»Es hilft, wenn ich eine Grimasse schneide«

Der große Tierfilmer David Attenborough über die Rolle des Fernsehens im Naturschutz und den Moment, als Konrad Lorenz sich mit Gänseexkrementen die Nase putzte.

David Attenborough mit einem Baumhummer im Zoo von Melbourne. Das Insekt wurde lange für ausgestorben gehalten. (Foto: dpa)

»Haben Sie Schnecken mal beim Sex zugeschaut? - Wunderschön, wie ein Balletttanz.

Eine Szene, die Sie in aller Welt berühmt gemacht hat – die Times bezeichnete sie als die Sternstunde der Naturdoku im Fernsehen: Sie spielt im Urwald von Ruanda. Sie beobachten eine Gorilla-Familie, da kommt ein junges Tier und setzt sich auf Ihren Schoß. Und Sie fangen an, sein Fell zu kraulen. Was haben Sie dabei gedacht?
Wir Menschen nehmen die Welt mit unseren Sinnen wahr und deuten sie in unserem Sinne. Deswegen empfinden wir Menschenaffen als besondere Tiere: Sie haben Augen, Ohren, einen Geschmackssinn und viele Eigenschaften, die unseren sehr nahe kommen. Ihr Bild von der Welt ist unserem Bild viel ähnlicher als das einer Katze oder eines Hundes. Deshalb spüren wir Empathie, wenn wir einem Affen gegenübersitzen. So ging es mir jedenfalls.

Lange war auch unter Forschern umstritten, ob Tiere, selbst Menschaffen, überhaupt Gefühle haben.

Natürlich haben sie Gefühle! Auch Katzen. Oder ein Elefant: Wenn er auf einen zustürmt, mit den Ohren schlackert und trompetet, ist er wütend, kein Zweifel. Und Elefanten haben noch ganz andere Gefühle, die uns verschlossen bleiben, sie werden von Dingen bewegt, die wir nicht kennen.

Haben Sie sich vor den Tieren gefürchtet, die Sie filmten?

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Nein. Ich bin ziemlich feige und meide Situationen, die mir Angst machen könnten.

Aber es gibt Aufnahmen, die den Zuschauer um Sie fürchten lassen. Einmal stehen Sie mit Ihrem Jeep in der Nacht in der afrikanischen Prärie, wenige Meter von einem Löwenrudel entfernt. Die Kamera hat eine Nachtsichtoptik, aber Sie selbst sehen die Tiere offensichtlich nicht. Das muss doch beunruhigend gewesen sein.

Vor allem war es nicht sehr klug. Meine Mitarbeiter hatten die Situation ja im Blick. Das Problem war nur, dass ich mich völlig auf sie verlassen musste.

Und der Gorilla, der auf Ihrem Schoß saß – empfanden Sie den nicht als bedrohlich?
Gorillas sind Vegetarier, sie jagen nicht und kämen auch nicht auf die Idee, ihre Artgenossen zu töten, es sind vergleichsweise friedliche Tiere. Anders als Schimpansen. Wir wurden mal Zeuge einer tragischen Szene: Ein junger Affe, vielleicht ein Jahr alt, versucht, sich einer Gruppe heranwachsender Affen zu nähern. Er will dazugehören. Aber sie wollen ihn nicht. Und töten ihn.

Haben Sie diese Bilder im Fernsehen gezeigt?

Ja.

Gibt es für Sie Grenzen, was Sie den Zuschauern zumuten und was nicht?
Es ist nicht schön, ein Raubtier zu sehen, wie es seine lebende Beute frisst. Man muss abwägen: Es gilt, die Wahrheit zu zeigen, aber die Zuschauer sollen nicht physisch abgestoßen werden.

Ist die Natur gut oder schlecht?
Weder noch. Das ist eine rein menschliche Kategorie, aber im Buch der Natur steht nirgendwo geschrieben, dass aufrecht gehende Wesen die Welt beherrschen sollten. Wir machen einen großen Fehler, wenn wir der Natur unsere Denkmuster überstülpen. Wie etwa ließen sich ein Bandwurm oder Parasiten moralisch rechtfertigen? Trotzdem gibt es diese Tiere.

Staunen Sie immer noch über die Natur?
Ich habe kürzlich eine Sendung produziert, die eine Sequenz über einen Kugelfisch erhält, der an der japanischen Küste lebt. Der Kugelfisch gräbt in den Sand am Meeresboden eine Art Skulptur, die wie eine riesige Blume aussieht, mehrere Quadratmeter groß. Ich war baff, als mir die Kameraleute die Aufnahmen zeigten. Kein Wissenschaftler hat sich je mit dem Phänomen befasst, wir wissen nicht, warum der Fisch das macht.

