine Klobrille vom Band, beheizbar und mit Bidet-Düsen, die auf Knopfdruck ausfahren wie die Arme eines zarten, aber verlässlichen Roboters.
Was sie sonst mitgebracht haben, wird man hören.
Fotos: Monika Rittershaus