Gibt es langweilige Tiere?
Oh ja. Schnecken zum Beispiel. Obwohl: Haben Sie Schnecken mal beim Sex zugeschaut?

Nein. Warum?
Es gibt da eine besondere Art, die Tigerschnecken. Sie sind, wie alle Schnecken, Hermaphroditen, also zugleich Weibchen und Männchen. Wenn sich zwei Tigerschnecken vereinen, spinnen sie jeweils eine Leine aus einer schleimigen Substanz. Die beiden Leinen verdrehen sich ineinander, und daraus wächst bei beiden ein Penis, der einer Gladiole ähnelt. Als wir das im Fernsehen gezeigt haben, sind die Zuschauer durchgedreht. Sie konnten es einfach nicht glauben. Es war wunderschön, wie ein Balletttanz.

Auf welche Sendung haben Sie am meisten Resonanz bekommen?
Ich habe 1979 eine Serie gedreht, sie hieß Das Leben auf unserer Erde. Sie lief 13 Wochen lang, einmal pro Woche, begann mit primitiven Lebensformen und endete mit den Affen. Diese Entwicklung zu sehen, auch die Logik und Kohärenz dieser Entwicklung, war für viele Zuschauer überwältigend. Mehr als 500 Millionen Menschen weltweit haben die Serie gesehen, ich bekomme bis heute Briefe. In Brasilien traf ich einen Forscher, eine Koryphäe auf seinem Gebiet, um ihn zu befragen. Und er sagte: Wissen Sie, was? Sie sind der Grund, dass ich anfing, mich für diese Arbeit zu interessieren.

Es heißt, Sie hätten eine Sammlung von Zeichnungen verschiedener Vögel aus dem 19. Jahrhundert. Aber nicht alle Zeichner hätten damals verstanden, wie die Vögel eigentlich funktionieren.
Ja, das stimmt.

Glauben Sie, dass unser Wissen heute wesentlich fundierter ist als damals? Oder tappen wir bei vielem noch im Dunkeln?

Es gibt noch jede Menge blinde Flecken, und in vielen Fragen haben wir uns auch total geirrt. Ich habe kürzlich einen Entwurf für einen Film geschrieben, über Strauße und Emus, die großen Vögel. In Das Leben auf unserer Erde hatte ich schon auf die Gemeinsamkeiten hingewiesen und suggeriert, dass sie irgendwie verwandt sein müssten. Kompletter Unsinn. Inzwischen haben DNS-Proben gezeigt, dass keinerlei Übereinstimmungen bestehen. Trotzdem wage ich eine Vorhersage: Im Moment gibt es eine Menge Forscher, die vorgeben, genau über die DNS und ihre Funktionen Bescheid zu wissen – aber ich bin überzeugt, dass die Sache viel komplizierter ist. Und dass sich in zwanzig oder dreißig Jahren vieles von dem, was diese Leute heute voller Überzeugung behaupten, als falsch herausstellt.

Stimmt Sie das generell skeptisch, was den Wert wissenschaftlicher Erkenntnis angeht?
Aus meiner Sicht ist Skepsis elementarer Bestandteil jeder Wissenschaft. Da gilt es ständig, bisheriges Wissen in Frage zu stellen. Leider ist der Großteil der Bevölkerung heute naiv und vertraut den Aussagen der Wissenschaft blind.

Sie standen in einer Sendung vor einem Termitenhügel und haben sinniert: Termiten sind blind. Wenn ein Mensch einen Hügel voller Termiten betrachtet, merken die Tiere das nicht. Das führte Sie zu der Frage, ob auch uns Menschen jemand beobachten könnte.

Ich bin kein Atheist, aber Agnostiker. Und ich halte das für vernünftig. Wie können wir uns sicher sein, dass uns kein höheres Wesen von außen beobachtet?

Fragen Sie sich manchmal, warum die Natur so komplex und vielfältig ist?

In der Natur gibt es nun einmal viele Nischen und Lebewesen, die sich darauf spezialisieren, in diesen Nischen zu existieren. Aber warum es diese Phänomene gibt, warum es überhaupt irgendetwas gibt, ist keine Frage, die die Wissenschaft beantworten kann. Das ist eine theologische, philosophische Frage.

Hat Sie diese Frage denn interessiert, oder stellt Sie die Biologie schon vor genug Rätsel?
Letzteres. Ich weiß nicht, wie diese Frage zu beantworten wäre.

Sie haben viele bemerkenswerte Menschen getroffen. Wen haben Sie am meisten bewundert? Dian Fossey, die ihr Leben für den Schutz der Berggorillas in Ruanda riskierte? Ihren Freund und Kollegen Peter Scott, den Sohn des Polarforschers Robert Scott und Mitgründer des World Wildlife Fund? Oder vielleicht Naturforscher wie Alexander von Humboldt?
Natürlich bewundere ich Humboldt, nicht nur wegen seiner Expeditionen, auch wegen seines universellen Wissens. Peter Scott ist ein Mensch, den ich auf ganzer Linie verehre. Er hat früher als die meisten Menschen begriffen, wie wichtig der Schutz der Natur für unsere Zukunft ist, und hat sein Leben dann ganz diesem Ziel verschrieben.

Und Dian Fossey?

In vieler Hinsicht zu bewundern, sie hatte aber auch ihre dunklen Seiten. Die Afrikaner behandelte sie extrem schlecht und reklamierte dabei ein göttliches Recht für sich. Wenn Bauern ihr Vieh in ihrem Naturreservat weiden ließen, jagte sie den Tieren eine Kugel in den Rücken, sodass sie gelähmt waren. Andererseits: Hätte es Dian Fossey nicht gegeben, gäbe es heute keine Gorillas mehr in Afrika.

Ihr Landsmann Charles Darwin darf in dieser Aufzählung auch nicht fehlen, oder?
Ein unglaublicher Wissenschaftler. Wann immer man glaubt, man hätte als Natur-beobachter etwas Neues entdeckt, empfiehlt es sich, vorher in seinen Büchern nachzublättern. Ich habe mal einen Vogel gefilmt, der sein Nest sehr sorgfältig mit Federn und einer Blume ausschmückt. Und diese Blume dann betrach- tet, wieder in den Schnabel nimmt und an einen anderen Platz im Nest legt. Diese Szene haben wir gegengeschnitten mit einem Künstler, der an einer Skulptur arbeitet und immer wieder zurücktritt, um sie zu betrachten, bevor er weiterarbeitet. Wir dachten, wir wären auf eine brillante Erkenntnis gestoßen. Später habe ich bei Darwin gelesen, dass er das Phänomen schon 120 Jahre vor uns beobachtet hatte.

Ihre Expeditionen sind heute vergleichsweise unkompliziert, weil jeder Ort der Erde binnen 24 Stunden zu erreichen ist. Für Ihre erste Sendung waren Sie sechs Wochen unterwegs, und es gab keinen Kontakt nach Hause, kein Telefon, geschweige denn Internet. Wie haben Sie das empfunden?
Es ist herrlich, wenn man jung ist. Man hat niemanden, der einem helfen kann, man muss die Probleme selbst lösen. Natürlich war es auch sehr egoistisch, denn meine Frau hatte nichts von meiner Freiheit, sie blieb zu Hause und kümmerte sich um die Kinder.

Haben Sie nicht unter der Trennung gelitten?
Eher meine Frau. Einmal, das war 1956 in Indonesien, hatte ich die Idee, sie von dort aus anzurufen. Vorher musste man damals immer ein Telegramm schicken, um mitzuteilen: Ich rufe dich um diese und jene Zeit an, warte bitte am Telefon. Als es so weit war, haben wir gerade im Busch gefilmt, und ich musste stundenlang fahren, um in den nächsten Ort mit einem Postamt zu gelangen. Als ich dort ankam, hieß es, leider sei die Leitung nach Singapur zerstört, und es werde mehrere Tage dauern, bis sie repariert sei. Zu Hause wartete meine Frau vergeblich auf meinen Anruf und machte sich größte Sorgen. Deshalb haben wir dann ausgemacht, dass wir das künftig lassen.

Welchen Ort wollen Sie unbedingt noch sehen?

Ich würde gern noch mal in die Wüste Gobi reisen. Es gibt dort eine Unmenge von Fossilien.

Und welches Tier?
Mich fasziniert der Riesentintenfisch. Ein immenses Tier, so groß wie mein Wohnzimmer, und kein Mensch hat es je mit eigenen Augen gesehen. Es lebt in tausend Metern Tiefe im Meer, manchmal werden Teile von ihm an Land gespült. Einen lebendigen Riesentintenfisch in seiner natürlichen Umwelt zu beobachten – das fände ich äußerst reizvoll.